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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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der derben Grundlage grober Kraft aufwuchs; hier jagten diese unerbitt-
lichen Städteverwüster, die das weiße Fett des Feindes den Fischen, die
entrissene Scham den Schakalen vorzuwerfen drohten, den Eber, den Löwen,
den wilden Stier, hier starrt die dorische Härte, an diesen Gipfeln und
Spitzen stieg das Auge hinauf und wuchs der Sinn des Erhabenen.
Verfolgt man aber die Umrisse, so sind sie schwungvoll fließend, wie in
§. 264 Anm. 2 gesagt ist, und das Auge hatte ein Reich von Linien vor
sich, die es zum plastischen Blicke bildete. Nun aber steigt man in die
Thäler herunter und wird von jonischer Weichheit und Lieblichkeit empfangen,
die doch nicht allzu üppig ist, sondern im Sinne der §. 279 geschilderten
Pflanzenwelt gemessen bleibt. Hier spielt eine unendliche Thierwelt;
zahllose Cikaden summen im Grase, tausende von Nachtigallen schlagen
im Myrthengebüsch, unter den Oliven, im Platanenhain, zwischen Wäldern
von Oleander, im Dunkel der Orangen und Limonen, das Steinhuhn
lockt, zierliche Lazerten werden von Schlangen verfolgt, mächtige Geier
schreiten gravitätisch mit den gelben Hosen, der Pelikan und Storch lauern
am See und hoch in den Lüften wiegt sich in stolzen Kreisen der Vogel
des Zeus. Die gefährliche, Cultur hemmende Thierwelt wurde in der
Heroenzeit verfolgt, ohne daß darum das Wild in dem Grade ausgerottet
worden wäre, wie bei uns. Die griechischen Dichter und Künstler haben
Löwen, Schlangen, Adler, Geier gesehen. Der Pferdeschlag war der
schlanke orientalische s. zu §. 310. Mit mäßiger Mühe gedeiht dreifache
Aerndte, Wein und edle Früchte erfreuen die Sinne, aber des Landes
ist wenig, das unendliche Meer rief zum Handel und dieser erst brachte
Reichthum. Die vielfach verzahnten und eingeschnittenen Küsten geben
dem Lande individuelle Gestalt und zeigen sinnbildlich die reiche Gliederung
griechischen Lebens an; umher aber schwimmen in reiner Bläue die schön
gezeichneten Inseln. In diesem glücklichen Lande wurde das Leben nicht
schwer, aber auch nicht zu leicht; die Natur saß dem Menschen wie ein
schmiegsames Kleid, worin er sich ungehemmt bewegen konnte. Sie drückte
nicht, sie zerschmelzte nicht; sie löste freundlich und sie spannte kräftig an.
Reine Gebirgsluft und frischer Seewind kühlt die brütende Hitze der
Thäler und selbst Schneegestöber, strengere Kälte kannte der härtere Berg-
bewohner. In diesem vielgetheilten Lande konnten sich die mannigfaltigen
Stämme in ihrer Individualität ausbilden, aber der trennende Gebirgs-
zug, der Meerbusen war leicht überschritten und lebendiger Austausch
hinderte die Isolirung. Der Hauptgegensatz, der des Dorischen und Jonischen,
schuf durch stetige Reibung bewegtes Leben und die Paarung des Strengen
und Weichen gab guten Klang. Der üppigere, geschwätzigere, geistig
bewegtere, feinere, leidenschaftlichere Jonier stand, durch die Kolonie in
Kleinasien namentlich, dem Orientalischen näher, der härtere, unbewegtere

der derben Grundlage grober Kraft aufwuchs; hier jagten dieſe unerbitt-
lichen Städteverwüſter, die das weiße Fett des Feindes den Fiſchen, die
entriſſene Scham den Schakalen vorzuwerfen drohten, den Eber, den Löwen,
den wilden Stier, hier ſtarrt die doriſche Härte, an dieſen Gipfeln und
Spitzen ſtieg das Auge hinauf und wuchs der Sinn des Erhabenen.
Verfolgt man aber die Umriſſe, ſo ſind ſie ſchwungvoll fließend, wie in
§. 264 Anm. 2 geſagt iſt, und das Auge hatte ein Reich von Linien vor
ſich, die es zum plaſtiſchen Blicke bildete. Nun aber ſteigt man in die
Thäler herunter und wird von joniſcher Weichheit und Lieblichkeit empfangen,
die doch nicht allzu üppig iſt, ſondern im Sinne der §. 279 geſchilderten
Pflanzenwelt gemeſſen bleibt. Hier ſpielt eine unendliche Thierwelt;
zahlloſe Cikaden ſummen im Graſe, tauſende von Nachtigallen ſchlagen
im Myrthengebüſch, unter den Oliven, im Platanenhain, zwiſchen Wäldern
von Oleander, im Dunkel der Orangen und Limonen, das Steinhuhn
lockt, zierliche Lazerten werden von Schlangen verfolgt, mächtige Geier
ſchreiten gravitätiſch mit den gelben Hoſen, der Pelikan und Storch lauern
am See und hoch in den Lüften wiegt ſich in ſtolzen Kreiſen der Vogel
des Zeus. Die gefährliche, Cultur hemmende Thierwelt wurde in der
Heroenzeit verfolgt, ohne daß darum das Wild in dem Grade ausgerottet
worden wäre, wie bei uns. Die griechiſchen Dichter und Künſtler haben
Löwen, Schlangen, Adler, Geier geſehen. Der Pferdeſchlag war der
ſchlanke orientaliſche ſ. zu §. 310. Mit mäßiger Mühe gedeiht dreifache
Aerndte, Wein und edle Früchte erfreuen die Sinne, aber des Landes
iſt wenig, das unendliche Meer rief zum Handel und dieſer erſt brachte
Reichthum. Die vielfach verzahnten und eingeſchnittenen Küſten geben
dem Lande individuelle Geſtalt und zeigen ſinnbildlich die reiche Gliederung
griechiſchen Lebens an; umher aber ſchwimmen in reiner Bläue die ſchön
gezeichneten Inſeln. In dieſem glücklichen Lande wurde das Leben nicht
ſchwer, aber auch nicht zu leicht; die Natur ſaß dem Menſchen wie ein
ſchmiegſames Kleid, worin er ſich ungehemmt bewegen konnte. Sie drückte
nicht, ſie zerſchmelzte nicht; ſie löste freundlich und ſie ſpannte kräftig an.
Reine Gebirgsluft und friſcher Seewind kühlt die brütende Hitze der
Thäler und ſelbſt Schneegeſtöber, ſtrengere Kälte kannte der härtere Berg-
bewohner. In dieſem vielgetheilten Lande konnten ſich die mannigfaltigen
Stämme in ihrer Individualität ausbilden, aber der trennende Gebirgs-
zug, der Meerbuſen war leicht überſchritten und lebendiger Austauſch
hinderte die Iſolirung. Der Hauptgegenſatz, der des Doriſchen und Joniſchen,
ſchuf durch ſtetige Reibung bewegtes Leben und die Paarung des Strengen
und Weichen gab guten Klang. Der üppigere, geſchwätzigere, geiſtig
bewegtere, feinere, leidenſchaftlichere Jonier ſtand, durch die Kolonie in
Kleinaſien namentlich, dem Orientaliſchen näher, der härtere, unbewegtere

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[234/0246] der derben Grundlage grober Kraft aufwuchs; hier jagten dieſe unerbitt- lichen Städteverwüſter, die das weiße Fett des Feindes den Fiſchen, die entriſſene Scham den Schakalen vorzuwerfen drohten, den Eber, den Löwen, den wilden Stier, hier ſtarrt die doriſche Härte, an dieſen Gipfeln und Spitzen ſtieg das Auge hinauf und wuchs der Sinn des Erhabenen. Verfolgt man aber die Umriſſe, ſo ſind ſie ſchwungvoll fließend, wie in §. 264 Anm. 2 geſagt iſt, und das Auge hatte ein Reich von Linien vor ſich, die es zum plaſtiſchen Blicke bildete. Nun aber ſteigt man in die Thäler herunter und wird von joniſcher Weichheit und Lieblichkeit empfangen, die doch nicht allzu üppig iſt, ſondern im Sinne der §. 279 geſchilderten Pflanzenwelt gemeſſen bleibt. Hier ſpielt eine unendliche Thierwelt; zahlloſe Cikaden ſummen im Graſe, tauſende von Nachtigallen ſchlagen im Myrthengebüſch, unter den Oliven, im Platanenhain, zwiſchen Wäldern von Oleander, im Dunkel der Orangen und Limonen, das Steinhuhn lockt, zierliche Lazerten werden von Schlangen verfolgt, mächtige Geier ſchreiten gravitätiſch mit den gelben Hoſen, der Pelikan und Storch lauern am See und hoch in den Lüften wiegt ſich in ſtolzen Kreiſen der Vogel des Zeus. Die gefährliche, Cultur hemmende Thierwelt wurde in der Heroenzeit verfolgt, ohne daß darum das Wild in dem Grade ausgerottet worden wäre, wie bei uns. Die griechiſchen Dichter und Künſtler haben Löwen, Schlangen, Adler, Geier geſehen. Der Pferdeſchlag war der ſchlanke orientaliſche ſ. zu §. 310. Mit mäßiger Mühe gedeiht dreifache Aerndte, Wein und edle Früchte erfreuen die Sinne, aber des Landes iſt wenig, das unendliche Meer rief zum Handel und dieſer erſt brachte Reichthum. Die vielfach verzahnten und eingeſchnittenen Küſten geben dem Lande individuelle Geſtalt und zeigen ſinnbildlich die reiche Gliederung griechiſchen Lebens an; umher aber ſchwimmen in reiner Bläue die ſchön gezeichneten Inſeln. In dieſem glücklichen Lande wurde das Leben nicht ſchwer, aber auch nicht zu leicht; die Natur ſaß dem Menſchen wie ein ſchmiegſames Kleid, worin er ſich ungehemmt bewegen konnte. Sie drückte nicht, ſie zerſchmelzte nicht; ſie löste freundlich und ſie ſpannte kräftig an. Reine Gebirgsluft und friſcher Seewind kühlt die brütende Hitze der Thäler und ſelbſt Schneegeſtöber, ſtrengere Kälte kannte der härtere Berg- bewohner. In dieſem vielgetheilten Lande konnten ſich die mannigfaltigen Stämme in ihrer Individualität ausbilden, aber der trennende Gebirgs- zug, der Meerbuſen war leicht überſchritten und lebendiger Austauſch hinderte die Iſolirung. Der Hauptgegenſatz, der des Doriſchen und Joniſchen, ſchuf durch ſtetige Reibung bewegtes Leben und die Paarung des Strengen und Weichen gab guten Klang. Der üppigere, geſchwätzigere, geiſtig bewegtere, feinere, leidenſchaftlichere Jonier ſtand, durch die Kolonie in Kleinaſien namentlich, dem Orientaliſchen näher, der härtere, unbewegtere

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/246>, abgerufen am 23.11.2024.