Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
wo denn im letzteren Sinne gleichgiltiger wird, was das Individuum 2. Die Liebe ist als Ergänzung des Geschlechtsmenschen zum
wo denn im letzteren Sinne gleichgiltiger wird, was das Individuum 2. Die Liebe iſt als Ergänzung des Geſchlechtsmenſchen zum <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0212" n="200"/> wo denn im letzteren Sinne gleichgiltiger wird, was das Individuum<lb/> treibt und im Speciellen unternimmt. Es kommt dabei auf die Sphäre<lb/> an, in der ein Charakter auftritt oder ſich bilden ſoll: Privatleben oder<lb/> Staat. Von den Colliſionen des Bildungswegs nun dürfen wir nur<lb/> einige andeuten: Ungewißheit des Individuums über ſeine eigene Beſtim-<lb/> mung inmitten der unendlichen ihm offen liegenden Kreiſe; Täuſchungen<lb/> darüber (Wilh. Meiſter). Täuſchungen über das objectiv Wahre, Irr-<lb/> thümer; die tüchtige Natur ſucht und findet durch ſie ihren Weg. Aeußere<lb/> Hemmniſſe: Zuſtand des Volks im Widerſpruche mit dem Drang des<lb/> Einzelnen, z. B. Drang der Tapferkeit oder der Wahrheit in einem<lb/> unterdrückten Volke. Einrichtung der Geſellſchaft, die dem Strebenden<lb/> irrationelle Schranken ſetzt, ihm den Uebertritt in einen gewiſſen Stand<lb/> verſperrt, Standesvorurtheile der Eltern, Armuth, ſchlechte Erziehung,<lb/> Entführtwerden, unter Räuber, Landſtreicher Gerathen u. dergl. Der<lb/> Ausgang iſt entweder glücklich oder unglücklich; der unglückliche kann eine<lb/> zum Mitleid hinreißende Brechung einer weniger energiſchen, etwa weib-<lb/> lichen Natur ſein (Mignon); wer aber tüchtige Anlagen hat, von dem<lb/> fordern wir, daß er ſich durchreiße oder groß endige, die Hemmungen<lb/> ſelbſt erziehen ihn, der verkommene Mann iſt kein tragiſches Bild.<lb/> Komiſch iſt eine Brechung, von deren ganzem innerem Unglück abgeſehen<lb/> wird oder die zu ſolchem nicht geführt hat, wie z. B. wenn ein natürlich<lb/> Feiger Soldat werden mußte u. dergl.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Die Liebe iſt als Ergänzung des Geſchlechtsmenſchen zum<lb/> Gattungsmenſchen natürlich ein weſentliches Förderungs-, durch ihre beſondere<lb/> Colliſionsfähigkeit ein ebenſo großes Hemmungs-Mittel. Die Freundſchaft<lb/> hat nicht den Reiz, das Verlangen der Aufhebung des Geſchlechtsgegenſatzes<lb/> zur Grundlage und doch iſt ihr geiſtiger Kern weſentlich durch das äſthetiſch<lb/> lebendige Element der unmittelbaren Neigung und Sympathie vermittelt.<lb/> Dieſer geiſtige Kern aber iſt Gleichheit oder wenigſtens Verwandtſchaft<lb/> der Geſinnungen, der Beſtrebungen bei ungleichem Naturell, wodurch<lb/> gegenſeitige Ergänzung bedingt iſt. Die Gewißheit des gleichen Strebens<lb/> beruhigt im Gewirre der Welt, die wechſelnde Ungleichheit des Fortſchritts<lb/> iſt anregender Sporn. Nur dem männlichen Geſchlechte gehört die Freund-<lb/> ſchaft, denn das Weib hat nicht Allgemeinheit der Beſtrebungen und ſoll<lb/> erſt durch den Mann, dem ihr ganzes Weſen gehört, zum Charakter<lb/> werden; dann iſt ſie ihm auch Freundin, aber der Geſchlechtsreiz gibt<lb/> immer dem Verhältniſſe ſeinen Ton. Mädchenfreundſchaften hören auf<lb/> mit der Brautſchaft. Böſe und geiſtig todte Männer können nicht Freunde<lb/> ſein, denn ſie haben nichts auszutauſchen. Die Freundſchaft hat nun dem<lb/> Geſagten gemäß das Eigenthümliche, daß ihr Weſen, wenn man ſie<lb/> betrachtet, immer über ſie ſelbſt hinaustreibt. Was in ihr vereinigt,<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [200/0212]
wo denn im letzteren Sinne gleichgiltiger wird, was das Individuum
treibt und im Speciellen unternimmt. Es kommt dabei auf die Sphäre
an, in der ein Charakter auftritt oder ſich bilden ſoll: Privatleben oder
Staat. Von den Colliſionen des Bildungswegs nun dürfen wir nur
einige andeuten: Ungewißheit des Individuums über ſeine eigene Beſtim-
mung inmitten der unendlichen ihm offen liegenden Kreiſe; Täuſchungen
darüber (Wilh. Meiſter). Täuſchungen über das objectiv Wahre, Irr-
thümer; die tüchtige Natur ſucht und findet durch ſie ihren Weg. Aeußere
Hemmniſſe: Zuſtand des Volks im Widerſpruche mit dem Drang des
Einzelnen, z. B. Drang der Tapferkeit oder der Wahrheit in einem
unterdrückten Volke. Einrichtung der Geſellſchaft, die dem Strebenden
irrationelle Schranken ſetzt, ihm den Uebertritt in einen gewiſſen Stand
verſperrt, Standesvorurtheile der Eltern, Armuth, ſchlechte Erziehung,
Entführtwerden, unter Räuber, Landſtreicher Gerathen u. dergl. Der
Ausgang iſt entweder glücklich oder unglücklich; der unglückliche kann eine
zum Mitleid hinreißende Brechung einer weniger energiſchen, etwa weib-
lichen Natur ſein (Mignon); wer aber tüchtige Anlagen hat, von dem
fordern wir, daß er ſich durchreiße oder groß endige, die Hemmungen
ſelbſt erziehen ihn, der verkommene Mann iſt kein tragiſches Bild.
Komiſch iſt eine Brechung, von deren ganzem innerem Unglück abgeſehen
wird oder die zu ſolchem nicht geführt hat, wie z. B. wenn ein natürlich
Feiger Soldat werden mußte u. dergl.
2. Die Liebe iſt als Ergänzung des Geſchlechtsmenſchen zum
Gattungsmenſchen natürlich ein weſentliches Förderungs-, durch ihre beſondere
Colliſionsfähigkeit ein ebenſo großes Hemmungs-Mittel. Die Freundſchaft
hat nicht den Reiz, das Verlangen der Aufhebung des Geſchlechtsgegenſatzes
zur Grundlage und doch iſt ihr geiſtiger Kern weſentlich durch das äſthetiſch
lebendige Element der unmittelbaren Neigung und Sympathie vermittelt.
Dieſer geiſtige Kern aber iſt Gleichheit oder wenigſtens Verwandtſchaft
der Geſinnungen, der Beſtrebungen bei ungleichem Naturell, wodurch
gegenſeitige Ergänzung bedingt iſt. Die Gewißheit des gleichen Strebens
beruhigt im Gewirre der Welt, die wechſelnde Ungleichheit des Fortſchritts
iſt anregender Sporn. Nur dem männlichen Geſchlechte gehört die Freund-
ſchaft, denn das Weib hat nicht Allgemeinheit der Beſtrebungen und ſoll
erſt durch den Mann, dem ihr ganzes Weſen gehört, zum Charakter
werden; dann iſt ſie ihm auch Freundin, aber der Geſchlechtsreiz gibt
immer dem Verhältniſſe ſeinen Ton. Mädchenfreundſchaften hören auf
mit der Brautſchaft. Böſe und geiſtig todte Männer können nicht Freunde
ſein, denn ſie haben nichts auszutauſchen. Die Freundſchaft hat nun dem
Geſagten gemäß das Eigenthümliche, daß ihr Weſen, wenn man ſie
betrachtet, immer über ſie ſelbſt hinaustreibt. Was in ihr vereinigt,
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