Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

Leben hineingewachsen, die erwartete Unendlichkeit hat sich beschränken
müssen, allein nur in der Beschränkung wird das Höchste erreicht; die
Idee als Persönlichkeit ist nun erst wirklich, real, ganz Gegenwart. Auf
die Hochebene dieser dauerhaften Lebensstufe folgt allmählich das Greisen-
alter. Der Körper erlahmt, vertrocknet, die Haut zieht sich in Falten,
die Sinne schwinden, der Geist wird in der Richtung, welche das Wirkliche
anfaßt, stumpfer, zieht sich aus den Kämpfen des Lebens in Ruhe, Beschau-
lichkeit, Weisheit, Rath zurück, schwebt milde über dem Leben, blickt mit
Sehnsucht in die Vergangenheit und kehrt zur Kindheit zurück wie der
Körper durch die wachsende Hilflosigkeit. Der Greis wird dadurch eine
rührende Erscheinung, doch wenn gerade die Schwäche hervortritt, wirkt
sie nur im rechten Zusammenhange gut (Lear); wir wollen auch den
Greis noch gewaltig wie Nestor, Priamus, heiter wie Anakreon,
Göthe sehen; der durchfurchte Körper mit dem weißen Haupte muß
mehr als ehrwürdige, denn als hilfsbedürftige Erscheinung wirken. Am
rechten Orte mögen aber auch die Schwächen des Greises komisch wirken
(Polonius, Capulet).

3. Krankheit: gehört freilich im Grunde unter die Uebel, die wir
als ein Häßliches, das sich in's Furchtbare oder Komische bewegen muß,
um ästhetisch zu werden, überall nicht besonders erwähnen. Aus ihr
gehen z. B. viele bleibende Entstellungen hervor, durch welche der mensch-
liche Leib ins Thierähnliche sinkt und komisch oder unheimlich wird. Es
wäre interessant, zu verfolgen, wie durch diese und aus andern Ursachen
entstandene Entstellungen das Thier aus dem Menschen schnappt, pickt,
gähnt, blöckt, rudert, wackelt u. s. w. Die Krankheit selbst wird als
unmittelbar physisches Leiden nur selten zur Anschauung kommen können
ohne Verletzung der Schönheit, selten so ergreifend wie König Johanns
Fieberhitze durch Shakespeares Künstlerhand, immer aber nur als vor-
übergehender Moment und als Wirkung oder Folge sittlicher Erscheinungen,
denn wir sind jetzt im Gebiete der Schönheit, die immer auch wirklich
geistige Bedeutung haben muß. Tod: ein Auslöschen aus Schwäche
(Götz von Berlichingen, Attinghausen) oder durch Gewalt: das Hin-
geschmettertwerden, die Wunden, wo Schuß und Hieb sicher sitzt und der
Röchelnde dumpf hinrasselt in den lang hinstreckenden Tod, hat besonders
Homer mit unnachahmlicher Naturwahrheit dargestellt. Wie weit dürfen
die Einzelnheiten, die letzten Zuckungen u. s. w. vor die Anschauung treten?
beantwortet sich aus dem, was wir überhaupt vom Häßlichen gesagt
haben. Sterbender Held von Selinunt, berühmt durch die treffliche Wieder-
gebung des Hippokratischen Gesichts. Leichnam: schön, wenn man ihm
die Charakterfurchen des Lebens neben dem entseelten Ausdrucke der
Schwere ansieht. Verschiedene Behandlung des Leichnams Christi. Die

Leben hineingewachſen, die erwartete Unendlichkeit hat ſich beſchränken
müſſen, allein nur in der Beſchränkung wird das Höchſte erreicht; die
Idee als Perſönlichkeit iſt nun erſt wirklich, real, ganz Gegenwart. Auf
die Hochebene dieſer dauerhaften Lebensſtufe folgt allmählich das Greiſen-
alter. Der Körper erlahmt, vertrocknet, die Haut zieht ſich in Falten,
die Sinne ſchwinden, der Geiſt wird in der Richtung, welche das Wirkliche
anfaßt, ſtumpfer, zieht ſich aus den Kämpfen des Lebens in Ruhe, Beſchau-
lichkeit, Weisheit, Rath zurück, ſchwebt milde über dem Leben, blickt mit
Sehnſucht in die Vergangenheit und kehrt zur Kindheit zurück wie der
Körper durch die wachſende Hilfloſigkeit. Der Greis wird dadurch eine
rührende Erſcheinung, doch wenn gerade die Schwäche hervortritt, wirkt
ſie nur im rechten Zuſammenhange gut (Lear); wir wollen auch den
Greis noch gewaltig wie Neſtor, Priamus, heiter wie Anakreon,
Göthe ſehen; der durchfurchte Körper mit dem weißen Haupte muß
mehr als ehrwürdige, denn als hilfsbedürftige Erſcheinung wirken. Am
rechten Orte mögen aber auch die Schwächen des Greiſes komiſch wirken
(Polonius, Capulet).

3. Krankheit: gehört freilich im Grunde unter die Uebel, die wir
als ein Häßliches, das ſich in’s Furchtbare oder Komiſche bewegen muß,
um äſthetiſch zu werden, überall nicht beſonders erwähnen. Aus ihr
gehen z. B. viele bleibende Entſtellungen hervor, durch welche der menſch-
liche Leib ins Thierähnliche ſinkt und komiſch oder unheimlich wird. Es
wäre intereſſant, zu verfolgen, wie durch dieſe und aus andern Urſachen
entſtandene Entſtellungen das Thier aus dem Menſchen ſchnappt, pickt,
gähnt, blöckt, rudert, wackelt u. ſ. w. Die Krankheit ſelbſt wird als
unmittelbar phyſiſches Leiden nur ſelten zur Anſchauung kommen können
ohne Verletzung der Schönheit, ſelten ſo ergreifend wie König Johanns
Fieberhitze durch Shakespeares Künſtlerhand, immer aber nur als vor-
übergehender Moment und als Wirkung oder Folge ſittlicher Erſcheinungen,
denn wir ſind jetzt im Gebiete der Schönheit, die immer auch wirklich
geiſtige Bedeutung haben muß. Tod: ein Auslöſchen aus Schwäche
(Götz von Berlichingen, Attinghauſen) oder durch Gewalt: das Hin-
geſchmettertwerden, die Wunden, wo Schuß und Hieb ſicher ſitzt und der
Röchelnde dumpf hinraſſelt in den lang hinſtreckenden Tod, hat beſonders
Homer mit unnachahmlicher Naturwahrheit dargeſtellt. Wie weit dürfen
die Einzelnheiten, die letzten Zuckungen u. ſ. w. vor die Anſchauung treten?
beantwortet ſich aus dem, was wir überhaupt vom Häßlichen geſagt
haben. Sterbender Held von Selinunt, berühmt durch die treffliche Wieder-
gebung des Hippokratiſchen Geſichts. Leichnam: ſchön, wenn man ihm
die Charakterfurchen des Lebens neben dem entſeelten Ausdrucke der
Schwere anſieht. Verſchiedene Behandlung des Leichnams Chriſti. Die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0180" n="168"/>
Leben hineingewach&#x017F;en, die erwartete Unendlichkeit hat &#x017F;ich be&#x017F;chränken<lb/>&#x017F;&#x017F;en, allein nur in der Be&#x017F;chränkung wird das Höch&#x017F;te erreicht; die<lb/>
Idee als Per&#x017F;önlichkeit i&#x017F;t nun er&#x017F;t wirklich, real, ganz Gegenwart. Auf<lb/>
die Hochebene die&#x017F;er dauerhaften Lebens&#x017F;tufe folgt allmählich das Grei&#x017F;en-<lb/>
alter. Der Körper erlahmt, vertrocknet, die Haut zieht &#x017F;ich in Falten,<lb/>
die Sinne &#x017F;chwinden, der Gei&#x017F;t wird in der Richtung, welche das Wirkliche<lb/>
anfaßt, &#x017F;tumpfer, zieht &#x017F;ich aus den Kämpfen des Lebens in Ruhe, Be&#x017F;chau-<lb/>
lichkeit, Weisheit, Rath zurück, &#x017F;chwebt milde über dem Leben, blickt mit<lb/>
Sehn&#x017F;ucht in die Vergangenheit und kehrt zur Kindheit zurück wie der<lb/>
Körper durch die wach&#x017F;ende Hilflo&#x017F;igkeit. Der Greis wird dadurch eine<lb/>
rührende Er&#x017F;cheinung, doch wenn gerade die Schwäche hervortritt, wirkt<lb/>
&#x017F;ie nur im rechten Zu&#x017F;ammenhange gut (Lear); wir wollen auch den<lb/>
Greis noch gewaltig wie Ne&#x017F;tor, Priamus, heiter wie Anakreon,<lb/>
Göthe &#x017F;ehen; der durchfurchte Körper mit dem weißen Haupte muß<lb/>
mehr als ehrwürdige, denn als hilfsbedürftige Er&#x017F;cheinung wirken. Am<lb/>
rechten Orte mögen aber auch die Schwächen des Grei&#x017F;es komi&#x017F;ch wirken<lb/>
(Polonius, Capulet).</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">3. <hi rendition="#g">Krankheit</hi>: gehört freilich im Grunde unter die Uebel, die wir<lb/>
als ein Häßliches, das &#x017F;ich in&#x2019;s Furchtbare oder Komi&#x017F;che bewegen muß,<lb/>
um ä&#x017F;theti&#x017F;ch zu werden, überall nicht be&#x017F;onders erwähnen. Aus ihr<lb/>
gehen z. B. viele bleibende Ent&#x017F;tellungen hervor, durch welche der men&#x017F;ch-<lb/>
liche Leib ins Thierähnliche &#x017F;inkt und komi&#x017F;ch oder unheimlich wird. Es<lb/>
wäre intere&#x017F;&#x017F;ant, zu verfolgen, wie durch die&#x017F;e und aus andern Ur&#x017F;achen<lb/>
ent&#x017F;tandene Ent&#x017F;tellungen das Thier aus dem Men&#x017F;chen &#x017F;chnappt, pickt,<lb/>
gähnt, blöckt, rudert, wackelt u. &#x017F;. w. Die Krankheit &#x017F;elb&#x017F;t wird als<lb/>
unmittelbar phy&#x017F;i&#x017F;ches Leiden nur &#x017F;elten zur An&#x017F;chauung kommen können<lb/>
ohne Verletzung der Schönheit, &#x017F;elten &#x017F;o ergreifend wie König Johanns<lb/>
Fieberhitze durch Shakespeares Kün&#x017F;tlerhand, immer aber nur als vor-<lb/>
übergehender Moment und als Wirkung oder Folge &#x017F;ittlicher Er&#x017F;cheinungen,<lb/>
denn wir &#x017F;ind jetzt im Gebiete der Schönheit, die immer auch wirklich<lb/>
gei&#x017F;tige Bedeutung haben muß. <hi rendition="#g">Tod</hi>: ein Auslö&#x017F;chen aus Schwäche<lb/>
(Götz von Berlichingen, Attinghau&#x017F;en) oder durch Gewalt: das Hin-<lb/>
ge&#x017F;chmettertwerden, die Wunden, wo Schuß und Hieb &#x017F;icher &#x017F;itzt und der<lb/>
Röchelnde dumpf hinra&#x017F;&#x017F;elt in den lang hin&#x017F;treckenden Tod, hat be&#x017F;onders<lb/><hi rendition="#g">Homer</hi> mit unnachahmlicher Naturwahrheit darge&#x017F;tellt. Wie weit dürfen<lb/>
die Einzelnheiten, die letzten Zuckungen u. &#x017F;. w. vor die An&#x017F;chauung treten?<lb/>
beantwortet &#x017F;ich aus dem, was wir überhaupt vom Häßlichen ge&#x017F;agt<lb/>
haben. Sterbender Held von Selinunt, berühmt durch die treffliche Wieder-<lb/>
gebung des Hippokrati&#x017F;chen Ge&#x017F;ichts. <hi rendition="#g">Leichnam</hi>: &#x017F;chön, wenn man ihm<lb/>
die Charakterfurchen des Lebens neben dem ent&#x017F;eelten Ausdrucke der<lb/>
Schwere an&#x017F;ieht. Ver&#x017F;chiedene Behandlung des Leichnams Chri&#x017F;ti. Die<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[168/0180] Leben hineingewachſen, die erwartete Unendlichkeit hat ſich beſchränken müſſen, allein nur in der Beſchränkung wird das Höchſte erreicht; die Idee als Perſönlichkeit iſt nun erſt wirklich, real, ganz Gegenwart. Auf die Hochebene dieſer dauerhaften Lebensſtufe folgt allmählich das Greiſen- alter. Der Körper erlahmt, vertrocknet, die Haut zieht ſich in Falten, die Sinne ſchwinden, der Geiſt wird in der Richtung, welche das Wirkliche anfaßt, ſtumpfer, zieht ſich aus den Kämpfen des Lebens in Ruhe, Beſchau- lichkeit, Weisheit, Rath zurück, ſchwebt milde über dem Leben, blickt mit Sehnſucht in die Vergangenheit und kehrt zur Kindheit zurück wie der Körper durch die wachſende Hilfloſigkeit. Der Greis wird dadurch eine rührende Erſcheinung, doch wenn gerade die Schwäche hervortritt, wirkt ſie nur im rechten Zuſammenhange gut (Lear); wir wollen auch den Greis noch gewaltig wie Neſtor, Priamus, heiter wie Anakreon, Göthe ſehen; der durchfurchte Körper mit dem weißen Haupte muß mehr als ehrwürdige, denn als hilfsbedürftige Erſcheinung wirken. Am rechten Orte mögen aber auch die Schwächen des Greiſes komiſch wirken (Polonius, Capulet). 3. Krankheit: gehört freilich im Grunde unter die Uebel, die wir als ein Häßliches, das ſich in’s Furchtbare oder Komiſche bewegen muß, um äſthetiſch zu werden, überall nicht beſonders erwähnen. Aus ihr gehen z. B. viele bleibende Entſtellungen hervor, durch welche der menſch- liche Leib ins Thierähnliche ſinkt und komiſch oder unheimlich wird. Es wäre intereſſant, zu verfolgen, wie durch dieſe und aus andern Urſachen entſtandene Entſtellungen das Thier aus dem Menſchen ſchnappt, pickt, gähnt, blöckt, rudert, wackelt u. ſ. w. Die Krankheit ſelbſt wird als unmittelbar phyſiſches Leiden nur ſelten zur Anſchauung kommen können ohne Verletzung der Schönheit, ſelten ſo ergreifend wie König Johanns Fieberhitze durch Shakespeares Künſtlerhand, immer aber nur als vor- übergehender Moment und als Wirkung oder Folge ſittlicher Erſcheinungen, denn wir ſind jetzt im Gebiete der Schönheit, die immer auch wirklich geiſtige Bedeutung haben muß. Tod: ein Auslöſchen aus Schwäche (Götz von Berlichingen, Attinghauſen) oder durch Gewalt: das Hin- geſchmettertwerden, die Wunden, wo Schuß und Hieb ſicher ſitzt und der Röchelnde dumpf hinraſſelt in den lang hinſtreckenden Tod, hat beſonders Homer mit unnachahmlicher Naturwahrheit dargeſtellt. Wie weit dürfen die Einzelnheiten, die letzten Zuckungen u. ſ. w. vor die Anſchauung treten? beantwortet ſich aus dem, was wir überhaupt vom Häßlichen geſagt haben. Sterbender Held von Selinunt, berühmt durch die treffliche Wieder- gebung des Hippokratiſchen Geſichts. Leichnam: ſchön, wenn man ihm die Charakterfurchen des Lebens neben dem entſeelten Ausdrucke der Schwere anſieht. Verſchiedene Behandlung des Leichnams Chriſti. Die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/180
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/180>, abgerufen am 27.11.2024.