Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.
unter den Standpunkt des unbewußten Lebens gerückt wird." Eben die 2. Die Tracht der von der Natur hart gebetteten Völker ist steif,
unter den Standpunkt des unbewußten Lebens gerückt wird.“ Eben die 2. Die Tracht der von der Natur hart gebetteten Völker iſt ſteif, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0196" n="184"/> unter den Standpunkt des unbewußten Lebens gerückt wird.“ Eben die<lb/> Formen, die wir hier verlangen, drücken freudige Leichtigkeit der Menſchen-<lb/> würde aus, aber ſie ſind zugleich noch naiv, nicht mit Reflexion gewählt,<lb/> wie von der Mode, ſondern ein Müßen, man weiß es nicht anders, man<lb/> lebt mit der Natur, die der Meiſterhand willig gehorcht, vertraulich, wie<lb/> mit einem Freunde, man iſt ſelbſt noch Natur. Hierauf folgt aber unauf-<lb/> haltſam die trennende, verſtändige Bildung und macht die Formen<lb/> unlebendig, maſchinenmäßig, naturlos. Dieſer Bildung können ſich auch<lb/> die naturwüchſig gebildeten Völker in die Länge nicht entziehen, natürlich<lb/> aber tritt ſie am ſchnellſten bei den Völkern ein, die eine karge Natur<lb/> haben, am ſpäteſten folgen die verſchwenderiſch von der Natur begünſtigten.<lb/> Es fragt ſich nun, ob nicht auf ſolche von der Lebendigkeit ausgeſchiedene,<lb/> zum Mechanismus herabgeſetzte Formen der zweite der in §. 23, <hi rendition="#sub">2</hi>.<lb/> genannten Standpunkte anwendbar ſei: „oder wenn die bloß äußern<lb/> Zwecke als fördernde Momente in eine erfüllte Einheit mit den Selbſt-<lb/> zwecken unter dem Standpunkte des höchſten Gutes zuſammenbegriffen<lb/> werden“; gemeinfaßlich ausgedrückt: es fragt ſich, ob nicht auch z. B.<lb/> eine Eiſenbahn oder ein Dampfſchiff, das doch neben dem windbeſeelten<lb/> Segelſchiff ſo mechaniſch ausſieht, äſthetiſch erſcheine, wenn man bedenkt,<lb/> wie viel dadurch Zeit für Wichtigeres gewonnen wird? Man wird ſo<lb/> antworten dürfen: wenn nur die maſchinenmäßige Form nicht gar zu<lb/> dürftig iſt, wie denn das Brauſen des Dampfwagens, das Rauſchen des<lb/> Dampfſchiffs mit den ſchäumenden Schaufeln immer noch einen energiſchen<lb/> Eindruck macht, ſo kann die weite Ausſicht, welche ſich mit der Vorſtellung<lb/> unendlichen Verkehrs durch beſchleunigte Mittel verbindet, für das Verlorene<lb/> entſchädigen. So iſt ein Stapelplatz zunächſt ein äſthetiſch dürftiger Anblick,<lb/> aber er wird ſehr bedeutend, ſofern er das Bild des großen Austauſchs<lb/> ferner Zonen und all der Bildung, all des Wohlſtands erweckt, welchen<lb/> er begründet. (Stelle im W. Meiſter).</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Die <hi rendition="#g">Tracht</hi> der von der Natur hart gebetteten Völker iſt ſteif,<lb/> hart, verbergend, die der Völker heißer Zone läßt den Körper faſt nackt;<lb/> beide aber ſchweifen ebenſoſehr in lebhaften, ja überladenen Putz, aben-<lb/> theuerliche Pracht aus. Das Mittelalter, ſeit ſein Geſchmack durch die<lb/> nördlichen Völker beſtimmt wurde, welche Bein und Arm in Hoſen und<lb/> Aermel hüllten, wodurch erſt für die übrigen Theile der Kleidung ein<lb/> größerer Spielraum der Willkühr entſtand, liebte die grellſte Farben-<lb/> verbindung, die bunteſte Mannigfaltigkeit der Schnitte, Verſchnürungen<lb/> u. ſ. w.; der Orient pflegte neben der Nacktheit immer verhüllende Pracht<lb/> bis zur Ueberladung. Griechen und Römer beſaßen die ſchöne Mitte<lb/> zwiſchen Nacktheit und Bedeckung, zwiſchen dem Genähten, was dem Leibe<lb/> folgt, und dem Freien, was in jedem Augenblicke getragen, drapirt ſein will;<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [184/0196]
unter den Standpunkt des unbewußten Lebens gerückt wird.“ Eben die
Formen, die wir hier verlangen, drücken freudige Leichtigkeit der Menſchen-
würde aus, aber ſie ſind zugleich noch naiv, nicht mit Reflexion gewählt,
wie von der Mode, ſondern ein Müßen, man weiß es nicht anders, man
lebt mit der Natur, die der Meiſterhand willig gehorcht, vertraulich, wie
mit einem Freunde, man iſt ſelbſt noch Natur. Hierauf folgt aber unauf-
haltſam die trennende, verſtändige Bildung und macht die Formen
unlebendig, maſchinenmäßig, naturlos. Dieſer Bildung können ſich auch
die naturwüchſig gebildeten Völker in die Länge nicht entziehen, natürlich
aber tritt ſie am ſchnellſten bei den Völkern ein, die eine karge Natur
haben, am ſpäteſten folgen die verſchwenderiſch von der Natur begünſtigten.
Es fragt ſich nun, ob nicht auf ſolche von der Lebendigkeit ausgeſchiedene,
zum Mechanismus herabgeſetzte Formen der zweite der in §. 23, 2.
genannten Standpunkte anwendbar ſei: „oder wenn die bloß äußern
Zwecke als fördernde Momente in eine erfüllte Einheit mit den Selbſt-
zwecken unter dem Standpunkte des höchſten Gutes zuſammenbegriffen
werden“; gemeinfaßlich ausgedrückt: es fragt ſich, ob nicht auch z. B.
eine Eiſenbahn oder ein Dampfſchiff, das doch neben dem windbeſeelten
Segelſchiff ſo mechaniſch ausſieht, äſthetiſch erſcheine, wenn man bedenkt,
wie viel dadurch Zeit für Wichtigeres gewonnen wird? Man wird ſo
antworten dürfen: wenn nur die maſchinenmäßige Form nicht gar zu
dürftig iſt, wie denn das Brauſen des Dampfwagens, das Rauſchen des
Dampfſchiffs mit den ſchäumenden Schaufeln immer noch einen energiſchen
Eindruck macht, ſo kann die weite Ausſicht, welche ſich mit der Vorſtellung
unendlichen Verkehrs durch beſchleunigte Mittel verbindet, für das Verlorene
entſchädigen. So iſt ein Stapelplatz zunächſt ein äſthetiſch dürftiger Anblick,
aber er wird ſehr bedeutend, ſofern er das Bild des großen Austauſchs
ferner Zonen und all der Bildung, all des Wohlſtands erweckt, welchen
er begründet. (Stelle im W. Meiſter).
2. Die Tracht der von der Natur hart gebetteten Völker iſt ſteif,
hart, verbergend, die der Völker heißer Zone läßt den Körper faſt nackt;
beide aber ſchweifen ebenſoſehr in lebhaften, ja überladenen Putz, aben-
theuerliche Pracht aus. Das Mittelalter, ſeit ſein Geſchmack durch die
nördlichen Völker beſtimmt wurde, welche Bein und Arm in Hoſen und
Aermel hüllten, wodurch erſt für die übrigen Theile der Kleidung ein
größerer Spielraum der Willkühr entſtand, liebte die grellſte Farben-
verbindung, die bunteſte Mannigfaltigkeit der Schnitte, Verſchnürungen
u. ſ. w.; der Orient pflegte neben der Nacktheit immer verhüllende Pracht
bis zur Ueberladung. Griechen und Römer beſaßen die ſchöne Mitte
zwiſchen Nacktheit und Bedeckung, zwiſchen dem Genähten, was dem Leibe
folgt, und dem Freien, was in jedem Augenblicke getragen, drapirt ſein will;
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