Gepräge des Verstandes trägt. In der weiblichen Gestalt dagegen herrscht freiere Fülle des Stoffs. In ununterbrochener Thätigkeit der Umrisse scheint ein Theil aus dem andern gleichsam auszufließen. Das Ganze verkündigt die Geschlechtsbestimmtheit des Empfangens und die liberalere Herrschaft des Geistes in der Form des Gefühls. Die trefflichen Bemer- kungen gehen nur zu wenig auf die einzelnen Formen ein. Die ganze weibliche Gestalt ist vor Allem wesentlich durch das Becken und die dadurch gegebene Breite der Hüfte bestimmt. Daher müßen sich die aus- gebogenen Schenkel gegen das Knie hin wieder einbiegen und von da biegt sich das Schienbein sanft wieder aus. Ueber der breiten Hüfte erscheint die Taille doppelt schlank; die Brust durfte sich, da so viel Stoff an die Hüfte abgegeben war, nicht mächtig ausbilden und die Brüste sprechen die Bestimmung zum Säugen wie die Hüfte die zum Empfangen, Schwangergehen und Gebären aus. Die Schulter hat daher einen schnelleren Fall; auf dem schlankeren und längeren Halse ruht der sanfter, mit niedrigerer Stirn gebildete Kopf. Die ernährende Thätigkeit, bestimmt, in leichtem Säftelauf den empfangenen Keim zu speisen, setzt überall das reichere Fett ab und vermittelt so jeden Uebergang durch sanft schwellende Hügel, Rundungen, Einsenkungen. Durch diesen herrschenden Ausdruck der Geschlechtsbestimmung ist das Weib ungleich mehr Naturwesen, als der Mann mit der höheren Stirn, den schärferen Zügen, den stärkeren, eckiger abstehenden Schultern, der breiten Brust, der schmäleren Hüfte, den geraden Beinen; er erscheint durch seine Geschlechtstheile zum Zeugen, durch das Gepräge seiner ganzen Gestalt aber zum freien Handeln, zur Allgemeinheit des geistigen Zwecks bestimmt. Das Weib gleicht den Element-Thieren, der Mann den freieren Landthieren. In dieser Natur- bestimmtheit des Weibs gibt sich die Form ihres geistigen Lebens ihren Ausdruck; diese ist Geist in ahnenden Instinct eingehüllt, geistiges Tasten; die Entgegensetzung von Subject und Object wird nicht mit vollem Bewußtsein vollzogen, daher ist das Weib subjectiver, weil sie im wogen- den Gefühlsleben sich und die Dinge nicht streng zu scheiden vermag, sie ist objectiver, weil sie ebendadurch noch zu der Natur gehört, der sie sich nicht mit dem inneren Bruche der freien und kämpfenden Persönlichkeit gegenüberstellt. Fragt man, welches von beiden Geschlechtern schöner sei, so muß man sich wohl hüten, den stoffartigen Reiz in Rechnung zu nehmen, der jedes Geschlecht dem andern als das schönere erscheinen läßt. W. von Humboldt sagt, die männliche Bildung befriedige sichtbarer durch Richtigkeit der Verhältnisse die Anforderungen der Kunst, der Künstler müße damit anfangen; erst später könne er auch die Noth- wendigkeit im weiblichen Körper fühlen, dieser sei schwerer, denn er sei gesetzmäßig und doch sei der Schein der Gesetzmäßigkeit zu vermeiden;
Gepräge des Verſtandes trägt. In der weiblichen Geſtalt dagegen herrſcht freiere Fülle des Stoffs. In ununterbrochener Thätigkeit der Umriſſe ſcheint ein Theil aus dem andern gleichſam auszufließen. Das Ganze verkündigt die Geſchlechtsbeſtimmtheit des Empfangens und die liberalere Herrſchaft des Geiſtes in der Form des Gefühls. Die trefflichen Bemer- kungen gehen nur zu wenig auf die einzelnen Formen ein. Die ganze weibliche Geſtalt iſt vor Allem weſentlich durch das Becken und die dadurch gegebene Breite der Hüfte beſtimmt. Daher müßen ſich die aus- gebogenen Schenkel gegen das Knie hin wieder einbiegen und von da biegt ſich das Schienbein ſanft wieder aus. Ueber der breiten Hüfte erſcheint die Taille doppelt ſchlank; die Bruſt durfte ſich, da ſo viel Stoff an die Hüfte abgegeben war, nicht mächtig ausbilden und die Brüſte ſprechen die Beſtimmung zum Säugen wie die Hüfte die zum Empfangen, Schwangergehen und Gebären aus. Die Schulter hat daher einen ſchnelleren Fall; auf dem ſchlankeren und längeren Halſe ruht der ſanfter, mit niedrigerer Stirn gebildete Kopf. Die ernährende Thätigkeit, beſtimmt, in leichtem Säftelauf den empfangenen Keim zu ſpeiſen, ſetzt überall das reichere Fett ab und vermittelt ſo jeden Uebergang durch ſanft ſchwellende Hügel, Rundungen, Einſenkungen. Durch dieſen herrſchenden Ausdruck der Geſchlechtsbeſtimmung iſt das Weib ungleich mehr Naturweſen, als der Mann mit der höheren Stirn, den ſchärferen Zügen, den ſtärkeren, eckiger abſtehenden Schultern, der breiten Bruſt, der ſchmäleren Hüfte, den geraden Beinen; er erſcheint durch ſeine Geſchlechtstheile zum Zeugen, durch das Gepräge ſeiner ganzen Geſtalt aber zum freien Handeln, zur Allgemeinheit des geiſtigen Zwecks beſtimmt. Das Weib gleicht den Element-Thieren, der Mann den freieren Landthieren. In dieſer Natur- beſtimmtheit des Weibs gibt ſich die Form ihres geiſtigen Lebens ihren Ausdruck; dieſe iſt Geiſt in ahnenden Inſtinct eingehüllt, geiſtiges Taſten; die Entgegenſetzung von Subject und Object wird nicht mit vollem Bewußtſein vollzogen, daher iſt das Weib ſubjectiver, weil ſie im wogen- den Gefühlsleben ſich und die Dinge nicht ſtreng zu ſcheiden vermag, ſie iſt objectiver, weil ſie ebendadurch noch zu der Natur gehört, der ſie ſich nicht mit dem inneren Bruche der freien und kämpfenden Perſönlichkeit gegenüberſtellt. Fragt man, welches von beiden Geſchlechtern ſchöner ſei, ſo muß man ſich wohl hüten, den ſtoffartigen Reiz in Rechnung zu nehmen, der jedes Geſchlecht dem andern als das ſchönere erſcheinen läßt. W. von Humboldt ſagt, die männliche Bildung befriedige ſichtbarer durch Richtigkeit der Verhältniſſe die Anforderungen der Kunſt, der Künſtler müße damit anfangen; erſt ſpäter könne er auch die Noth- wendigkeit im weiblichen Körper fühlen, dieſer ſei ſchwerer, denn er ſei geſetzmäßig und doch ſei der Schein der Geſetzmäßigkeit zu vermeiden;
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Gepräge des Verſtandes trägt. In der weiblichen Geſtalt dagegen herrſcht
freiere Fülle des Stoffs. In ununterbrochener Thätigkeit der Umriſſe
ſcheint ein Theil aus dem andern gleichſam auszufließen. Das Ganze
verkündigt die Geſchlechtsbeſtimmtheit des Empfangens und die liberalere
Herrſchaft des Geiſtes in der Form des Gefühls. Die trefflichen Bemer-
kungen gehen nur zu wenig auf die einzelnen Formen ein. Die ganze
weibliche Geſtalt iſt vor Allem weſentlich durch das Becken und die
dadurch gegebene Breite der Hüfte beſtimmt. Daher müßen ſich die aus-
gebogenen Schenkel gegen das Knie hin wieder einbiegen und von da
biegt ſich das Schienbein ſanft wieder aus. Ueber der breiten Hüfte
erſcheint die Taille doppelt ſchlank; die Bruſt durfte ſich, da ſo viel Stoff
an die Hüfte abgegeben war, nicht mächtig ausbilden und die Brüſte
ſprechen die Beſtimmung zum Säugen wie die Hüfte die zum Empfangen,
Schwangergehen und Gebären aus. Die Schulter hat daher einen
ſchnelleren Fall; auf dem ſchlankeren und längeren Halſe ruht der ſanfter,
mit niedrigerer Stirn gebildete Kopf. Die ernährende Thätigkeit, beſtimmt,
in leichtem Säftelauf den empfangenen Keim zu ſpeiſen, ſetzt überall das
reichere Fett ab und vermittelt ſo jeden Uebergang durch ſanft ſchwellende
Hügel, Rundungen, Einſenkungen. Durch dieſen herrſchenden Ausdruck
der Geſchlechtsbeſtimmung iſt das Weib ungleich mehr Naturweſen, als
der Mann mit der höheren Stirn, den ſchärferen Zügen, den ſtärkeren,
eckiger abſtehenden Schultern, der breiten Bruſt, der ſchmäleren Hüfte,
den geraden Beinen; er erſcheint durch ſeine Geſchlechtstheile zum Zeugen,
durch das Gepräge ſeiner ganzen Geſtalt aber zum freien Handeln, zur
Allgemeinheit des geiſtigen Zwecks beſtimmt. Das Weib gleicht den
Element-Thieren, der Mann den freieren Landthieren. In dieſer Natur-
beſtimmtheit des Weibs gibt ſich die Form ihres geiſtigen Lebens ihren
Ausdruck; dieſe iſt Geiſt in ahnenden Inſtinct eingehüllt, geiſtiges Taſten;
die Entgegenſetzung von Subject und Object wird nicht mit vollem
Bewußtſein vollzogen, daher iſt das Weib ſubjectiver, weil ſie im wogen-
den Gefühlsleben ſich und die Dinge nicht ſtreng zu ſcheiden vermag, ſie
iſt objectiver, weil ſie ebendadurch noch zu der Natur gehört, der ſie ſich
nicht mit dem inneren Bruche der freien und kämpfenden Perſönlichkeit
gegenüberſtellt. Fragt man, welches von beiden Geſchlechtern ſchöner ſei,
ſo muß man ſich wohl hüten, den ſtoffartigen Reiz in Rechnung zu
nehmen, der jedes Geſchlecht dem andern als das ſchönere erſcheinen läßt.
W. von Humboldt ſagt, die männliche Bildung befriedige ſichtbarer
durch Richtigkeit der Verhältniſſe die Anforderungen der Kunſt, der
Künſtler müße damit anfangen; erſt ſpäter könne er auch die Noth-
wendigkeit im weiblichen Körper fühlen, dieſer ſei ſchwerer, denn er ſei
geſetzmäßig und doch ſei der Schein der Geſetzmäßigkeit zu vermeiden;
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/182>, abgerufen am 17.02.2025.
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