Die Kastenscheidung ist bekanntlich am strengsten in Indien, ein absolutes Naturgesetz und hierin die Bannung alles Lebens, die den Orient bezeichnet, auf's Schärfste ausgesprochen. So naturlos, wie durch die moderne Theilung des Geschäfts, werden dadurch die Stände zwar nicht, eben weil die Scheidung selbst Naturgesetz ist, aber freie Humanität und ihr Ausdruck ist unmöglich.
2. Der orientalische Staat ist überhaupt noch nicht völlig aus dem patriarchalischen herausgetreten, an schönen idyllischen Zügen fehlt es daher im engeren Kreise des Individuums nirgends. Liebe, Ehe, Familie erscheint innig und rührend. Man denke nur an die Geschichte der jüdischen Erzväter, Buch Nuth, an die Sakontala, Nal und Damajanti, die persischen Familiengeschichten -- überall eine Fundgrube lieblicher Stoffe, freundlicher Scenen in reiner Luft des Morgenlands, im schattigen Haine, am Brunnen, beim Nomadenzelte. Die Polygamie ist freilich gegen das Wesen der Ehe, doch schneidet sie nicht alle zarteren Züge ab, die Eingeschlossenheit der Weiber gibt bei allem Nachtheil manchen geheimnißvollen Reiz, Intrike und Züge von Schalkheit. Zu geschlossener Persönlichkeit aber bringt es das Individuum nicht. Was von Naturvölkern und von Culturvölkern, deren Bildung Natur bleibt, überhaupt gilt, das gilt besonders von den Orientalen: die Individuen haben wenig Unterschied, sehen sich auch im äußern Typus überraschend gleich, unterscheiden sich mehr nach Tempera- mentssphären, als durch den auf unendliche Eigenheit begründeten Charakter. So schafft sich auch das Individuum nicht sein Schicksal; bannende Sitte, Gesetz, Priesterwille und Despotenlaune schmettern nieder oder beglücken die Menschen ungezählt zu Tausenden; der Einzelne wiegt nicht. Er ist aber nicht unzufrieden, denn er sieht seine Freiheit im Herrscher, in den bevor- zugten Kasten. Sein Wille kommt als fremder über ihn, völlig unfrei zu sein ist die erste und kindliche Art der Freiheit. Es tritt aber doch dadurch wieder ein ästhetischer Reiz in das Leben des Einzelnen, den das gute Glück jetzt erhöht, mit Wollust und Zauber der Anmuth über- schüttet, jetzt das böse mit der seidenen Schnur überrascht. Da liegt das Mährchenhafte nahe; in dieser willenlosen Schicksalslaune hat das Buch Tausend und eine Nacht seine Region. Zu erwähnen ist noch, daß in dieser orientalischen Form des Geistes nothwendig der Traum und die Zustände des wachen Traumes, Ahnung, Vision, Hellsehen (§. 337) eine große Rolle spielen. Dieß ist zwar auch bei den Griechen und Römern noch der Fall, aber dieses Reich des Außersichseins ist hier von der freien Menschlichkeit überdeckt, es schickt seine Dämpfe noch aus dem Abgrund, aber sie spielen als leichtere Wolken am Tageslichte der Besinnung.
3. Die großen Männer des Orients, die Gesetzgeber, die Propheten, die Helden sind Urgestalten von gewaltiger Erhabenheit, gehören zu den
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Die Kaſtenſcheidung iſt bekanntlich am ſtrengſten in Indien, ein abſolutes Naturgeſetz und hierin die Bannung alles Lebens, die den Orient bezeichnet, auf’s Schärfſte ausgeſprochen. So naturlos, wie durch die moderne Theilung des Geſchäfts, werden dadurch die Stände zwar nicht, eben weil die Scheidung ſelbſt Naturgeſetz iſt, aber freie Humanität und ihr Ausdruck iſt unmöglich.
2. Der orientaliſche Staat iſt überhaupt noch nicht völlig aus dem patriarchaliſchen herausgetreten, an ſchönen idylliſchen Zügen fehlt es daher im engeren Kreiſe des Individuums nirgends. Liebe, Ehe, Familie erſcheint innig und rührend. Man denke nur an die Geſchichte der jüdiſchen Erzväter, Buch Nuth, an die Sakontala, Nal und Damajanti, die perſiſchen Familiengeſchichten — überall eine Fundgrube lieblicher Stoffe, freundlicher Scenen in reiner Luft des Morgenlands, im ſchattigen Haine, am Brunnen, beim Nomadenzelte. Die Polygamie iſt freilich gegen das Weſen der Ehe, doch ſchneidet ſie nicht alle zarteren Züge ab, die Eingeſchloſſenheit der Weiber gibt bei allem Nachtheil manchen geheimnißvollen Reiz, Intrike und Züge von Schalkheit. Zu geſchloſſener Perſönlichkeit aber bringt es das Individuum nicht. Was von Naturvölkern und von Culturvölkern, deren Bildung Natur bleibt, überhaupt gilt, das gilt beſonders von den Orientalen: die Individuen haben wenig Unterſchied, ſehen ſich auch im äußern Typus überraſchend gleich, unterſcheiden ſich mehr nach Tempera- mentsſphären, als durch den auf unendliche Eigenheit begründeten Charakter. So ſchafft ſich auch das Individuum nicht ſein Schickſal; bannende Sitte, Geſetz, Prieſterwille und Deſpotenlaune ſchmettern nieder oder beglücken die Menſchen ungezählt zu Tauſenden; der Einzelne wiegt nicht. Er iſt aber nicht unzufrieden, denn er ſieht ſeine Freiheit im Herrſcher, in den bevor- zugten Kaſten. Sein Wille kommt als fremder über ihn, völlig unfrei zu ſein iſt die erſte und kindliche Art der Freiheit. Es tritt aber doch dadurch wieder ein äſthetiſcher Reiz in das Leben des Einzelnen, den das gute Glück jetzt erhöht, mit Wolluſt und Zauber der Anmuth über- ſchüttet, jetzt das böſe mit der ſeidenen Schnur überraſcht. Da liegt das Mährchenhafte nahe; in dieſer willenloſen Schickſalslaune hat das Buch Tauſend und eine Nacht ſeine Region. Zu erwähnen iſt noch, daß in dieſer orientaliſchen Form des Geiſtes nothwendig der Traum und die Zuſtände des wachen Traumes, Ahnung, Viſion, Hellſehen (§. 337) eine große Rolle ſpielen. Dieß iſt zwar auch bei den Griechen und Römern noch der Fall, aber dieſes Reich des Außerſichſeins iſt hier von der freien Menſchlichkeit überdeckt, es ſchickt ſeine Dämpfe noch aus dem Abgrund, aber ſie ſpielen als leichtere Wolken am Tageslichte der Beſinnung.
3. Die großen Männer des Orients, die Geſetzgeber, die Propheten, die Helden ſind Urgeſtalten von gewaltiger Erhabenheit, gehören zu den
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Die Kaſtenſcheidung iſt bekanntlich am ſtrengſten in Indien, ein abſolutes
Naturgeſetz und hierin die Bannung alles Lebens, die den Orient bezeichnet,
auf’s Schärfſte ausgeſprochen. So naturlos, wie durch die moderne
Theilung des Geſchäfts, werden dadurch die Stände zwar nicht, eben
weil die Scheidung ſelbſt Naturgeſetz iſt, aber freie Humanität und ihr
Ausdruck iſt unmöglich.
2. Der orientaliſche Staat iſt überhaupt noch nicht völlig aus dem
patriarchaliſchen herausgetreten, an ſchönen idylliſchen Zügen fehlt es
daher im engeren Kreiſe des Individuums nirgends. Liebe, Ehe, Familie
erſcheint innig und rührend. Man denke nur an die Geſchichte der jüdiſchen
Erzväter, Buch Nuth, an die Sakontala, Nal und Damajanti, die perſiſchen
Familiengeſchichten — überall eine Fundgrube lieblicher Stoffe, freundlicher
Scenen in reiner Luft des Morgenlands, im ſchattigen Haine, am Brunnen,
beim Nomadenzelte. Die Polygamie iſt freilich gegen das Weſen der
Ehe, doch ſchneidet ſie nicht alle zarteren Züge ab, die Eingeſchloſſenheit
der Weiber gibt bei allem Nachtheil manchen geheimnißvollen Reiz, Intrike
und Züge von Schalkheit. Zu geſchloſſener Perſönlichkeit aber bringt es
das Individuum nicht. Was von Naturvölkern und von Culturvölkern,
deren Bildung Natur bleibt, überhaupt gilt, das gilt beſonders von den
Orientalen: die Individuen haben wenig Unterſchied, ſehen ſich auch im
äußern Typus überraſchend gleich, unterſcheiden ſich mehr nach Tempera-
mentsſphären, als durch den auf unendliche Eigenheit begründeten Charakter.
So ſchafft ſich auch das Individuum nicht ſein Schickſal; bannende Sitte,
Geſetz, Prieſterwille und Deſpotenlaune ſchmettern nieder oder beglücken die
Menſchen ungezählt zu Tauſenden; der Einzelne wiegt nicht. Er iſt aber
nicht unzufrieden, denn er ſieht ſeine Freiheit im Herrſcher, in den bevor-
zugten Kaſten. Sein Wille kommt als fremder über ihn, völlig unfrei
zu ſein iſt die erſte und kindliche Art der Freiheit. Es tritt aber doch
dadurch wieder ein äſthetiſcher Reiz in das Leben des Einzelnen, den
das gute Glück jetzt erhöht, mit Wolluſt und Zauber der Anmuth über-
ſchüttet, jetzt das böſe mit der ſeidenen Schnur überraſcht. Da liegt das
Mährchenhafte nahe; in dieſer willenloſen Schickſalslaune hat das Buch
Tauſend und eine Nacht ſeine Region. Zu erwähnen iſt noch, daß in
dieſer orientaliſchen Form des Geiſtes nothwendig der Traum und die
Zuſtände des wachen Traumes, Ahnung, Viſion, Hellſehen (§. 337) eine
große Rolle ſpielen. Dieß iſt zwar auch bei den Griechen und Römern
noch der Fall, aber dieſes Reich des Außerſichſeins iſt hier von der freien
Menſchlichkeit überdeckt, es ſchickt ſeine Dämpfe noch aus dem Abgrund,
aber ſie ſpielen als leichtere Wolken am Tageslichte der Beſinnung.
3. Die großen Männer des Orients, die Geſetzgeber, die Propheten,
die Helden ſind Urgeſtalten von gewaltiger Erhabenheit, gehören zu den
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/239>, abgerufen am 17.02.2025.
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