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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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annehmen, Erregbarkeit: sanguinisch (leichtblütig), Abspannung: melancho-
lisch (schwerblütig), und zwei der Thätigkeit, nämlich intensiv: cholerisch
(warmblütig), remissiv: phlegmatisch (kaltblütig); man mag allgemeiner
ein ruhendes, an sich haltendes mit zwei Formen, einer starren, harten
und einer tiefen, die Eindrücke in sich hereinnehmenden und innerlich
verarbeitenden, von einem lebhaften und thätigen mit den zwei Formen:
der Beweglichkeit ohne Sammlung und Nachdruck und der straff gespannten,
stetigen Thätigkeit unterscheiden: dort phlegmatisch und melancholisch, hier
sanguinisch und cholerisch; man mag vielleicht am passendsten die Tempera-
mente mit Wirth (System der specul. Ethik Thl. 2. S. 22) so ableiten:
"das Temperament ist die singuläre Bestimmtheit des Gemüths oder die,
indeß auch dem geistigen Produciren seinen eigenthümlichen Trieb gebende,
durch die ganze Natur bestimmte Weise des Gemüths, von der Objekti-
vität afficirt zu werden, sich in ihr unmittelbar zu fühlen und auf sie
zurückzuwirken. Dieses Verhalten ist das dreifache, in allseitiger Rezep-
tivität für die Objectivität offen zu sein, sodann aus dieser Objectivität
in die Tiefe der Innerlichkeit sich zu reflectiren, endlich aus dieser Inner-
lichkeit zurückzuwirken auf die Welt (sanguinisch, melancholisch, cholerisch),
und nur noch ein viertes Temperament ist denkbar, in welchem jene
Gegensätze zur gleichmäßigen Indifferenz der Subjectivität und Objectivität
gebunden sind, das phlegmatische." Wirth beweist hierauf, daß jedes
Temperament auch die andern enthält, also eine relative Totalität ist;
der Phlegmatiker, der Melancholiker kann natürlich auch zürnen, aber
sein Zorn ist anders, als der des Cholerikers u. s. w. Das Wesentliche
ist aber nun, daß diese Totalität in jedem eine andere, daß die Mischung
in den Individuen von unendlicher Eigenheit ist. Ein bestimmtes Tem-
perament wird zwar -- innerhalb des Spielraums, den das, an sich
schon entschiedene, Volkstemperament läßt -- in Jedem hervorstechen,
aber die übrigen, die gebunden im Hintergrund bleiben, werden unendliche
Proportionen unter sich und zu dem hervorstechenden eingehen, ebenso
wie aus den einfachen Formen des Gesichts so unendliche Zusammen-
stellungen werden, daß Keiner dem Andern gleich sieht. Der Melancholiker
Hamlet zürnt cholerisch auf sein Phlegma und bricht in sanguinische
Freude über die gelungene Finte gegen den König aus; so wird jeder
Melancholiker auch cholerisch; phlegmatisch, sanguinisch sein, aber jeder
auf andere Weise. Kant läugnet jede Mischung verschiedener Tempera-
mente, weil er nicht begreift, daß jede Persönlichkeit wesentlich eine Con-
cretion von Widersprüchen ist. Sonst entständen die planen Charaktere,
welche in der falschen Kunst zu finden sind und von der Natur beschämt
werden. Treffliche Beispiele von Behandlung des Temperaments sind
außer Hamlet der Choleriker Percy, der Sanguiniker Egmont, der

annehmen, Erregbarkeit: ſanguiniſch (leichtblütig), Abſpannung: melancho-
liſch (ſchwerblütig), und zwei der Thätigkeit, nämlich intenſiv: choleriſch
(warmblütig), remiſſiv: phlegmatiſch (kaltblütig); man mag allgemeiner
ein ruhendes, an ſich haltendes mit zwei Formen, einer ſtarren, harten
und einer tiefen, die Eindrücke in ſich hereinnehmenden und innerlich
verarbeitenden, von einem lebhaften und thätigen mit den zwei Formen:
der Beweglichkeit ohne Sammlung und Nachdruck und der ſtraff geſpannten,
ſtetigen Thätigkeit unterſcheiden: dort phlegmatiſch und melancholiſch, hier
ſanguiniſch und choleriſch; man mag vielleicht am paſſendſten die Tempera-
mente mit Wirth (Syſtem der ſpecul. Ethik Thl. 2. S. 22) ſo ableiten:
„das Temperament iſt die ſinguläre Beſtimmtheit des Gemüths oder die,
indeß auch dem geiſtigen Produciren ſeinen eigenthümlichen Trieb gebende,
durch die ganze Natur beſtimmte Weiſe des Gemüths, von der Objekti-
vität afficirt zu werden, ſich in ihr unmittelbar zu fühlen und auf ſie
zurückzuwirken. Dieſes Verhalten iſt das dreifache, in allſeitiger Rezep-
tivität für die Objectivität offen zu ſein, ſodann aus dieſer Objectivität
in die Tiefe der Innerlichkeit ſich zu reflectiren, endlich aus dieſer Inner-
lichkeit zurückzuwirken auf die Welt (ſanguiniſch, melancholiſch, choleriſch),
und nur noch ein viertes Temperament iſt denkbar, in welchem jene
Gegenſätze zur gleichmäßigen Indifferenz der Subjectivität und Objectivität
gebunden ſind, das phlegmatiſche.“ Wirth beweist hierauf, daß jedes
Temperament auch die andern enthält, alſo eine relative Totalität iſt;
der Phlegmatiker, der Melancholiker kann natürlich auch zürnen, aber
ſein Zorn iſt anders, als der des Cholerikers u. ſ. w. Das Weſentliche
iſt aber nun, daß dieſe Totalität in jedem eine andere, daß die Miſchung
in den Individuen von unendlicher Eigenheit iſt. Ein beſtimmtes Tem-
perament wird zwar — innerhalb des Spielraums, den das, an ſich
ſchon entſchiedene, Volkstemperament läßt — in Jedem hervorſtechen,
aber die übrigen, die gebunden im Hintergrund bleiben, werden unendliche
Proportionen unter ſich und zu dem hervorſtechenden eingehen, ebenſo
wie aus den einfachen Formen des Geſichts ſo unendliche Zuſammen-
ſtellungen werden, daß Keiner dem Andern gleich ſieht. Der Melancholiker
Hamlet zürnt choleriſch auf ſein Phlegma und bricht in ſanguiniſche
Freude über die gelungene Finte gegen den König aus; ſo wird jeder
Melancholiker auch choleriſch; phlegmatiſch, ſanguiniſch ſein, aber jeder
auf andere Weiſe. Kant läugnet jede Miſchung verſchiedener Tempera-
mente, weil er nicht begreift, daß jede Perſönlichkeit weſentlich eine Con-
cretion von Widerſprüchen iſt. Sonſt entſtänden die planen Charaktere,
welche in der falſchen Kunſt zu finden ſind und von der Natur beſchämt
werden. Treffliche Beiſpiele von Behandlung des Temperaments ſind
außer Hamlet der Choleriker Percy, der Sanguiniker Egmont, der

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[194/0206] annehmen, Erregbarkeit: ſanguiniſch (leichtblütig), Abſpannung: melancho- liſch (ſchwerblütig), und zwei der Thätigkeit, nämlich intenſiv: choleriſch (warmblütig), remiſſiv: phlegmatiſch (kaltblütig); man mag allgemeiner ein ruhendes, an ſich haltendes mit zwei Formen, einer ſtarren, harten und einer tiefen, die Eindrücke in ſich hereinnehmenden und innerlich verarbeitenden, von einem lebhaften und thätigen mit den zwei Formen: der Beweglichkeit ohne Sammlung und Nachdruck und der ſtraff geſpannten, ſtetigen Thätigkeit unterſcheiden: dort phlegmatiſch und melancholiſch, hier ſanguiniſch und choleriſch; man mag vielleicht am paſſendſten die Tempera- mente mit Wirth (Syſtem der ſpecul. Ethik Thl. 2. S. 22) ſo ableiten: „das Temperament iſt die ſinguläre Beſtimmtheit des Gemüths oder die, indeß auch dem geiſtigen Produciren ſeinen eigenthümlichen Trieb gebende, durch die ganze Natur beſtimmte Weiſe des Gemüths, von der Objekti- vität afficirt zu werden, ſich in ihr unmittelbar zu fühlen und auf ſie zurückzuwirken. Dieſes Verhalten iſt das dreifache, in allſeitiger Rezep- tivität für die Objectivität offen zu ſein, ſodann aus dieſer Objectivität in die Tiefe der Innerlichkeit ſich zu reflectiren, endlich aus dieſer Inner- lichkeit zurückzuwirken auf die Welt (ſanguiniſch, melancholiſch, choleriſch), und nur noch ein viertes Temperament iſt denkbar, in welchem jene Gegenſätze zur gleichmäßigen Indifferenz der Subjectivität und Objectivität gebunden ſind, das phlegmatiſche.“ Wirth beweist hierauf, daß jedes Temperament auch die andern enthält, alſo eine relative Totalität iſt; der Phlegmatiker, der Melancholiker kann natürlich auch zürnen, aber ſein Zorn iſt anders, als der des Cholerikers u. ſ. w. Das Weſentliche iſt aber nun, daß dieſe Totalität in jedem eine andere, daß die Miſchung in den Individuen von unendlicher Eigenheit iſt. Ein beſtimmtes Tem- perament wird zwar — innerhalb des Spielraums, den das, an ſich ſchon entſchiedene, Volkstemperament läßt — in Jedem hervorſtechen, aber die übrigen, die gebunden im Hintergrund bleiben, werden unendliche Proportionen unter ſich und zu dem hervorſtechenden eingehen, ebenſo wie aus den einfachen Formen des Geſichts ſo unendliche Zuſammen- ſtellungen werden, daß Keiner dem Andern gleich ſieht. Der Melancholiker Hamlet zürnt choleriſch auf ſein Phlegma und bricht in ſanguiniſche Freude über die gelungene Finte gegen den König aus; ſo wird jeder Melancholiker auch choleriſch; phlegmatiſch, ſanguiniſch ſein, aber jeder auf andere Weiſe. Kant läugnet jede Miſchung verſchiedener Tempera- mente, weil er nicht begreift, daß jede Perſönlichkeit weſentlich eine Con- cretion von Widerſprüchen iſt. Sonſt entſtänden die planen Charaktere, welche in der falſchen Kunſt zu finden ſind und von der Natur beſchämt werden. Treffliche Beiſpiele von Behandlung des Temperaments ſind außer Hamlet der Choleriker Percy, der Sanguiniker Egmont, der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/206>, abgerufen am 23.11.2024.