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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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bruchlos in seine Welt, sein Organ ergießen kann, hier ist nicht blos
Dualismus, sondern Widerspruch, ein sich selbst nicht Gleichen, ein Hinaus-
sein über die Natur und ein Rückfall in sie, der dann roh, wild, aus-
schweifend ist, ein Straucheln des Geists über seine eigene Schwelle: die
angeborene Weise eines Volks, in dessen Natur nicht glühende Hitze und
Oede mit fruchtbarem Regen, üppiger, müheloser Productivität, sondern
starre Kälte, die nach innen wirft, um den stillen Heerd versammelt, dann
zur rauhen Arbeit ruft, mit dem milderen Frühling und Sommer wechselt,
der aber ebenfalls immer noch viel Mühe und Fleiß erfordert, um das
Hinreichende zu gewähren. Die Italiener nennen uns eine razza inferiore
und haben doch dunkeln Respect vor den innerlichen Tugenden, durch die
wir unsere eckige Erscheinung, unsere Unbeholfenheit, die schlechte Aus-
bildung aller instinctiven Eigenschaften, die zur animalischen Seite des
Geistes gehören, widerlegen; sie ahnen, daß hinter dieser grenzenlosen
Prosa und Schwunglosigkeit, die wie ein ätzender Geist jede Fülle und
Höhe der Form niederstreift, ein innerlicher Schwung verborgen sein müsse.
Es erhellt von selbst, wie ein solcher innerer Zwiespalt unendlich neuen
tragischen und komischen Stoff in die Welt des Schönen einführt: die
Möglichkeit des tiefsten inneren Zerwürfnisses ist durch ihn gegeben,
unendlich Vieles wird erst komisch, da der Geist seines Leibes sich schämt.

2. Tapferkeit, Kriegsgeist, eigentliche Passion für den Krieg, abgesehen
selbst von allem Zweck, ist Grundeigenschaft der Deutschen, dieser ersten
Reiter und Fechtmeister der Welt von Anfang an. Dieß ist aber immer
noch Naturtugend und fällt auf die Seite der hart gezogenen Sinnlichkeit,
welche starker, stoßweiser Entladungen bedarf. Hier liegt aber auch die
Lust zu Schlägereien, die Grobheit, der Trunk (der zwar auch aus der
Neigung, durch künstliche Mittel sich in der Imagination eine schönere
Welt zu bauen, als die karge Natur bietet, zu erklären ist), der furcht-
bare Jähzorn nach allzulangem Zurückhalten. Die Tugenden, worin
schon bei den alten Deutschen der Beruf zur Idealität sich ankündigte,
kennen wir aus Tacitus. Sie weisen namentlich auf die Familie und
Freundschaft hin: Achtung des Weibs, Treue des Freunds und was dem
verwandt ist, so daß man erkennt, diese winterlichen Menschen werden
einst dahin kommen, wo sie der Aesthetik mehr Stoff in den Gemächern
des Hauses, durch Schönheit des Privatlebens, als auf der Straße durch
öffentliches Leben geben werden. Diese Innerlichkeit ist zugleich der Eigen-
sinn der Individualität, die sich nicht zu einem Ganzen herläßt. Auch
die Stämme halten nicht zusammen und viele dienen treulos genug im
römischen Heere. Treue im Privatleben und Treulosigkeit im öffentlichen
Leben, dieser Widerspruch ist bei dem deutschen Volke sehr erklärlich.
Aber auch im Privatleben nimmt der Deutsche, gerade weil er tief und

bruchlos in ſeine Welt, ſein Organ ergießen kann, hier iſt nicht blos
Dualismus, ſondern Widerſpruch, ein ſich ſelbſt nicht Gleichen, ein Hinaus-
ſein über die Natur und ein Rückfall in ſie, der dann roh, wild, aus-
ſchweifend iſt, ein Straucheln des Geiſts über ſeine eigene Schwelle: die
angeborene Weiſe eines Volks, in deſſen Natur nicht glühende Hitze und
Oede mit fruchtbarem Regen, üppiger, müheloſer Productivität, ſondern
ſtarre Kälte, die nach innen wirft, um den ſtillen Heerd verſammelt, dann
zur rauhen Arbeit ruft, mit dem milderen Frühling und Sommer wechſelt,
der aber ebenfalls immer noch viel Mühe und Fleiß erfordert, um das
Hinreichende zu gewähren. Die Italiener nennen uns eine razza inferiore
und haben doch dunkeln Reſpect vor den innerlichen Tugenden, durch die
wir unſere eckige Erſcheinung, unſere Unbeholfenheit, die ſchlechte Aus-
bildung aller inſtinctiven Eigenſchaften, die zur animaliſchen Seite des
Geiſtes gehören, widerlegen; ſie ahnen, daß hinter dieſer grenzenloſen
Proſa und Schwungloſigkeit, die wie ein ätzender Geiſt jede Fülle und
Höhe der Form niederſtreift, ein innerlicher Schwung verborgen ſein müſſe.
Es erhellt von ſelbſt, wie ein ſolcher innerer Zwieſpalt unendlich neuen
tragiſchen und komiſchen Stoff in die Welt des Schönen einführt: die
Möglichkeit des tiefſten inneren Zerwürfniſſes iſt durch ihn gegeben,
unendlich Vieles wird erſt komiſch, da der Geiſt ſeines Leibes ſich ſchämt.

2. Tapferkeit, Kriegsgeiſt, eigentliche Paſſion für den Krieg, abgeſehen
ſelbſt von allem Zweck, iſt Grundeigenſchaft der Deutſchen, dieſer erſten
Reiter und Fechtmeiſter der Welt von Anfang an. Dieß iſt aber immer
noch Naturtugend und fällt auf die Seite der hart gezogenen Sinnlichkeit,
welche ſtarker, ſtoßweiſer Entladungen bedarf. Hier liegt aber auch die
Luſt zu Schlägereien, die Grobheit, der Trunk (der zwar auch aus der
Neigung, durch künſtliche Mittel ſich in der Imagination eine ſchönere
Welt zu bauen, als die karge Natur bietet, zu erklären iſt), der furcht-
bare Jähzorn nach allzulangem Zurückhalten. Die Tugenden, worin
ſchon bei den alten Deutſchen der Beruf zur Idealität ſich ankündigte,
kennen wir aus Tacitus. Sie weiſen namentlich auf die Familie und
Freundſchaft hin: Achtung des Weibs, Treue des Freunds und was dem
verwandt iſt, ſo daß man erkennt, dieſe winterlichen Menſchen werden
einſt dahin kommen, wo ſie der Aeſthetik mehr Stoff in den Gemächern
des Hauſes, durch Schönheit des Privatlebens, als auf der Straße durch
öffentliches Leben geben werden. Dieſe Innerlichkeit iſt zugleich der Eigen-
ſinn der Individualität, die ſich nicht zu einem Ganzen herläßt. Auch
die Stämme halten nicht zuſammen und viele dienen treulos genug im
römiſchen Heere. Treue im Privatleben und Treuloſigkeit im öffentlichen
Leben, dieſer Widerſpruch iſt bei dem deutſchen Volke ſehr erklärlich.
Aber auch im Privatleben nimmt der Deutſche, gerade weil er tief und

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[248/0260] bruchlos in ſeine Welt, ſein Organ ergießen kann, hier iſt nicht blos Dualismus, ſondern Widerſpruch, ein ſich ſelbſt nicht Gleichen, ein Hinaus- ſein über die Natur und ein Rückfall in ſie, der dann roh, wild, aus- ſchweifend iſt, ein Straucheln des Geiſts über ſeine eigene Schwelle: die angeborene Weiſe eines Volks, in deſſen Natur nicht glühende Hitze und Oede mit fruchtbarem Regen, üppiger, müheloſer Productivität, ſondern ſtarre Kälte, die nach innen wirft, um den ſtillen Heerd verſammelt, dann zur rauhen Arbeit ruft, mit dem milderen Frühling und Sommer wechſelt, der aber ebenfalls immer noch viel Mühe und Fleiß erfordert, um das Hinreichende zu gewähren. Die Italiener nennen uns eine razza inferiore und haben doch dunkeln Reſpect vor den innerlichen Tugenden, durch die wir unſere eckige Erſcheinung, unſere Unbeholfenheit, die ſchlechte Aus- bildung aller inſtinctiven Eigenſchaften, die zur animaliſchen Seite des Geiſtes gehören, widerlegen; ſie ahnen, daß hinter dieſer grenzenloſen Proſa und Schwungloſigkeit, die wie ein ätzender Geiſt jede Fülle und Höhe der Form niederſtreift, ein innerlicher Schwung verborgen ſein müſſe. Es erhellt von ſelbſt, wie ein ſolcher innerer Zwieſpalt unendlich neuen tragiſchen und komiſchen Stoff in die Welt des Schönen einführt: die Möglichkeit des tiefſten inneren Zerwürfniſſes iſt durch ihn gegeben, unendlich Vieles wird erſt komiſch, da der Geiſt ſeines Leibes ſich ſchämt. 2. Tapferkeit, Kriegsgeiſt, eigentliche Paſſion für den Krieg, abgeſehen ſelbſt von allem Zweck, iſt Grundeigenſchaft der Deutſchen, dieſer erſten Reiter und Fechtmeiſter der Welt von Anfang an. Dieß iſt aber immer noch Naturtugend und fällt auf die Seite der hart gezogenen Sinnlichkeit, welche ſtarker, ſtoßweiſer Entladungen bedarf. Hier liegt aber auch die Luſt zu Schlägereien, die Grobheit, der Trunk (der zwar auch aus der Neigung, durch künſtliche Mittel ſich in der Imagination eine ſchönere Welt zu bauen, als die karge Natur bietet, zu erklären iſt), der furcht- bare Jähzorn nach allzulangem Zurückhalten. Die Tugenden, worin ſchon bei den alten Deutſchen der Beruf zur Idealität ſich ankündigte, kennen wir aus Tacitus. Sie weiſen namentlich auf die Familie und Freundſchaft hin: Achtung des Weibs, Treue des Freunds und was dem verwandt iſt, ſo daß man erkennt, dieſe winterlichen Menſchen werden einſt dahin kommen, wo ſie der Aeſthetik mehr Stoff in den Gemächern des Hauſes, durch Schönheit des Privatlebens, als auf der Straße durch öffentliches Leben geben werden. Dieſe Innerlichkeit iſt zugleich der Eigen- ſinn der Individualität, die ſich nicht zu einem Ganzen herläßt. Auch die Stämme halten nicht zuſammen und viele dienen treulos genug im römiſchen Heere. Treue im Privatleben und Treuloſigkeit im öffentlichen Leben, dieſer Widerſpruch iſt bei dem deutſchen Volke ſehr erklärlich. Aber auch im Privatleben nimmt der Deutſche, gerade weil er tief und

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/260>, abgerufen am 22.11.2024.