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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Vergleichung ein; daß die festen Erdformen durch ähnliche Bewegungen
entstanden, wie sie jetzt noch vorkommen, läßt sich nachweisen, daß aber
dem stummen Seelenbau des Körpers ähnliche Symbolik zu Grund liege,
wie den mimischen Bewegungen, dieß ist ein andeutendes Wort, ein
Wink, eine Perspective, die lächerlich wird, sobald man sie ins Exacte zu
verfolgen sucht. Das Lachen zieht die Mundwinkel, Nasenflügel, Augen-
winkel in die Höhe, das Weinen abwärts; ein Mensch, in dessen Gesicht
diese Theile der einen oder andern Stellung von Natur und auch in der
Ruhe sich nähern, scheint zu fader Lachlust oder trüber Niedergeschlagenheit
von Natur disponirt -- ungefähr, vielleicht, man kann es nicht gewiß
sagen. Die Analogie läßt sich um so weniger streng fassen, da aller mimische
Ausdruck allgemeinerer Art mit den festen Formen auch in Widerspruch
treten kann, sei er nun der Ausdruck vorübergehender Leidenschaft oder des
Charakters, der mit der Naturanlage gekämpft hat. Nun bestimmen sich
überdieß auch die mimischen Bewegungen in jedem Individuum anders
und diese individuelle Mimik steht natürlich mit der Physiognomie des
Individuums im innigsten Zusammenhang, aber hier hören vollends alle
allgemeinen Feststellungen auf.

Der mimische Ausdruck bewegt als Mienenspiel vorzüglich das
Angesicht, wohin er sich bei den nördlichen Völkern und in der modernen
Bildung beinahe ganz zurückgezogen hat, wogegen die südlichen Völker
noch heute die lebendigste, über den ganzen Leib verbreitete Gebärden-
Sprache üben, bei denen ebendaher auch Vieles, was uns zufällig und
gleichgiltig erscheint, als Zeichen gilt, z. B. das Einschenken über den
Rücken der Hand, Vergl. namentl. Andrea de Jorio. La mimica degli
antiehi investigata nel gestire Napoletano.
Stirne: Runzeln wie
Wolken, Glätten wie heiterer Himmel; hier ist die Symbolik klar. Auge:
zunächst Ausdruck vermittelst der Augbraunen: Zusammenziehen, in die
Höhe ziehen; der Augenlider: Aufschlagen, Niederschlagen, Schließen,
halb Schließen, Blinzen; dann der Apfel: tritt heraus in Freude, Muth,
Zorn, sinkt zurück in Schrecken, Trauer, dreht sich nach allen Seiten, um
jede Stimmung, jeden Affect, jede Beziehung zum Objecte zu bezeichnen;
sein Glanz erlischt, erhöht sich, er vergießt Thränen; -- eine durchaus
deutliche Sprache. Die Nase ist wenig beweglich, doch zieht sich ihre
Spitze hinauf im Rümpfen, sie öffnet ihre Flügel im Zorn und überhaupt
wird ihre ganze untere Parthie von dem Mienenspiel des Mundes in
Theilnahme gezogen, ebenso die weniger fest aufliegenden Theile der
Wangen. Von diesen vorzüglich breitet sich Erröthen und Erbleichen über
das ganze Gesicht aus. Die Symbolik dieser Blutbewegungen ist klar:
in Scham und Zorn springt das Blut an die Oberfläche, denn die Persön-
lichkeit ist bei jener in ihren geheimen Naturgründen, die sie verbergen

Vergleichung ein; daß die feſten Erdformen durch ähnliche Bewegungen
entſtanden, wie ſie jetzt noch vorkommen, läßt ſich nachweiſen, daß aber
dem ſtummen Seelenbau des Körpers ähnliche Symbolik zu Grund liege,
wie den mimiſchen Bewegungen, dieß iſt ein andeutendes Wort, ein
Wink, eine Perſpective, die lächerlich wird, ſobald man ſie ins Exacte zu
verfolgen ſucht. Das Lachen zieht die Mundwinkel, Naſenflügel, Augen-
winkel in die Höhe, das Weinen abwärts; ein Menſch, in deſſen Geſicht
dieſe Theile der einen oder andern Stellung von Natur und auch in der
Ruhe ſich nähern, ſcheint zu fader Lachluſt oder trüber Niedergeſchlagenheit
von Natur disponirt — ungefähr, vielleicht, man kann es nicht gewiß
ſagen. Die Analogie läßt ſich um ſo weniger ſtreng faſſen, da aller mimiſche
Ausdruck allgemeinerer Art mit den feſten Formen auch in Widerſpruch
treten kann, ſei er nun der Ausdruck vorübergehender Leidenſchaft oder des
Charakters, der mit der Naturanlage gekämpft hat. Nun beſtimmen ſich
überdieß auch die mimiſchen Bewegungen in jedem Individuum anders
und dieſe individuelle Mimik ſteht natürlich mit der Phyſiognomie des
Individuums im innigſten Zuſammenhang, aber hier hören vollends alle
allgemeinen Feſtſtellungen auf.

Der mimiſche Ausdruck bewegt als Mienenſpiel vorzüglich das
Angeſicht, wohin er ſich bei den nördlichen Völkern und in der modernen
Bildung beinahe ganz zurückgezogen hat, wogegen die ſüdlichen Völker
noch heute die lebendigſte, über den ganzen Leib verbreitete Gebärden-
Sprache üben, bei denen ebendaher auch Vieles, was uns zufällig und
gleichgiltig erſcheint, als Zeichen gilt, z. B. das Einſchenken über den
Rücken der Hand, Vergl. namentl. Andrea de Jorio. La mimica degli
antiehi investigata nel gestire Napoletano.
Stirne: Runzeln wie
Wolken, Glätten wie heiterer Himmel; hier iſt die Symbolik klar. Auge:
zunächſt Ausdruck vermittelſt der Augbraunen: Zuſammenziehen, in die
Höhe ziehen; der Augenlider: Aufſchlagen, Niederſchlagen, Schließen,
halb Schließen, Blinzen; dann der Apfel: tritt heraus in Freude, Muth,
Zorn, ſinkt zurück in Schrecken, Trauer, dreht ſich nach allen Seiten, um
jede Stimmung, jeden Affect, jede Beziehung zum Objecte zu bezeichnen;
ſein Glanz erliſcht, erhöht ſich, er vergießt Thränen; — eine durchaus
deutliche Sprache. Die Naſe iſt wenig beweglich, doch zieht ſich ihre
Spitze hinauf im Rümpfen, ſie öffnet ihre Flügel im Zorn und überhaupt
wird ihre ganze untere Parthie von dem Mienenſpiel des Mundes in
Theilnahme gezogen, ebenſo die weniger feſt aufliegenden Theile der
Wangen. Von dieſen vorzüglich breitet ſich Erröthen und Erbleichen über
das ganze Geſicht aus. Die Symbolik dieſer Blutbewegungen iſt klar:
in Scham und Zorn ſpringt das Blut an die Oberfläche, denn die Perſön-
lichkeit iſt bei jener in ihren geheimen Naturgründen, die ſie verbergen

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[214/0226] Vergleichung ein; daß die feſten Erdformen durch ähnliche Bewegungen entſtanden, wie ſie jetzt noch vorkommen, läßt ſich nachweiſen, daß aber dem ſtummen Seelenbau des Körpers ähnliche Symbolik zu Grund liege, wie den mimiſchen Bewegungen, dieß iſt ein andeutendes Wort, ein Wink, eine Perſpective, die lächerlich wird, ſobald man ſie ins Exacte zu verfolgen ſucht. Das Lachen zieht die Mundwinkel, Naſenflügel, Augen- winkel in die Höhe, das Weinen abwärts; ein Menſch, in deſſen Geſicht dieſe Theile der einen oder andern Stellung von Natur und auch in der Ruhe ſich nähern, ſcheint zu fader Lachluſt oder trüber Niedergeſchlagenheit von Natur disponirt — ungefähr, vielleicht, man kann es nicht gewiß ſagen. Die Analogie läßt ſich um ſo weniger ſtreng faſſen, da aller mimiſche Ausdruck allgemeinerer Art mit den feſten Formen auch in Widerſpruch treten kann, ſei er nun der Ausdruck vorübergehender Leidenſchaft oder des Charakters, der mit der Naturanlage gekämpft hat. Nun beſtimmen ſich überdieß auch die mimiſchen Bewegungen in jedem Individuum anders und dieſe individuelle Mimik ſteht natürlich mit der Phyſiognomie des Individuums im innigſten Zuſammenhang, aber hier hören vollends alle allgemeinen Feſtſtellungen auf. Der mimiſche Ausdruck bewegt als Mienenſpiel vorzüglich das Angeſicht, wohin er ſich bei den nördlichen Völkern und in der modernen Bildung beinahe ganz zurückgezogen hat, wogegen die ſüdlichen Völker noch heute die lebendigſte, über den ganzen Leib verbreitete Gebärden- Sprache üben, bei denen ebendaher auch Vieles, was uns zufällig und gleichgiltig erſcheint, als Zeichen gilt, z. B. das Einſchenken über den Rücken der Hand, Vergl. namentl. Andrea de Jorio. La mimica degli antiehi investigata nel gestire Napoletano. Stirne: Runzeln wie Wolken, Glätten wie heiterer Himmel; hier iſt die Symbolik klar. Auge: zunächſt Ausdruck vermittelſt der Augbraunen: Zuſammenziehen, in die Höhe ziehen; der Augenlider: Aufſchlagen, Niederſchlagen, Schließen, halb Schließen, Blinzen; dann der Apfel: tritt heraus in Freude, Muth, Zorn, ſinkt zurück in Schrecken, Trauer, dreht ſich nach allen Seiten, um jede Stimmung, jeden Affect, jede Beziehung zum Objecte zu bezeichnen; ſein Glanz erliſcht, erhöht ſich, er vergießt Thränen; — eine durchaus deutliche Sprache. Die Naſe iſt wenig beweglich, doch zieht ſich ihre Spitze hinauf im Rümpfen, ſie öffnet ihre Flügel im Zorn und überhaupt wird ihre ganze untere Parthie von dem Mienenſpiel des Mundes in Theilnahme gezogen, ebenſo die weniger feſt aufliegenden Theile der Wangen. Von dieſen vorzüglich breitet ſich Erröthen und Erbleichen über das ganze Geſicht aus. Die Symbolik dieſer Blutbewegungen iſt klar: in Scham und Zorn ſpringt das Blut an die Oberfläche, denn die Perſön- lichkeit iſt bei jener in ihren geheimen Naturgründen, die ſie verbergen

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/226>, abgerufen am 27.11.2024.