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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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nur vom Hurenhaus und frivolen Gespräch direct in die Messe, sondern
sie macht sich auch, da die Kirche doch nur als ganz hohle Form stehen
bleibt, ihre eigenen Wunder: Wunder am hellen Tag, öffentliche Geheim-
nisse, Freimaurerei und anderes geheimes Ordenswesen, sie liebt Karten-
schlägerei, Wahrsagerei u. dergl. Betrüger, wie Cagliostro, beuten dieß aus.
Hier ist eine eigenthümliche Mystik, mit der Ironie ihrer selbst behaftet,
voll pikanter Stoffe. Allen Geistern des vorigen Jahrhunderts hängt etwas
davon an (Göthe, Wilhelm Meister. Viele Motive in J. Paul u. s. w.).

2. Prinzip der Willkühr und des Egoismus. Der freie Wille als
einzelnes, gesetzloses, leidenschaftliches Subject ist Angel der Welt. Noch
werden die Consequenzen nicht geahnt; mit dieser Philosophie werden
Mißbräuche, welche durch das entgegengesetzte Prinzip, das Positive, das
Monopol geheiligt sind, in der frevelhaftesten Ausbeutung beschönigt und
die Höfe übersättigen sich im Marke des Volks. Die Liederlichkeit, so
beschönigt, ist wesentlich frivol, sie macht sich ihre Metaphysik und sieht
sich mit boshaftem Lächeln im Spiegel zu, wie sie genießt. Es ist nicht
Naturfrische mehr in diesem Genuß, er ist reflectirt, reizt sich galvanisch,
ist mercurialisch, spricht boshaft jedem wohlbekannten Rechte Hohn.
Mätressenwirthschaft, Verführung, Hoffest auf Hoffest, Jagden, Feuer-
werke bei rathlosen Finanzen, schamlose Ballette, Quicken von Kastraten,
raffinirte Wollust. Casanova. Die Stoffe aus diesem Element haben
alle ihren spezifischen, aristokratischen haut gout lüsterner Grazie und
stechen noch heute vornehmen Liebhabern des Schönen sehr in die Nase.
In Wahrheit aber muß man sie mit ihrem Ende, das sie in der Revolution
strenge genug fanden, zusammennehmen, sonst hat man nur die Eine
Hälfte; die Guillotine gehört auch dazu. Außer dem französischen Hofe
glänzt besonders der Hof Augusts, Königs von Polen.

§. 372.

1

Auch die äußere Politik, das diplomatische Verhältniß der Staaten hat
sich ausgebildet und ein sogenanntes Gleichgewicht ausgesprochen, dessen wahrer
Inhalt, die sich gegenseitig bewachende Ländersucht, wilde und zerstörende Kriege
2hervorrust. In dem auf's Neue beraubten und erschlafften Deutschland hat sich
inzwischen eine neue, nördlichere, protestantische Macht gebildet und nach langer
Zeit schaut es in Friedrich dem Großen wieder einen Helden an.

1. Schon Maximilian I, "der letzte Ritter", der wackere Gemsen-
jäger, konnte in der veränderten Zeit, wo "Reineke Fuchs Kanzler des
Reichs geworden war" (Rosenkranz) nicht mehr zurechte kommen, man
sah diesen Geist deutlich genug in jenen durch Frankreich erregten italienischen

nur vom Hurenhaus und frivolen Geſpräch direct in die Meſſe, ſondern
ſie macht ſich auch, da die Kirche doch nur als ganz hohle Form ſtehen
bleibt, ihre eigenen Wunder: Wunder am hellen Tag, öffentliche Geheim-
niſſe, Freimaurerei und anderes geheimes Ordensweſen, ſie liebt Karten-
ſchlägerei, Wahrſagerei u. dergl. Betrüger, wie Caglioſtro, beuten dieß aus.
Hier iſt eine eigenthümliche Myſtik, mit der Ironie ihrer ſelbſt behaftet,
voll pikanter Stoffe. Allen Geiſtern des vorigen Jahrhunderts hängt etwas
davon an (Göthe, Wilhelm Meiſter. Viele Motive in J. Paul u. ſ. w.).

2. Prinzip der Willkühr und des Egoismus. Der freie Wille als
einzelnes, geſetzloſes, leidenſchaftliches Subject iſt Angel der Welt. Noch
werden die Conſequenzen nicht geahnt; mit dieſer Philoſophie werden
Mißbräuche, welche durch das entgegengeſetzte Prinzip, das Poſitive, das
Monopol geheiligt ſind, in der frevelhafteſten Ausbeutung beſchönigt und
die Höfe überſättigen ſich im Marke des Volks. Die Liederlichkeit, ſo
beſchönigt, iſt weſentlich frivol, ſie macht ſich ihre Metaphyſik und ſieht
ſich mit boshaftem Lächeln im Spiegel zu, wie ſie genießt. Es iſt nicht
Naturfriſche mehr in dieſem Genuß, er iſt reflectirt, reizt ſich galvaniſch,
iſt mercurialiſch, ſpricht boshaft jedem wohlbekannten Rechte Hohn.
Mätreſſenwirthſchaft, Verführung, Hoffeſt auf Hoffeſt, Jagden, Feuer-
werke bei rathloſen Finanzen, ſchamloſe Ballette, Quicken von Kaſtraten,
raffinirte Wolluſt. Caſanova. Die Stoffe aus dieſem Element haben
alle ihren ſpezifiſchen, ariſtokratiſchen haut gout lüſterner Grazie und
ſtechen noch heute vornehmen Liebhabern des Schönen ſehr in die Naſe.
In Wahrheit aber muß man ſie mit ihrem Ende, das ſie in der Revolution
ſtrenge genug fanden, zuſammennehmen, ſonſt hat man nur die Eine
Hälfte; die Guillotine gehört auch dazu. Außer dem franzöſiſchen Hofe
glänzt beſonders der Hof Auguſts, Königs von Polen.

§. 372.

1

Auch die äußere Politik, das diplomatiſche Verhältniß der Staaten hat
ſich ausgebildet und ein ſogenanntes Gleichgewicht ausgeſprochen, deſſen wahrer
Inhalt, die ſich gegenſeitig bewachende Länderſucht, wilde und zerſtörende Kriege
2hervorruſt. In dem auf’s Neue beraubten und erſchlafften Deutſchland hat ſich
inzwiſchen eine neue, nördlichere, proteſtantiſche Macht gebildet und nach langer
Zeit ſchaut es in Friedrich dem Großen wieder einen Helden an.

1. Schon Maximilian I, „der letzte Ritter“, der wackere Gemſen-
jäger, konnte in der veränderten Zeit, wo „Reineke Fuchs Kanzler des
Reichs geworden war“ (Roſenkranz) nicht mehr zurechte kommen, man
ſah dieſen Geiſt deutlich genug in jenen durch Frankreich erregten italieniſchen

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[282/0294] nur vom Hurenhaus und frivolen Geſpräch direct in die Meſſe, ſondern ſie macht ſich auch, da die Kirche doch nur als ganz hohle Form ſtehen bleibt, ihre eigenen Wunder: Wunder am hellen Tag, öffentliche Geheim- niſſe, Freimaurerei und anderes geheimes Ordensweſen, ſie liebt Karten- ſchlägerei, Wahrſagerei u. dergl. Betrüger, wie Caglioſtro, beuten dieß aus. Hier iſt eine eigenthümliche Myſtik, mit der Ironie ihrer ſelbſt behaftet, voll pikanter Stoffe. Allen Geiſtern des vorigen Jahrhunderts hängt etwas davon an (Göthe, Wilhelm Meiſter. Viele Motive in J. Paul u. ſ. w.). 2. Prinzip der Willkühr und des Egoismus. Der freie Wille als einzelnes, geſetzloſes, leidenſchaftliches Subject iſt Angel der Welt. Noch werden die Conſequenzen nicht geahnt; mit dieſer Philoſophie werden Mißbräuche, welche durch das entgegengeſetzte Prinzip, das Poſitive, das Monopol geheiligt ſind, in der frevelhafteſten Ausbeutung beſchönigt und die Höfe überſättigen ſich im Marke des Volks. Die Liederlichkeit, ſo beſchönigt, iſt weſentlich frivol, ſie macht ſich ihre Metaphyſik und ſieht ſich mit boshaftem Lächeln im Spiegel zu, wie ſie genießt. Es iſt nicht Naturfriſche mehr in dieſem Genuß, er iſt reflectirt, reizt ſich galvaniſch, iſt mercurialiſch, ſpricht boshaft jedem wohlbekannten Rechte Hohn. Mätreſſenwirthſchaft, Verführung, Hoffeſt auf Hoffeſt, Jagden, Feuer- werke bei rathloſen Finanzen, ſchamloſe Ballette, Quicken von Kaſtraten, raffinirte Wolluſt. Caſanova. Die Stoffe aus dieſem Element haben alle ihren ſpezifiſchen, ariſtokratiſchen haut gout lüſterner Grazie und ſtechen noch heute vornehmen Liebhabern des Schönen ſehr in die Naſe. In Wahrheit aber muß man ſie mit ihrem Ende, das ſie in der Revolution ſtrenge genug fanden, zuſammennehmen, ſonſt hat man nur die Eine Hälfte; die Guillotine gehört auch dazu. Außer dem franzöſiſchen Hofe glänzt beſonders der Hof Auguſts, Königs von Polen. §. 372. Auch die äußere Politik, das diplomatiſche Verhältniß der Staaten hat ſich ausgebildet und ein ſogenanntes Gleichgewicht ausgeſprochen, deſſen wahrer Inhalt, die ſich gegenſeitig bewachende Länderſucht, wilde und zerſtörende Kriege hervorruſt. In dem auf’s Neue beraubten und erſchlafften Deutſchland hat ſich inzwiſchen eine neue, nördlichere, proteſtantiſche Macht gebildet und nach langer Zeit ſchaut es in Friedrich dem Großen wieder einen Helden an. 1. Schon Maximilian I, „der letzte Ritter“, der wackere Gemſen- jäger, konnte in der veränderten Zeit, wo „Reineke Fuchs Kanzler des Reichs geworden war“ (Roſenkranz) nicht mehr zurechte kommen, man ſah dieſen Geiſt deutlich genug in jenen durch Frankreich erregten italieniſchen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/294>, abgerufen am 21.11.2024.