Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

als eine, wie es zuerst scheint, ganz willkührliche die conventionelle Mimik
der Völker zu unterscheiden. Allein trotz ihrem Unterschied von der indivi-
duellen gibt sie ein belehrendes Beispiel der Mischung aus Freiheit und
Natur, Bewußtem und Unbewußtem. Daß der Orientale das Haupt
bedeckt, wo es der Europäer entblöst, daß der Neapolitaner und Neu-
grieche zur Verneinung den Kopf hinauf und zurückbewegt und mit der
Zunge schnalzt, wo die andern Völker den Kopf schütteln, der Italiener,
wenn er in die Ferne grüßt, die Handbewegung macht, die wir machen,
wenn wir Jemand zu uns herwinken: dieß ist als eine Convention der
Sitte ganz verschieden von der unwillkührlichen Bewegung der Leidenschaft,
die einen Einzelnen überrascht, aber es hat doch auch seinen Grund in
einer unbewußten Symbolik, die das, was ausgedrückt werden soll, gerade
von dieser und nicht von einer andern bezeichnenden Seite auffaßt. Es
verhält sich genau wie mit dem Unterschiede der Sprachen, welcher auch
auf geheimer Symbolik beruht, die von einer Erscheinung diese oder jene
Seite zur Bezeichnung herausnimmt, z. B. am Blitze das Gewundene,
Gezackte oder das schnell Zuckende. Doch muß man diese Mimik von der
den Völkern gemeinsamen allerdings als die conventionelle unterscheiden.
Der einzelne Charakter nun reißt sich weder von dieser noch von jener
Zeichensprache völlig los, er modificirt sie nur, und zwar durch seine
eigenste Natur in ihrer Concretion mit seinem freien Willen, und bildet
so den rein individuellen Ton, worin Keiner ihm gleicht.

4. Wie gesagt, ist die Mimik ungleich verständlicher, als das
physiognomische Gebiet. Man kann ein System der Zeichen aufstellen,
sofern sie allgemein menschlich, nationell, Ständen, Geschlechtern, Lebens-
altern u. s. w. eigenthümlich sind. Das Ungleiche der conventionellen
Zeichen hindert hieran nicht; es hat seinen Grund, es läßt sich übersehen,
ordnen und ist ohnedieß von ästhetischer Bedeutung nur, soweit es nicht
allzu particulär ist. Diese Studien bilden den Erfahrungsstoff für die
mimische Kunst; die Naturschönheit gibt auch hier die Vorlage, die voraus-
gehen muß, Niemand kann und darf die Kunst der Mimik abstract aus
der Phantasie spinnen. Was sich nun aber nicht bestimmen läßt, ist das
rein Individuelle, was wir zuletzt erwähnten. Dieselbe Bewegung macht
jeder auf andere Weise. Dieses Individuelle gehört aber auch in die
Schönheit und es wird sich zeigen, wie die Schwäche der mimischen
Kunst darin liegt, daß die Persönlichkeit des Schauspielers bereits eine
feste Concretion angeborener und angebildeter, individueller und all-
gemeiner Bewegungsformen ist, welche in die andere Concretion des
Individuellen und Allgemeinen, welche die Rolle fordert, niemals ohne
allen Rest aufgehen kann.


als eine, wie es zuerſt ſcheint, ganz willkührliche die conventionelle Mimik
der Völker zu unterſcheiden. Allein trotz ihrem Unterſchied von der indivi-
duellen gibt ſie ein belehrendes Beiſpiel der Miſchung aus Freiheit und
Natur, Bewußtem und Unbewußtem. Daß der Orientale das Haupt
bedeckt, wo es der Europäer entblöst, daß der Neapolitaner und Neu-
grieche zur Verneinung den Kopf hinauf und zurückbewegt und mit der
Zunge ſchnalzt, wo die andern Völker den Kopf ſchütteln, der Italiener,
wenn er in die Ferne grüßt, die Handbewegung macht, die wir machen,
wenn wir Jemand zu uns herwinken: dieß iſt als eine Convention der
Sitte ganz verſchieden von der unwillkührlichen Bewegung der Leidenſchaft,
die einen Einzelnen überraſcht, aber es hat doch auch ſeinen Grund in
einer unbewußten Symbolik, die das, was ausgedrückt werden ſoll, gerade
von dieſer und nicht von einer andern bezeichnenden Seite auffaßt. Es
verhält ſich genau wie mit dem Unterſchiede der Sprachen, welcher auch
auf geheimer Symbolik beruht, die von einer Erſcheinung dieſe oder jene
Seite zur Bezeichnung herausnimmt, z. B. am Blitze das Gewundene,
Gezackte oder das ſchnell Zuckende. Doch muß man dieſe Mimik von der
den Völkern gemeinſamen allerdings als die conventionelle unterſcheiden.
Der einzelne Charakter nun reißt ſich weder von dieſer noch von jener
Zeichenſprache völlig los, er modificirt ſie nur, und zwar durch ſeine
eigenſte Natur in ihrer Concretion mit ſeinem freien Willen, und bildet
ſo den rein individuellen Ton, worin Keiner ihm gleicht.

4. Wie geſagt, iſt die Mimik ungleich verſtändlicher, als das
phyſiognomiſche Gebiet. Man kann ein Syſtem der Zeichen aufſtellen,
ſofern ſie allgemein menſchlich, nationell, Ständen, Geſchlechtern, Lebens-
altern u. ſ. w. eigenthümlich ſind. Das Ungleiche der conventionellen
Zeichen hindert hieran nicht; es hat ſeinen Grund, es läßt ſich überſehen,
ordnen und iſt ohnedieß von äſthetiſcher Bedeutung nur, ſoweit es nicht
allzu particulär iſt. Dieſe Studien bilden den Erfahrungsſtoff für die
mimiſche Kunſt; die Naturſchönheit gibt auch hier die Vorlage, die voraus-
gehen muß, Niemand kann und darf die Kunſt der Mimik abſtract aus
der Phantaſie ſpinnen. Was ſich nun aber nicht beſtimmen läßt, iſt das
rein Individuelle, was wir zuletzt erwähnten. Dieſelbe Bewegung macht
jeder auf andere Weiſe. Dieſes Individuelle gehört aber auch in die
Schönheit und es wird ſich zeigen, wie die Schwäche der mimiſchen
Kunſt darin liegt, daß die Perſönlichkeit des Schauſpielers bereits eine
feſte Concretion angeborener und angebildeter, individueller und all-
gemeiner Bewegungsformen iſt, welche in die andere Concretion des
Individuellen und Allgemeinen, welche die Rolle fordert, niemals ohne
allen Reſt aufgehen kann.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0230" n="218"/>
als eine, wie es zuer&#x017F;t &#x017F;cheint, ganz willkührliche die conventionelle Mimik<lb/>
der Völker zu unter&#x017F;cheiden. Allein trotz ihrem Unter&#x017F;chied von der indivi-<lb/>
duellen gibt &#x017F;ie ein belehrendes Bei&#x017F;piel der Mi&#x017F;chung aus Freiheit und<lb/>
Natur, Bewußtem und Unbewußtem. Daß der Orientale das Haupt<lb/>
bedeckt, wo es der Europäer entblöst, daß der Neapolitaner und Neu-<lb/>
grieche zur Verneinung den Kopf hinauf und zurückbewegt und mit der<lb/>
Zunge &#x017F;chnalzt, wo die andern Völker den Kopf &#x017F;chütteln, der Italiener,<lb/>
wenn er in die Ferne grüßt, die Handbewegung macht, die wir machen,<lb/>
wenn wir Jemand zu uns herwinken: dieß i&#x017F;t als eine Convention der<lb/>
Sitte ganz ver&#x017F;chieden von der unwillkührlichen Bewegung der Leiden&#x017F;chaft,<lb/>
die einen Einzelnen überra&#x017F;cht, aber es hat doch auch &#x017F;einen Grund in<lb/>
einer unbewußten Symbolik, die das, was ausgedrückt werden &#x017F;oll, gerade<lb/>
von die&#x017F;er und nicht von einer andern bezeichnenden Seite auffaßt. Es<lb/>
verhält &#x017F;ich genau wie mit dem Unter&#x017F;chiede der Sprachen, welcher auch<lb/>
auf geheimer Symbolik beruht, die von einer Er&#x017F;cheinung die&#x017F;e oder jene<lb/>
Seite zur Bezeichnung herausnimmt, z. B. am Blitze das Gewundene,<lb/>
Gezackte oder das &#x017F;chnell Zuckende. Doch muß man die&#x017F;e Mimik von der<lb/>
den Völkern gemein&#x017F;amen allerdings als die conventionelle unter&#x017F;cheiden.<lb/>
Der einzelne Charakter nun reißt &#x017F;ich weder von die&#x017F;er noch von jener<lb/>
Zeichen&#x017F;prache völlig los, er modificirt &#x017F;ie nur, und zwar durch &#x017F;eine<lb/>
eigen&#x017F;te Natur in ihrer Concretion mit &#x017F;einem freien Willen, und bildet<lb/>
&#x017F;o den rein individuellen Ton, worin Keiner ihm gleicht.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">4. Wie ge&#x017F;agt, i&#x017F;t die Mimik ungleich ver&#x017F;tändlicher, als das<lb/>
phy&#x017F;iognomi&#x017F;che Gebiet. Man kann ein Sy&#x017F;tem der Zeichen auf&#x017F;tellen,<lb/>
&#x017F;ofern &#x017F;ie allgemein men&#x017F;chlich, nationell, Ständen, Ge&#x017F;chlechtern, Lebens-<lb/>
altern u. &#x017F;. w. eigenthümlich &#x017F;ind. Das Ungleiche der conventionellen<lb/>
Zeichen hindert hieran nicht; es hat &#x017F;einen Grund, es läßt &#x017F;ich über&#x017F;ehen,<lb/>
ordnen und i&#x017F;t ohnedieß von ä&#x017F;theti&#x017F;cher Bedeutung nur, &#x017F;oweit es nicht<lb/>
allzu particulär i&#x017F;t. Die&#x017F;e Studien bilden den Erfahrungs&#x017F;toff für die<lb/>
mimi&#x017F;che Kun&#x017F;t; die Natur&#x017F;chönheit gibt auch hier die Vorlage, die voraus-<lb/>
gehen muß, Niemand kann und darf die Kun&#x017F;t der Mimik ab&#x017F;tract aus<lb/>
der Phanta&#x017F;ie &#x017F;pinnen. Was &#x017F;ich nun aber nicht be&#x017F;timmen läßt, i&#x017F;t das<lb/>
rein Individuelle, was wir zuletzt erwähnten. Die&#x017F;elbe Bewegung macht<lb/>
jeder auf andere Wei&#x017F;e. Die&#x017F;es Individuelle gehört aber auch in die<lb/>
Schönheit und es wird &#x017F;ich zeigen, wie die Schwäche der mimi&#x017F;chen<lb/>
Kun&#x017F;t darin liegt, daß die Per&#x017F;önlichkeit des Schau&#x017F;pielers bereits eine<lb/>
fe&#x017F;te Concretion angeborener und angebildeter, individueller und all-<lb/>
gemeiner Bewegungsformen i&#x017F;t, welche in die andere Concretion des<lb/>
Individuellen und Allgemeinen, welche die Rolle fordert, niemals ohne<lb/>
allen Re&#x017F;t aufgehen kann.</hi> </p>
                </div><lb/>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[218/0230] als eine, wie es zuerſt ſcheint, ganz willkührliche die conventionelle Mimik der Völker zu unterſcheiden. Allein trotz ihrem Unterſchied von der indivi- duellen gibt ſie ein belehrendes Beiſpiel der Miſchung aus Freiheit und Natur, Bewußtem und Unbewußtem. Daß der Orientale das Haupt bedeckt, wo es der Europäer entblöst, daß der Neapolitaner und Neu- grieche zur Verneinung den Kopf hinauf und zurückbewegt und mit der Zunge ſchnalzt, wo die andern Völker den Kopf ſchütteln, der Italiener, wenn er in die Ferne grüßt, die Handbewegung macht, die wir machen, wenn wir Jemand zu uns herwinken: dieß iſt als eine Convention der Sitte ganz verſchieden von der unwillkührlichen Bewegung der Leidenſchaft, die einen Einzelnen überraſcht, aber es hat doch auch ſeinen Grund in einer unbewußten Symbolik, die das, was ausgedrückt werden ſoll, gerade von dieſer und nicht von einer andern bezeichnenden Seite auffaßt. Es verhält ſich genau wie mit dem Unterſchiede der Sprachen, welcher auch auf geheimer Symbolik beruht, die von einer Erſcheinung dieſe oder jene Seite zur Bezeichnung herausnimmt, z. B. am Blitze das Gewundene, Gezackte oder das ſchnell Zuckende. Doch muß man dieſe Mimik von der den Völkern gemeinſamen allerdings als die conventionelle unterſcheiden. Der einzelne Charakter nun reißt ſich weder von dieſer noch von jener Zeichenſprache völlig los, er modificirt ſie nur, und zwar durch ſeine eigenſte Natur in ihrer Concretion mit ſeinem freien Willen, und bildet ſo den rein individuellen Ton, worin Keiner ihm gleicht. 4. Wie geſagt, iſt die Mimik ungleich verſtändlicher, als das phyſiognomiſche Gebiet. Man kann ein Syſtem der Zeichen aufſtellen, ſofern ſie allgemein menſchlich, nationell, Ständen, Geſchlechtern, Lebens- altern u. ſ. w. eigenthümlich ſind. Das Ungleiche der conventionellen Zeichen hindert hieran nicht; es hat ſeinen Grund, es läßt ſich überſehen, ordnen und iſt ohnedieß von äſthetiſcher Bedeutung nur, ſoweit es nicht allzu particulär iſt. Dieſe Studien bilden den Erfahrungsſtoff für die mimiſche Kunſt; die Naturſchönheit gibt auch hier die Vorlage, die voraus- gehen muß, Niemand kann und darf die Kunſt der Mimik abſtract aus der Phantaſie ſpinnen. Was ſich nun aber nicht beſtimmen läßt, iſt das rein Individuelle, was wir zuletzt erwähnten. Dieſelbe Bewegung macht jeder auf andere Weiſe. Dieſes Individuelle gehört aber auch in die Schönheit und es wird ſich zeigen, wie die Schwäche der mimiſchen Kunſt darin liegt, daß die Perſönlichkeit des Schauſpielers bereits eine feſte Concretion angeborener und angebildeter, individueller und all- gemeiner Bewegungsformen iſt, welche in die andere Concretion des Individuellen und Allgemeinen, welche die Rolle fordert, niemals ohne allen Reſt aufgehen kann.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/230
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/230>, abgerufen am 27.11.2024.