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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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er ist nicht darauf gebildet. Er hat vier Hände statt zwei Hände und
zwei Füße. Damit ist schon Alles gesagt. Am Fuße nämlich hat er statt
der großen Zehe einen Daumen, daher keinen Widerhalt zum Anstemmen
gegen die Erde; darum bekommt er die Hände, die ihm an überlangen
Armen vorhängend die Brust verschmälern, nicht frei und sie dienen zwar
zum Halten, aber sammt den Füßen wesentlich auch zum Klettern. Er
hat keine Waden, schwache Knjemuskeln, hängt, wenn er aufrecht geht,
in den Knien, die schmale Hüfte ist zurückgezogen, der Rücken gekrümmt,
der Rückgrat verläuft sich bei den meisten Gattungen in einen Schwanz,
am kurzen Halse hängt der Kopf vorwärts, die Unterkiefer sind vor-
geschoben, die Nase steht nicht ab, die schmale Stirne ist zurückgedrückt
und hat nicht Raum zur freien Ausbildung des Gehirns, und eben durch
die schlechte Bildung dieses höchsten Nervencentrums ist umgekehrt wieder
die ganze hinsinkende Haltung, der höhnische Aufenthalt an der Schwelle
der aufgerichteten Menschengestalt bedingt. Indem dagegen dem Menschen
die aufrechte Stellung wesentlich ist, sehen wir den umgelegten Baumstamm
(vergl. §. 285) wieder aufgerichtet, die Krone als Haupt wieder gerundet,
aber freilich in absolut anderen Formen; das erste Aufstreben vom Planeten,
das im Beginne der organischen Welt, der Pflanze, auftrat, im gebückten
Thiere wieder hinsank, ist wieder da, aber es ist ein Anderes geworden.
Die Wurzel ist längst weg, die Gestalt stemmt sich aus freier Kraft an
die tragende Erde und trägt sich wie schwebend im geschwungenen Wechsel-
druck ihrer Glieder. Zu oberst trägt sie den zur vollkommenen Kugel-
gestalt ausgewölbten Kopf; allein man sieht seine Schwere nicht, man
fühlt im Anblick, daß in ihm der Mittelpunkt des Lebens wohnt, der den
tragenden Gliedern selbst erst die Kraft gibt, zu tragen; so ist es vielmehr
selbst tragend, so verschwindet aber überhaupt im ganzen Leibe der Gegensatz
des Tragenden und Getragenen, das Mechanische, Tischartige des Thiers

2. Der Kopf hebt sich vom Rumpfe durch den schwungvoll ein-
gezogenen Hals frei schwebend ab. Breit wölbt sich die Brust, Wohnsitz
des Muthes, hervor. Bei uns sieht man selten eine schöne Brust; sie
erscheint eingesunken, bei Griechen und Italienern dagegen tritt sie frei
und entschlossen mit ihren zwei breiten vom Brustbein getheilten Blättern
hervor. Ein feiner, aber deutlicher Umriß trennt von der Brust den
Unterleib. Diese beiden Systeme werfen Front, weil sie Raum gefunden
haben, zwischen den Seiten-Organen herauszutreten. Die Schulterblätter
treten zurück, die Schulter steht wie ein Seitenbau ab und zeigt an, daß
hier seitlich der Ort zum Tragen angebracht sei, um dieses niedrige
Geschäft dem Kopfe und Rücken zu ersparen. Doch zeigt auch diese vor-
springende Ecke wieder die schönste Absenkung vom Halse und Abrundung
am äußersten, härtesten Theile. Der Vorderfuß ist jetzt erst eigentlicher

er iſt nicht darauf gebildet. Er hat vier Hände ſtatt zwei Hände und
zwei Füße. Damit iſt ſchon Alles geſagt. Am Fuße nämlich hat er ſtatt
der großen Zehe einen Daumen, daher keinen Widerhalt zum Anſtemmen
gegen die Erde; darum bekommt er die Hände, die ihm an überlangen
Armen vorhängend die Bruſt verſchmälern, nicht frei und ſie dienen zwar
zum Halten, aber ſammt den Füßen weſentlich auch zum Klettern. Er
hat keine Waden, ſchwache Knjemuskeln, hängt, wenn er aufrecht geht,
in den Knien, die ſchmale Hüfte iſt zurückgezogen, der Rücken gekrümmt,
der Rückgrat verläuft ſich bei den meiſten Gattungen in einen Schwanz,
am kurzen Halſe hängt der Kopf vorwärts, die Unterkiefer ſind vor-
geſchoben, die Naſe ſteht nicht ab, die ſchmale Stirne iſt zurückgedrückt
und hat nicht Raum zur freien Ausbildung des Gehirns, und eben durch
die ſchlechte Bildung dieſes höchſten Nervencentrums iſt umgekehrt wieder
die ganze hinſinkende Haltung, der höhniſche Aufenthalt an der Schwelle
der aufgerichteten Menſchengeſtalt bedingt. Indem dagegen dem Menſchen
die aufrechte Stellung weſentlich iſt, ſehen wir den umgelegten Baumſtamm
(vergl. §. 285) wieder aufgerichtet, die Krone als Haupt wieder gerundet,
aber freilich in abſolut anderen Formen; das erſte Aufſtreben vom Planeten,
das im Beginne der organiſchen Welt, der Pflanze, auftrat, im gebückten
Thiere wieder hinſank, iſt wieder da, aber es iſt ein Anderes geworden.
Die Wurzel iſt längſt weg, die Geſtalt ſtemmt ſich aus freier Kraft an
die tragende Erde und trägt ſich wie ſchwebend im geſchwungenen Wechſel-
druck ihrer Glieder. Zu oberſt trägt ſie den zur vollkommenen Kugel-
geſtalt ausgewölbten Kopf; allein man ſieht ſeine Schwere nicht, man
fühlt im Anblick, daß in ihm der Mittelpunkt des Lebens wohnt, der den
tragenden Gliedern ſelbſt erſt die Kraft gibt, zu tragen; ſo iſt es vielmehr
ſelbſt tragend, ſo verſchwindet aber überhaupt im ganzen Leibe der Gegenſatz
des Tragenden und Getragenen, das Mechaniſche, Tiſchartige des Thiers

2. Der Kopf hebt ſich vom Rumpfe durch den ſchwungvoll ein-
gezogenen Hals frei ſchwebend ab. Breit wölbt ſich die Bruſt, Wohnſitz
des Muthes, hervor. Bei uns ſieht man ſelten eine ſchöne Bruſt; ſie
erſcheint eingeſunken, bei Griechen und Italienern dagegen tritt ſie frei
und entſchloſſen mit ihren zwei breiten vom Bruſtbein getheilten Blättern
hervor. Ein feiner, aber deutlicher Umriß trennt von der Bruſt den
Unterleib. Dieſe beiden Syſteme werfen Front, weil ſie Raum gefunden
haben, zwiſchen den Seiten-Organen herauszutreten. Die Schulterblätter
treten zurück, die Schulter ſteht wie ein Seitenbau ab und zeigt an, daß
hier ſeitlich der Ort zum Tragen angebracht ſei, um dieſes niedrige
Geſchäft dem Kopfe und Rücken zu erſparen. Doch zeigt auch dieſe vor-
ſpringende Ecke wieder die ſchönſte Abſenkung vom Halſe und Abrundung
am äußerſten, härteſten Theile. Der Vorderfuß iſt jetzt erſt eigentlicher

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[160/0172] er iſt nicht darauf gebildet. Er hat vier Hände ſtatt zwei Hände und zwei Füße. Damit iſt ſchon Alles geſagt. Am Fuße nämlich hat er ſtatt der großen Zehe einen Daumen, daher keinen Widerhalt zum Anſtemmen gegen die Erde; darum bekommt er die Hände, die ihm an überlangen Armen vorhängend die Bruſt verſchmälern, nicht frei und ſie dienen zwar zum Halten, aber ſammt den Füßen weſentlich auch zum Klettern. Er hat keine Waden, ſchwache Knjemuskeln, hängt, wenn er aufrecht geht, in den Knien, die ſchmale Hüfte iſt zurückgezogen, der Rücken gekrümmt, der Rückgrat verläuft ſich bei den meiſten Gattungen in einen Schwanz, am kurzen Halſe hängt der Kopf vorwärts, die Unterkiefer ſind vor- geſchoben, die Naſe ſteht nicht ab, die ſchmale Stirne iſt zurückgedrückt und hat nicht Raum zur freien Ausbildung des Gehirns, und eben durch die ſchlechte Bildung dieſes höchſten Nervencentrums iſt umgekehrt wieder die ganze hinſinkende Haltung, der höhniſche Aufenthalt an der Schwelle der aufgerichteten Menſchengeſtalt bedingt. Indem dagegen dem Menſchen die aufrechte Stellung weſentlich iſt, ſehen wir den umgelegten Baumſtamm (vergl. §. 285) wieder aufgerichtet, die Krone als Haupt wieder gerundet, aber freilich in abſolut anderen Formen; das erſte Aufſtreben vom Planeten, das im Beginne der organiſchen Welt, der Pflanze, auftrat, im gebückten Thiere wieder hinſank, iſt wieder da, aber es iſt ein Anderes geworden. Die Wurzel iſt längſt weg, die Geſtalt ſtemmt ſich aus freier Kraft an die tragende Erde und trägt ſich wie ſchwebend im geſchwungenen Wechſel- druck ihrer Glieder. Zu oberſt trägt ſie den zur vollkommenen Kugel- geſtalt ausgewölbten Kopf; allein man ſieht ſeine Schwere nicht, man fühlt im Anblick, daß in ihm der Mittelpunkt des Lebens wohnt, der den tragenden Gliedern ſelbſt erſt die Kraft gibt, zu tragen; ſo iſt es vielmehr ſelbſt tragend, ſo verſchwindet aber überhaupt im ganzen Leibe der Gegenſatz des Tragenden und Getragenen, das Mechaniſche, Tiſchartige des Thiers 2. Der Kopf hebt ſich vom Rumpfe durch den ſchwungvoll ein- gezogenen Hals frei ſchwebend ab. Breit wölbt ſich die Bruſt, Wohnſitz des Muthes, hervor. Bei uns ſieht man ſelten eine ſchöne Bruſt; ſie erſcheint eingeſunken, bei Griechen und Italienern dagegen tritt ſie frei und entſchloſſen mit ihren zwei breiten vom Bruſtbein getheilten Blättern hervor. Ein feiner, aber deutlicher Umriß trennt von der Bruſt den Unterleib. Dieſe beiden Syſteme werfen Front, weil ſie Raum gefunden haben, zwiſchen den Seiten-Organen herauszutreten. Die Schulterblätter treten zurück, die Schulter ſteht wie ein Seitenbau ab und zeigt an, daß hier ſeitlich der Ort zum Tragen angebracht ſei, um dieſes niedrige Geſchäft dem Kopfe und Rücken zu erſparen. Doch zeigt auch dieſe vor- ſpringende Ecke wieder die ſchönſte Abſenkung vom Halſe und Abrundung am äußerſten, härteſten Theile. Der Vorderfuß iſt jetzt erſt eigentlicher

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/172>, abgerufen am 24.11.2024.