Indem das Schöne aus der reinen Allgemeinheit des Begriffs in die1 Bestimmtheit der Existenz übertritt, so stellt es sich nach dem Gesetze aller sich verwirklichenden Idee zuerst in zwei aufeinander folgenden Formen dar, deren erste als unmittelbare, deren zweite als vermittelte zu bezeichnen ist. Beide2 Formen sind einseitig, denn es liegt im Wesen des Unmittelbaren, in das Vermittelte aufgehoben zu werden, und im Wesen des Vermittelten, das Unmittelbare als ein von ihm Durchdrungenes wiederherzustellen. Obwohl nun jene Aufhebung schon im vorliegenden Theile sich vollzieht, so tritt doch, weil diese Wiederherstellung noch ausbleibt, das Vermittelte als eine einseitig selbständige Existenz dem Unmittelbaren, das ebendaher trotz seiner auf- gewiesenen Unhaltbarkeit dasselbe Recht einseitiger Selbständigkeit gegen jenes behält, gegenüber.
1. Der §. ist nur einführenden Inhalts und hat daher keine Beweise zu geben, sondern vorerst nur auf ein allgemeines Gesetz des Denkens und Seins sich zu berufen. Der Schein einer Platonischen Fixirung der Ideenwelt, welcher entstehen könnte, wenn von einem "Uebertreten" aus der reinen Allgemeinheit des Begriffs in die Bestimmt- heit der Existenz die Rede ist, wird sich im Folgenden alsbald aufheben. Aufgabe aller Philosophie ist Destruction der Metaphysik durch Metaphysik. Die besondere Wissenschaft der Aesthetik hat diese Aufgabe nicht zu lösen, sondern nur ihre Stellung zu den Lösungsversuchen der Philosophie in der gegenwärtigen Zeit einzunehmen; sie kann aber von ihrer Seite zeigen, daß sich eine Art, die Aufgabe zu lösen, an ihrem Stoffe bewährt, eine andere nicht. Der Uebergang von der Metaphysik in die Natur- philosophie ist ein anderer, als der von der Metaphysik des Schönen in die Naturlehre des Schönen, aber beide müßen nach demselben Gesetze erfolgen und ein unphilosophischer Versuch, jenen Uebergang zu begründen, muß sich auch in diesem als unphilosophisch erweisen.
Vischer's Aesthetik. 2. Band. 1
Das Schöne in einſeitiger Exiſtenz.
§. 232.
Indem das Schöne aus der reinen Allgemeinheit des Begriffs in die1 Beſtimmtheit der Exiſtenz übertritt, ſo ſtellt es ſich nach dem Geſetze aller ſich verwirklichenden Idee zuerſt in zwei aufeinander folgenden Formen dar, deren erſte als unmittelbare, deren zweite als vermittelte zu bezeichnen iſt. Beide2 Formen ſind einſeitig, denn es liegt im Weſen des Unmittelbaren, in das Vermittelte aufgehoben zu werden, und im Weſen des Vermittelten, das Unmittelbare als ein von ihm Durchdrungenes wiederherzuſtellen. Obwohl nun jene Aufhebung ſchon im vorliegenden Theile ſich vollzieht, ſo tritt doch, weil dieſe Wiederherſtellung noch ausbleibt, das Vermittelte als eine einſeitig ſelbſtändige Exiſtenz dem Unmittelbaren, das ebendaher trotz ſeiner auf- gewieſenen Unhaltbarkeit dasſelbe Recht einſeitiger Selbſtändigkeit gegen jenes behält, gegenüber.
1. Der §. iſt nur einführenden Inhalts und hat daher keine Beweiſe zu geben, ſondern vorerſt nur auf ein allgemeines Geſetz des Denkens und Seins ſich zu berufen. Der Schein einer Platoniſchen Fixirung der Ideenwelt, welcher entſtehen könnte, wenn von einem „Uebertreten“ aus der reinen Allgemeinheit des Begriffs in die Beſtimmt- heit der Exiſtenz die Rede iſt, wird ſich im Folgenden alsbald aufheben. Aufgabe aller Philoſophie iſt Deſtruction der Metaphyſik durch Metaphyſik. Die beſondere Wiſſenſchaft der Aeſthetik hat dieſe Aufgabe nicht zu löſen, ſondern nur ihre Stellung zu den Löſungsverſuchen der Philoſophie in der gegenwärtigen Zeit einzunehmen; ſie kann aber von ihrer Seite zeigen, daß ſich eine Art, die Aufgabe zu löſen, an ihrem Stoffe bewährt, eine andere nicht. Der Uebergang von der Metaphyſik in die Natur- philoſophie iſt ein anderer, als der von der Metaphyſik des Schönen in die Naturlehre des Schönen, aber beide müßen nach demſelben Geſetze erfolgen und ein unphiloſophiſcher Verſuch, jenen Uebergang zu begründen, muß ſich auch in dieſem als unphiloſophiſch erweiſen.
Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 1
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Das Schöne in einſeitiger Exiſtenz.
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verwirklichenden Idee zuerſt in zwei aufeinander folgenden Formen dar, deren
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Formen ſind einſeitig, denn es liegt im Weſen des Unmittelbaren, in das
Vermittelte aufgehoben zu werden, und im Weſen des Vermittelten, das
Unmittelbare als ein von ihm Durchdrungenes wiederherzuſtellen. Obwohl
nun jene Aufhebung ſchon im vorliegenden Theile ſich vollzieht, ſo tritt doch,
weil dieſe Wiederherſtellung noch ausbleibt, das Vermittelte als eine einſeitig
ſelbſtändige Exiſtenz dem Unmittelbaren, das ebendaher trotz ſeiner auf-
gewieſenen Unhaltbarkeit dasſelbe Recht einſeitiger Selbſtändigkeit gegen jenes
behält, gegenüber.
1. Der §. iſt nur einführenden Inhalts und hat daher keine
Beweiſe zu geben, ſondern vorerſt nur auf ein allgemeines Geſetz des
Denkens und Seins ſich zu berufen. Der Schein einer Platoniſchen
Fixirung der Ideenwelt, welcher entſtehen könnte, wenn von einem
„Uebertreten“ aus der reinen Allgemeinheit des Begriffs in die Beſtimmt-
heit der Exiſtenz die Rede iſt, wird ſich im Folgenden alsbald aufheben.
Aufgabe aller Philoſophie iſt Deſtruction der Metaphyſik durch Metaphyſik.
Die beſondere Wiſſenſchaft der Aeſthetik hat dieſe Aufgabe nicht zu löſen,
ſondern nur ihre Stellung zu den Löſungsverſuchen der Philoſophie in
der gegenwärtigen Zeit einzunehmen; ſie kann aber von ihrer Seite
zeigen, daß ſich eine Art, die Aufgabe zu löſen, an ihrem Stoffe bewährt,
eine andere nicht. Der Uebergang von der Metaphyſik in die Natur-
philoſophie iſt ein anderer, als der von der Metaphyſik des Schönen in
die Naturlehre des Schönen, aber beide müßen nach demſelben Geſetze
erfolgen und ein unphiloſophiſcher Verſuch, jenen Uebergang zu begründen,
muß ſich auch in dieſem als unphiloſophiſch erweiſen.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/13>, abgerufen am 22.02.2025.
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