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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Aussicht Raum, daß der Staat von der Höhe der Reflexionsbildung das
wieder in sich aufnehmen werde, was am Natur-Staate schön ist, die
Anschaulichkeit, die unmittelbare Lebendigkeit. Darauf müssen wir am
Schlusse der kurzen Uebersicht der geschichtlichen Staatsformen, die wir
demnächst zu geben haben, zurückkommen. Ein Zustand, der nun
aber jedenfalls unserer ästhetischen Forderung noch ganz entspricht, und
welcher als ein vorgeschichtlicher hier, wo wir noch nicht auf die concrete
Geschichte eingehen, aufgeführt werden muß, ist der patriarchalische und
heroische. Der patriarchalische Zustand ist in seiner kindlichen Einfalt und
Ursprünglichkeit rührend und ehrwürdig, "Patriarchenluft" ist erfrischend
wie Sonnen-Aufgang. Diese erweiterte Familienform reicht natürlich nicht
aus, sobald einige Verwicklung nach innen und außen eintritt; es ist
daher eine stille, friedliche, dem Hirtenleben, den Anfängen des Ackerbaus
entsprechende Form. Die Geschichte der Erzväter im A. T. ist eine Reihe
der gesundesten, markigsten, sonnigsten Bilder. Der heroische Zustand ist
zunächst der Uebergang aus dieser Urform zur Monarchie. Mehrere kleine
Herren, die zu ihrem Volke selbst in einem mehr patriarchalischen Ver-
hältniß stehen, ordnen sich unter einen größeren, dem bedeutendere Herr-
schaft und Persönlichkeit das Ansehen gibt. Der Verband ist aber frei,
Gesetz, Ordnung, Recht nicht in abstracten Normen durchgeführt, sondern
die einzelnen Herrscher, wie der höhere, haben in jedem Augenblicke sich
durch ihre lebendige Persönlichkeit erst Gehorsam zu verschaffen und sind
selbst die einzige, die lebendige Form, worin das Allgemeine besteht, daher
auch ihre gegenseitige Unterordnung eine durchaus lockere ist, woneben
sich jeder die freieste Willkühr vorbehält. Die gewaltige Persönlichkeit
hilft sich selbst, ist selbst Recht, Polizei, Gesetz. Hier ist freier Spielraum
für das Gute und für das Böse. Die unmittelbare Sittlichkeit dieses
Lebens übt die schönsten Thaten, aber keine äußere Macht hindert den
ungebrochenen Sturz der Leidenschaft in blutige und entsetzliche Verbrechen,
die kein Gerichtshof und kein verhörender Beamter, die nur die Rache,
welche selbst die Strafe in der unmittelbaren Naturform ist, vergilt.
Die Cardinaltugend ist Tapferkeit; es sind die liebenswürdigen Flegeljahre
der Völker. Die Culturformen sind eben die in §. 327 geforderten; die
erste Nothdurft ist befriedigt, der heitere Schmuck und Ueberfluß legt sich,
aber noch einfach und lebendig, um das Nothwendige. Die Stände fangen
an sich zu trennen, aber noch ist keine Spur von verhärtender Theilung
der Geschäfte. Alle Gunst für das Schöne, die in diesem Zustande liegt,
braucht nach der liebevollen Darstellung Hegels (Aesth. 1, 230 ff.)
keine weitere Ausführung.


Ausſicht Raum, daß der Staat von der Höhe der Reflexionsbildung das
wieder in ſich aufnehmen werde, was am Natur-Staate ſchön iſt, die
Anſchaulichkeit, die unmittelbare Lebendigkeit. Darauf müſſen wir am
Schluſſe der kurzen Ueberſicht der geſchichtlichen Staatsformen, die wir
demnächſt zu geben haben, zurückkommen. Ein Zuſtand, der nun
aber jedenfalls unſerer äſthetiſchen Forderung noch ganz entſpricht, und
welcher als ein vorgeſchichtlicher hier, wo wir noch nicht auf die concrete
Geſchichte eingehen, aufgeführt werden muß, iſt der patriarchaliſche und
heroiſche. Der patriarchaliſche Zuſtand iſt in ſeiner kindlichen Einfalt und
Urſprünglichkeit rührend und ehrwürdig, „Patriarchenluft“ iſt erfriſchend
wie Sonnen-Aufgang. Dieſe erweiterte Familienform reicht natürlich nicht
aus, ſobald einige Verwicklung nach innen und außen eintritt; es iſt
daher eine ſtille, friedliche, dem Hirtenleben, den Anfängen des Ackerbaus
entſprechende Form. Die Geſchichte der Erzväter im A. T. iſt eine Reihe
der geſundeſten, markigſten, ſonnigſten Bilder. Der heroiſche Zuſtand iſt
zunächſt der Uebergang aus dieſer Urform zur Monarchie. Mehrere kleine
Herren, die zu ihrem Volke ſelbſt in einem mehr patriarchaliſchen Ver-
hältniß ſtehen, ordnen ſich unter einen größeren, dem bedeutendere Herr-
ſchaft und Perſönlichkeit das Anſehen gibt. Der Verband iſt aber frei,
Geſetz, Ordnung, Recht nicht in abſtracten Normen durchgeführt, ſondern
die einzelnen Herrſcher, wie der höhere, haben in jedem Augenblicke ſich
durch ihre lebendige Perſönlichkeit erſt Gehorſam zu verſchaffen und ſind
ſelbſt die einzige, die lebendige Form, worin das Allgemeine beſteht, daher
auch ihre gegenſeitige Unterordnung eine durchaus lockere iſt, woneben
ſich jeder die freieſte Willkühr vorbehält. Die gewaltige Perſönlichkeit
hilft ſich ſelbſt, iſt ſelbſt Recht, Polizei, Geſetz. Hier iſt freier Spielraum
für das Gute und für das Böſe. Die unmittelbare Sittlichkeit dieſes
Lebens übt die ſchönſten Thaten, aber keine äußere Macht hindert den
ungebrochenen Sturz der Leidenſchaft in blutige und entſetzliche Verbrechen,
die kein Gerichtshof und kein verhörender Beamter, die nur die Rache,
welche ſelbſt die Strafe in der unmittelbaren Naturform iſt, vergilt.
Die Cardinaltugend iſt Tapferkeit; es ſind die liebenswürdigen Flegeljahre
der Völker. Die Culturformen ſind eben die in §. 327 geforderten; die
erſte Nothdurft iſt befriedigt, der heitere Schmuck und Ueberfluß legt ſich,
aber noch einfach und lebendig, um das Nothwendige. Die Stände fangen
an ſich zu trennen, aber noch iſt keine Spur von verhärtender Theilung
der Geſchäfte. Alle Gunſt für das Schöne, die in dieſem Zuſtande liegt,
braucht nach der liebevollen Darſtellung Hegels (Aeſth. 1, 230 ff.)
keine weitere Ausführung.


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[188/0200] Ausſicht Raum, daß der Staat von der Höhe der Reflexionsbildung das wieder in ſich aufnehmen werde, was am Natur-Staate ſchön iſt, die Anſchaulichkeit, die unmittelbare Lebendigkeit. Darauf müſſen wir am Schluſſe der kurzen Ueberſicht der geſchichtlichen Staatsformen, die wir demnächſt zu geben haben, zurückkommen. Ein Zuſtand, der nun aber jedenfalls unſerer äſthetiſchen Forderung noch ganz entſpricht, und welcher als ein vorgeſchichtlicher hier, wo wir noch nicht auf die concrete Geſchichte eingehen, aufgeführt werden muß, iſt der patriarchaliſche und heroiſche. Der patriarchaliſche Zuſtand iſt in ſeiner kindlichen Einfalt und Urſprünglichkeit rührend und ehrwürdig, „Patriarchenluft“ iſt erfriſchend wie Sonnen-Aufgang. Dieſe erweiterte Familienform reicht natürlich nicht aus, ſobald einige Verwicklung nach innen und außen eintritt; es iſt daher eine ſtille, friedliche, dem Hirtenleben, den Anfängen des Ackerbaus entſprechende Form. Die Geſchichte der Erzväter im A. T. iſt eine Reihe der geſundeſten, markigſten, ſonnigſten Bilder. Der heroiſche Zuſtand iſt zunächſt der Uebergang aus dieſer Urform zur Monarchie. Mehrere kleine Herren, die zu ihrem Volke ſelbſt in einem mehr patriarchaliſchen Ver- hältniß ſtehen, ordnen ſich unter einen größeren, dem bedeutendere Herr- ſchaft und Perſönlichkeit das Anſehen gibt. Der Verband iſt aber frei, Geſetz, Ordnung, Recht nicht in abſtracten Normen durchgeführt, ſondern die einzelnen Herrſcher, wie der höhere, haben in jedem Augenblicke ſich durch ihre lebendige Perſönlichkeit erſt Gehorſam zu verſchaffen und ſind ſelbſt die einzige, die lebendige Form, worin das Allgemeine beſteht, daher auch ihre gegenſeitige Unterordnung eine durchaus lockere iſt, woneben ſich jeder die freieſte Willkühr vorbehält. Die gewaltige Perſönlichkeit hilft ſich ſelbſt, iſt ſelbſt Recht, Polizei, Geſetz. Hier iſt freier Spielraum für das Gute und für das Böſe. Die unmittelbare Sittlichkeit dieſes Lebens übt die ſchönſten Thaten, aber keine äußere Macht hindert den ungebrochenen Sturz der Leidenſchaft in blutige und entſetzliche Verbrechen, die kein Gerichtshof und kein verhörender Beamter, die nur die Rache, welche ſelbſt die Strafe in der unmittelbaren Naturform iſt, vergilt. Die Cardinaltugend iſt Tapferkeit; es ſind die liebenswürdigen Flegeljahre der Völker. Die Culturformen ſind eben die in §. 327 geforderten; die erſte Nothdurft iſt befriedigt, der heitere Schmuck und Ueberfluß legt ſich, aber noch einfach und lebendig, um das Nothwendige. Die Stände fangen an ſich zu trennen, aber noch iſt keine Spur von verhärtender Theilung der Geſchäfte. Alle Gunſt für das Schöne, die in dieſem Zuſtande liegt, braucht nach der liebevollen Darſtellung Hegels (Aeſth. 1, 230 ff.) keine weitere Ausführung.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/200>, abgerufen am 27.11.2024.