als Naturleben des Geistes, mit wenigen Strichen zu verzeichnen. Wie sich die Seele zum Geiste bestimmt, ist im Fortgange zu verfolgen, aber daß das gesammte Geistesleben zuerst in seiner Unmittelbarkeit betont werde, gerade für die Aesthetik von besonderer Wichtigkeit; denn sie will den Menschen in seiner Lebendigkeit und Frische, die ihm auch der Fort- schritt zur Reflexion und zum Charakter nicht nehmen soll, also den Menschen, wie sich im offenen Blicke, mit dem er um sich schaut und die sichtbaren Gegenstände erfaßt, in der Lebendigkeit jedes Sinnes die Anlage selbst zum tiefsten und in seiner wirklichen Ausbildung freilich dem äst- hetischen Gebiete sich entziehenden Denken, in jeder Bewegung das Feuer der Triebe, Neigungen, Leidenschaften, und im Ganzen die zusammen- gefaßte Innerlichkeit des Gefühls ausspricht. Es kann jedoch nicht die Aufgabe der Aesthetik sein, diese ganze Welt so zu durchwandern, daß sie jeder besondern Form des geistigen Thuns ihre Bedeutung für das Schöne anweist. Nehmen wir z. B. den natürlichen Willen vor uns, so ist die sinnliche Lüsternheit freilich etwas, was wir in einem ästhetischen Ganzen nur momentan und auch dann nur in komischer Wendung ertragen können, dagegen jeder wohlwollende Trieb schon die zu durchgreifender Entwicklung berechtigte Grundlage sittlicher Gesinnung; doch unter Umständen, z. B. als zu große Weichheit und mit zu schwachem Selbstbewußtsein verbunden, wird auch der edlere Trieb komisch. Haß ist erhaben, wenn er energisch dem Bösen, komisch, wenn er einem ganz unbedeutenden Gegenstande gilt, welcher der Leidenschaft nicht werth ist u. s. w. Rötscher z. B. hat in dem besonderen Interesse einer bestimmten Kunst den relativeren oder selbständigeren Werth einzelner Hauptformen des natürlichen Willens dar- gestellt in seiner Kunst der dramatischen Darstellung. Erst in solcher Aus- führung bestimmter Sphären kann mehr auf das Einzelne eingegangen werden. Soweit aber die Aesthetik die einzelnen Hauptformen des Seelen- lebens aufzuführen hat, geschieht dieß im Folgenden, sofern wir die realen Sphären des menschlichen Lebens überblicken, welche ebensoviele Bestimmtheiten der denkenden, wollenden, fühlenden Seele zuerst in Naturform, dann in sittlicher Form zum Inhalt haben.
Es müßte nun die Bewegungsfähigkeit der ganzen Gestalt, die wir eigentlich erst als ruhende dargestellt, in diesem Zusammenhange erörtert, der Ausdruck, den sich die wesentlichen Seelenthätigkeiten durch die Bewegung der ihnen vorzüglich zugewiesenen Organe geben, verfolgt werden. Insbesondere das Haupt würde hier von einer neuen Seite betrachtet. Allein wir müssen uns begnügen, im Bisherigen diese Seite nur ganz allgemein berührt zu haben, und das Weitere dem Abschnitt über das Mimische vorbehalten. So haben wir auch die Beweglichkeit der Gestalt an sich, als sinnliche zunächst, in §. 317 nur angedeutet, wir
als Naturleben des Geiſtes, mit wenigen Strichen zu verzeichnen. Wie ſich die Seele zum Geiſte beſtimmt, iſt im Fortgange zu verfolgen, aber daß das geſammte Geiſtesleben zuerſt in ſeiner Unmittelbarkeit betont werde, gerade für die Aeſthetik von beſonderer Wichtigkeit; denn ſie will den Menſchen in ſeiner Lebendigkeit und Friſche, die ihm auch der Fort- ſchritt zur Reflexion und zum Charakter nicht nehmen ſoll, alſo den Menſchen, wie ſich im offenen Blicke, mit dem er um ſich ſchaut und die ſichtbaren Gegenſtände erfaßt, in der Lebendigkeit jedes Sinnes die Anlage ſelbſt zum tiefſten und in ſeiner wirklichen Ausbildung freilich dem äſt- hetiſchen Gebiete ſich entziehenden Denken, in jeder Bewegung das Feuer der Triebe, Neigungen, Leidenſchaften, und im Ganzen die zuſammen- gefaßte Innerlichkeit des Gefühls ausſpricht. Es kann jedoch nicht die Aufgabe der Aeſthetik ſein, dieſe ganze Welt ſo zu durchwandern, daß ſie jeder beſondern Form des geiſtigen Thuns ihre Bedeutung für das Schöne anweist. Nehmen wir z. B. den natürlichen Willen vor uns, ſo iſt die ſinnliche Lüſternheit freilich etwas, was wir in einem äſthetiſchen Ganzen nur momentan und auch dann nur in komiſcher Wendung ertragen können, dagegen jeder wohlwollende Trieb ſchon die zu durchgreifender Entwicklung berechtigte Grundlage ſittlicher Geſinnung; doch unter Umſtänden, z. B. als zu große Weichheit und mit zu ſchwachem Selbſtbewußtſein verbunden, wird auch der edlere Trieb komiſch. Haß iſt erhaben, wenn er energiſch dem Böſen, komiſch, wenn er einem ganz unbedeutenden Gegenſtande gilt, welcher der Leidenſchaft nicht werth iſt u. ſ. w. Rötſcher z. B. hat in dem beſonderen Intereſſe einer beſtimmten Kunſt den relativeren oder ſelbſtändigeren Werth einzelner Hauptformen des natürlichen Willens dar- geſtellt in ſeiner Kunſt der dramatiſchen Darſtellung. Erſt in ſolcher Aus- führung beſtimmter Sphären kann mehr auf das Einzelne eingegangen werden. Soweit aber die Aeſthetik die einzelnen Hauptformen des Seelen- lebens aufzuführen hat, geſchieht dieß im Folgenden, ſofern wir die realen Sphären des menſchlichen Lebens überblicken, welche ebenſoviele Beſtimmtheiten der denkenden, wollenden, fühlenden Seele zuerſt in Naturform, dann in ſittlicher Form zum Inhalt haben.
Es müßte nun die Bewegungsfähigkeit der ganzen Geſtalt, die wir eigentlich erſt als ruhende dargeſtellt, in dieſem Zuſammenhange erörtert, der Ausdruck, den ſich die weſentlichen Seelenthätigkeiten durch die Bewegung der ihnen vorzüglich zugewieſenen Organe geben, verfolgt werden. Insbeſondere das Haupt würde hier von einer neuen Seite betrachtet. Allein wir müſſen uns begnügen, im Bisherigen dieſe Seite nur ganz allgemein berührt zu haben, und das Weitere dem Abſchnitt über das Mimiſche vorbehalten. So haben wir auch die Beweglichkeit der Geſtalt an ſich, als ſinnliche zunächſt, in §. 317 nur angedeutet, wir
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als Naturleben des Geiſtes, mit wenigen Strichen zu verzeichnen. Wie
ſich die Seele zum Geiſte beſtimmt, iſt im Fortgange zu verfolgen, aber
daß das geſammte Geiſtesleben zuerſt in ſeiner Unmittelbarkeit betont
werde, gerade für die Aeſthetik von beſonderer Wichtigkeit; denn ſie will
den Menſchen in ſeiner Lebendigkeit und Friſche, die ihm auch der Fort-
ſchritt zur Reflexion und zum Charakter nicht nehmen ſoll, alſo den
Menſchen, wie ſich im offenen Blicke, mit dem er um ſich ſchaut und die
ſichtbaren Gegenſtände erfaßt, in der Lebendigkeit jedes Sinnes die Anlage
ſelbſt zum tiefſten und in ſeiner wirklichen Ausbildung freilich dem äſt-
hetiſchen Gebiete ſich entziehenden Denken, in jeder Bewegung das Feuer
der Triebe, Neigungen, Leidenſchaften, und im Ganzen die zuſammen-
gefaßte Innerlichkeit des Gefühls ausſpricht. Es kann jedoch nicht die
Aufgabe der Aeſthetik ſein, dieſe ganze Welt ſo zu durchwandern, daß ſie
jeder beſondern Form des geiſtigen Thuns ihre Bedeutung für das Schöne
anweist. Nehmen wir z. B. den natürlichen Willen vor uns, ſo iſt die
ſinnliche Lüſternheit freilich etwas, was wir in einem äſthetiſchen Ganzen
nur momentan und auch dann nur in komiſcher Wendung ertragen können,
dagegen jeder wohlwollende Trieb ſchon die zu durchgreifender Entwicklung
berechtigte Grundlage ſittlicher Geſinnung; doch unter Umſtänden, z. B.
als zu große Weichheit und mit zu ſchwachem Selbſtbewußtſein verbunden,
wird auch der edlere Trieb komiſch. Haß iſt erhaben, wenn er energiſch
dem Böſen, komiſch, wenn er einem ganz unbedeutenden Gegenſtande gilt,
welcher der Leidenſchaft nicht werth iſt u. ſ. w. Rötſcher z. B. hat
in dem beſonderen Intereſſe einer beſtimmten Kunſt den relativeren oder
ſelbſtändigeren Werth einzelner Hauptformen des natürlichen Willens dar-
geſtellt in ſeiner Kunſt der dramatiſchen Darſtellung. Erſt in ſolcher Aus-
führung beſtimmter Sphären kann mehr auf das Einzelne eingegangen
werden. Soweit aber die Aeſthetik die einzelnen Hauptformen des Seelen-
lebens aufzuführen hat, geſchieht dieß im Folgenden, ſofern wir die
realen Sphären des menſchlichen Lebens überblicken, welche ebenſoviele
Beſtimmtheiten der denkenden, wollenden, fühlenden Seele zuerſt in
Naturform, dann in ſittlicher Form zum Inhalt haben.
Es müßte nun die Bewegungsfähigkeit der ganzen Geſtalt, die wir
eigentlich erſt als ruhende dargeſtellt, in dieſem Zuſammenhange erörtert,
der Ausdruck, den ſich die weſentlichen Seelenthätigkeiten durch die
Bewegung der ihnen vorzüglich zugewieſenen Organe geben, verfolgt
werden. Insbeſondere das Haupt würde hier von einer neuen Seite
betrachtet. Allein wir müſſen uns begnügen, im Bisherigen dieſe Seite
nur ganz allgemein berührt zu haben, und das Weitere dem Abſchnitt über
das Mimiſche vorbehalten. So haben wir auch die Beweglichkeit der
Geſtalt an ſich, als ſinnliche zunächſt, in §. 317 nur angedeutet, wir
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/177>, abgerufen am 16.07.2024.
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