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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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schwerfälliger und erinnert an die groben nordischen Racen. Der mensch-
liche Typus hat, verglichen mit den Völkern, zu denen wir erst übergehen
werden, den Charakter bruchloser Gediegenheit, ungetheilter Ergossenheit
des Geistes in das Leibliche, namentlich die feste Basirung des Kopfs
durch das markig vorgewölbte Kinn, verglichen mit den Griechen aber zeigt
er nicht jenes ruhige Ebenmaß. Die Körper sind stämmiger, gedrungener,
beleibter, kurzhalsiger, die Beine im Verhältniß zum Leib etwas kurz, im
Profil springt die Nase gebogen hervor, über den harten Augenknochen
erhebt sich eine tiefgefurchte Stirne, die Köpfe erscheinen überhaupt strenger
durchgearbeitet und ihr ernster Ausdruck scheint zu sagen, welche Wucht
großer politischer Arbeit auf ihnen ruhe. Möglich, daß diese härtere
Form des pelasgischen Stammes durch Einflüsse etrurischen Bluts entstand,
denn die Etrusker erscheinen als finstere, untersetzte Gestalten mit dicken,
mürrischen, knorrigen Köpfen. Der römische Typus deutet ein Vorherrschen
des Cholerischen im Temperamente an, das düster Sinnende aber die
Verbindung desselben mit dem Melancholischen. Soll nun das Dualistische
in diesem Naturell überhaupt näher bestimmt werden, so muß man sich
hüten, es nicht so zu fassen, daß man denjenigen inneren Bruch des
Bewußtseins, der erst durch das Christenthum und die Germanen auftrat,
ihnen unterschiebt. Es ist allerdings ein Ansatz zu einer Innerlichkeit da,
wie sie den Griechen ganz fremd war; er zeigt sich vorzüglich in dem
Geheimnißvollen der Religion. Allein der Römer war dennoch ganz
Vaterlandsmensch wie der Grieche, er wußte nicht anders, als im Ganzen
leben, und zwar so ganz praktisch, daß Philosophie und Kunst ihm
ursprünglich fremd war. Das Individuum fühlt sich so energisch, daß es
eine Neigung hat, sich selbst zum Ganzen aufzuwerfen, seine Tugend ist,
diese Neigung zu opfern und dem wirklichen Ganzen zu dienen. Zwei
Stände, Patrizier und Plebejer, liegen in unaufhörlichem Kampfe, leben
aber auch ganz in demselben. Wie nun die alte Tugend aufhört und
Selbstsucht, Herrschsucht um sich greift, da ist es nicht zerfressene Blasirtheit,
was sich vordrängt, das herrschsüchtige Individuum ist eine ganze Welt,
hat die Wucht des Ganzen in sich gesogen, schreitet groß auf erhöhtem
Kothurn, ist von Geist der Nothwendigkeit umweht, steht auf dem ehernen
Postamente der Objectivität. Auch die Römer sind also Menschen aus
Einem Gusse, aber der Guß ist härter. Es ist ein Trennen in ihrer
Natur gegeben, aber ein Trennen, das auf dem Boden der Objectivität,
der unmittelbaren Einheit bleibt, daher ebenso festes, wiewohl kämpfendes
Zusammengreifen, Zusammenzwängen des Getrennten. Der bekannte
juristische Beruf lag allerdings ursprünglich in dieser Volksnatur, in der
guten Zeit der Republik aber geht die Ausbildung des Rechts vor sich,
ohne irgend die naturwüchsige Einheit des Ganzen, des Lebens im Vater-

ſchwerfälliger und erinnert an die groben nordiſchen Racen. Der menſch-
liche Typus hat, verglichen mit den Völkern, zu denen wir erſt übergehen
werden, den Charakter bruchloſer Gediegenheit, ungetheilter Ergoſſenheit
des Geiſtes in das Leibliche, namentlich die feſte Baſirung des Kopfs
durch das markig vorgewölbte Kinn, verglichen mit den Griechen aber zeigt
er nicht jenes ruhige Ebenmaß. Die Körper ſind ſtämmiger, gedrungener,
beleibter, kurzhalſiger, die Beine im Verhältniß zum Leib etwas kurz, im
Profil ſpringt die Naſe gebogen hervor, über den harten Augenknochen
erhebt ſich eine tiefgefurchte Stirne, die Köpfe erſcheinen überhaupt ſtrenger
durchgearbeitet und ihr ernſter Ausdruck ſcheint zu ſagen, welche Wucht
großer politiſcher Arbeit auf ihnen ruhe. Möglich, daß dieſe härtere
Form des pelaſgiſchen Stammes durch Einflüſſe etruriſchen Bluts entſtand,
denn die Etrusker erſcheinen als finſtere, unterſetzte Geſtalten mit dicken,
mürriſchen, knorrigen Köpfen. Der römiſche Typus deutet ein Vorherrſchen
des Choleriſchen im Temperamente an, das düſter Sinnende aber die
Verbindung deſſelben mit dem Melancholiſchen. Soll nun das Dualiſtiſche
in dieſem Naturell überhaupt näher beſtimmt werden, ſo muß man ſich
hüten, es nicht ſo zu faſſen, daß man denjenigen inneren Bruch des
Bewußtſeins, der erſt durch das Chriſtenthum und die Germanen auftrat,
ihnen unterſchiebt. Es iſt allerdings ein Anſatz zu einer Innerlichkeit da,
wie ſie den Griechen ganz fremd war; er zeigt ſich vorzüglich in dem
Geheimnißvollen der Religion. Allein der Römer war dennoch ganz
Vaterlandsmenſch wie der Grieche, er wußte nicht anders, als im Ganzen
leben, und zwar ſo ganz praktiſch, daß Philoſophie und Kunſt ihm
urſprünglich fremd war. Das Individuum fühlt ſich ſo energiſch, daß es
eine Neigung hat, ſich ſelbſt zum Ganzen aufzuwerfen, ſeine Tugend iſt,
dieſe Neigung zu opfern und dem wirklichen Ganzen zu dienen. Zwei
Stände, Patrizier und Plebejer, liegen in unaufhörlichem Kampfe, leben
aber auch ganz in demſelben. Wie nun die alte Tugend aufhört und
Selbſtſucht, Herrſchſucht um ſich greift, da iſt es nicht zerfreſſene Blaſirtheit,
was ſich vordrängt, das herrſchſüchtige Individuum iſt eine ganze Welt,
hat die Wucht des Ganzen in ſich geſogen, ſchreitet groß auf erhöhtem
Kothurn, iſt von Geiſt der Nothwendigkeit umweht, ſteht auf dem ehernen
Poſtamente der Objectivität. Auch die Römer ſind alſo Menſchen aus
Einem Guſſe, aber der Guß iſt härter. Es iſt ein Trennen in ihrer
Natur gegeben, aber ein Trennen, das auf dem Boden der Objectivität,
der unmittelbaren Einheit bleibt, daher ebenſo feſtes, wiewohl kämpfendes
Zuſammengreifen, Zuſammenzwängen des Getrennten. Der bekannte
juriſtiſche Beruf lag allerdings urſprünglich in dieſer Volksnatur, in der
guten Zeit der Republik aber geht die Ausbildung des Rechts vor ſich,
ohne irgend die naturwüchſige Einheit des Ganzen, des Lebens im Vater-

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[242/0254] ſchwerfälliger und erinnert an die groben nordiſchen Racen. Der menſch- liche Typus hat, verglichen mit den Völkern, zu denen wir erſt übergehen werden, den Charakter bruchloſer Gediegenheit, ungetheilter Ergoſſenheit des Geiſtes in das Leibliche, namentlich die feſte Baſirung des Kopfs durch das markig vorgewölbte Kinn, verglichen mit den Griechen aber zeigt er nicht jenes ruhige Ebenmaß. Die Körper ſind ſtämmiger, gedrungener, beleibter, kurzhalſiger, die Beine im Verhältniß zum Leib etwas kurz, im Profil ſpringt die Naſe gebogen hervor, über den harten Augenknochen erhebt ſich eine tiefgefurchte Stirne, die Köpfe erſcheinen überhaupt ſtrenger durchgearbeitet und ihr ernſter Ausdruck ſcheint zu ſagen, welche Wucht großer politiſcher Arbeit auf ihnen ruhe. Möglich, daß dieſe härtere Form des pelaſgiſchen Stammes durch Einflüſſe etruriſchen Bluts entſtand, denn die Etrusker erſcheinen als finſtere, unterſetzte Geſtalten mit dicken, mürriſchen, knorrigen Köpfen. Der römiſche Typus deutet ein Vorherrſchen des Choleriſchen im Temperamente an, das düſter Sinnende aber die Verbindung deſſelben mit dem Melancholiſchen. Soll nun das Dualiſtiſche in dieſem Naturell überhaupt näher beſtimmt werden, ſo muß man ſich hüten, es nicht ſo zu faſſen, daß man denjenigen inneren Bruch des Bewußtſeins, der erſt durch das Chriſtenthum und die Germanen auftrat, ihnen unterſchiebt. Es iſt allerdings ein Anſatz zu einer Innerlichkeit da, wie ſie den Griechen ganz fremd war; er zeigt ſich vorzüglich in dem Geheimnißvollen der Religion. Allein der Römer war dennoch ganz Vaterlandsmenſch wie der Grieche, er wußte nicht anders, als im Ganzen leben, und zwar ſo ganz praktiſch, daß Philoſophie und Kunſt ihm urſprünglich fremd war. Das Individuum fühlt ſich ſo energiſch, daß es eine Neigung hat, ſich ſelbſt zum Ganzen aufzuwerfen, ſeine Tugend iſt, dieſe Neigung zu opfern und dem wirklichen Ganzen zu dienen. Zwei Stände, Patrizier und Plebejer, liegen in unaufhörlichem Kampfe, leben aber auch ganz in demſelben. Wie nun die alte Tugend aufhört und Selbſtſucht, Herrſchſucht um ſich greift, da iſt es nicht zerfreſſene Blaſirtheit, was ſich vordrängt, das herrſchſüchtige Individuum iſt eine ganze Welt, hat die Wucht des Ganzen in ſich geſogen, ſchreitet groß auf erhöhtem Kothurn, iſt von Geiſt der Nothwendigkeit umweht, ſteht auf dem ehernen Poſtamente der Objectivität. Auch die Römer ſind alſo Menſchen aus Einem Guſſe, aber der Guß iſt härter. Es iſt ein Trennen in ihrer Natur gegeben, aber ein Trennen, das auf dem Boden der Objectivität, der unmittelbaren Einheit bleibt, daher ebenſo feſtes, wiewohl kämpfendes Zuſammengreifen, Zuſammenzwängen des Getrennten. Der bekannte juriſtiſche Beruf lag allerdings urſprünglich in dieſer Volksnatur, in der guten Zeit der Republik aber geht die Ausbildung des Rechts vor ſich, ohne irgend die naturwüchſige Einheit des Ganzen, des Lebens im Vater-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/254>, abgerufen am 22.11.2024.