Sittlichen näher, ist schon ein Analogie der Freundschaft. Am höchsten müssen wir aber die Anhänglichkeit, Ergebenheit an den Menschen setzen, die in Treue oft so fest wird, daß das Thier sogar den Tod des Herrn nicht überlebt. Hier ist auch am meisten Bildungsfähigkeit, das Thier lernt, was irgend gelernt werden kann durch sinnliche Zeichen unmittel- barer Art, und darunter sind nicht die Prügel verstanden: diese sind nur die negative Hälfte der Erziehungsmittel, die andere, positive sind die Erweisungen der Liebe, die das Thier wohl versteht. Das Thier lernt sogar Eigenthum anerkennen, aber freilich nur das seines Herrn, denn nicht den Begriff des Eigenthums kann es fassen, sondern nur die Beziehung seines Herrn zu seinem Besitze, weil diese sich ihm sinnlich im Schalten des Herrn damit darstellt. Diese Unterordnung unter und Hingebung an den Menschen erhebt sich von der Furcht zu einer bleibenden Ahnung, keine eigene Persönlichkeit, sondern eine solche nur im Herrn zu besitzen. Dieß ist die höchste mögliche Analogie des Sittlichen im Thiere. Das Thier ist unschuldig, weil es nicht Gutes und Böses unterscheidet, hier aber ist ein Anklang an Tugend und Schuld. Der Hund, der ein Cal- facter wird, ist wirklich demoralisirt zu nennen. Dem Thiere ist der Mensch sein Gott. Es kann das Allgemeine als solches nicht denken, noch vorstellen, sondern nur Einzelnes schauend verstehen. Der einzelne Mensch stellt ihm durch Gestalt, Blick u. s. w. die Vernunft, dieß All- gemeine dar, es ahnt, daß sein Helldunkel in ihm Licht ist, das ist seine Religion. Die Naturreligion kehrte im Thiercultus die Sache um und suchte im Helldunkel der Thierseele das Göttliche; wo die Vernunft noch nicht explizirt ist, scheint das Implizirte das Absolute, sein Abgrund ver- birgt ungetrennt, was im Menschengeiste getrennt ist und sich doch noch nicht wieder im Gedanken zusammenfassen kann.
§. 290.
Was sich bewegt, ist ein Zeitleben. Die Pflanze führt ein solches, aber weil sie als Ganzes noch räumlich gebunden ist, ein unvollkommenes, das nicht seiner selbst als im Zeitwechsel mit sich identisch bleibender Einheit inne wird. Der durch äußere Gewalt ihren verhärteten Theilen entlockte Klang ist zwar geeigneter, den Ausdruck des Seelenlebens in sich aufzunehmen, als der des unorganischen Stoffs (§. 269), aber sie kann sich zum Kundgeben ihres Zeit- lebens nicht selbst befreien, sie kann sich nicht vernehmen lassen, weil sie sich selbst nicht vernimmt. Das Thier dagegen lebt nicht nur in der Zeit, sondern fühlt sich auch als die im Wechsel des Zeitverlaufs in sich zusammengefaßte Einheit. Dieses innere Leben verräth es durch die zum Stimm-Organe gebil- deten Athmungs- und Geschmacks-Organe im Tone. Der Ausdruck desselben
Vischer's Aesthetik. 2. Band. 8
Sittlichen näher, iſt ſchon ein Analogie der Freundſchaft. Am höchſten müſſen wir aber die Anhänglichkeit, Ergebenheit an den Menſchen ſetzen, die in Treue oft ſo feſt wird, daß das Thier ſogar den Tod des Herrn nicht überlebt. Hier iſt auch am meiſten Bildungsfähigkeit, das Thier lernt, was irgend gelernt werden kann durch ſinnliche Zeichen unmittel- barer Art, und darunter ſind nicht die Prügel verſtanden: dieſe ſind nur die negative Hälfte der Erziehungsmittel, die andere, poſitive ſind die Erweiſungen der Liebe, die das Thier wohl verſteht. Das Thier lernt ſogar Eigenthum anerkennen, aber freilich nur das ſeines Herrn, denn nicht den Begriff des Eigenthums kann es faſſen, ſondern nur die Beziehung ſeines Herrn zu ſeinem Beſitze, weil dieſe ſich ihm ſinnlich im Schalten des Herrn damit darſtellt. Dieſe Unterordnung unter und Hingebung an den Menſchen erhebt ſich von der Furcht zu einer bleibenden Ahnung, keine eigene Perſönlichkeit, ſondern eine ſolche nur im Herrn zu beſitzen. Dieß iſt die höchſte mögliche Analogie des Sittlichen im Thiere. Das Thier iſt unſchuldig, weil es nicht Gutes und Böſes unterſcheidet, hier aber iſt ein Anklang an Tugend und Schuld. Der Hund, der ein Cal- facter wird, iſt wirklich demoraliſirt zu nennen. Dem Thiere iſt der Menſch ſein Gott. Es kann das Allgemeine als ſolches nicht denken, noch vorſtellen, ſondern nur Einzelnes ſchauend verſtehen. Der einzelne Menſch ſtellt ihm durch Geſtalt, Blick u. ſ. w. die Vernunft, dieß All- gemeine dar, es ahnt, daß ſein Helldunkel in ihm Licht iſt, das iſt ſeine Religion. Die Naturreligion kehrte im Thiercultus die Sache um und ſuchte im Helldunkel der Thierſeele das Göttliche; wo die Vernunft noch nicht explizirt iſt, ſcheint das Implizirte das Abſolute, ſein Abgrund ver- birgt ungetrennt, was im Menſchengeiſte getrennt iſt und ſich doch noch nicht wieder im Gedanken zuſammenfaſſen kann.
§. 290.
Was ſich bewegt, iſt ein Zeitleben. Die Pflanze führt ein ſolches, aber weil ſie als Ganzes noch räumlich gebunden iſt, ein unvollkommenes, das nicht ſeiner ſelbſt als im Zeitwechſel mit ſich identiſch bleibender Einheit inne wird. Der durch äußere Gewalt ihren verhärteten Theilen entlockte Klang iſt zwar geeigneter, den Ausdruck des Seelenlebens in ſich aufzunehmen, als der des unorganiſchen Stoffs (§. 269), aber ſie kann ſich zum Kundgeben ihres Zeit- lebens nicht ſelbſt befreien, ſie kann ſich nicht vernehmen laſſen, weil ſie ſich ſelbſt nicht vernimmt. Das Thier dagegen lebt nicht nur in der Zeit, ſondern fühlt ſich auch als die im Wechſel des Zeitverlaufs in ſich zuſammengefaßte Einheit. Dieſes innere Leben verräth es durch die zum Stimm-Organe gebil- deten Athmungs- und Geſchmacks-Organe im Tone. Der Ausdruck deſſelben
Viſcher’s Aeſthetik. 2. Band. 8
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Sittlichen näher, iſt ſchon ein Analogie der Freundſchaft. Am höchſten
müſſen wir aber die Anhänglichkeit, Ergebenheit an den Menſchen ſetzen,
die in Treue oft ſo feſt wird, daß das Thier ſogar den Tod des Herrn
nicht überlebt. Hier iſt auch am meiſten Bildungsfähigkeit, das Thier
lernt, was irgend gelernt werden kann durch ſinnliche Zeichen unmittel-
barer Art, und darunter ſind nicht die Prügel verſtanden: dieſe ſind nur
die negative Hälfte der Erziehungsmittel, die andere, poſitive ſind die
Erweiſungen der Liebe, die das Thier wohl verſteht. Das Thier lernt
ſogar Eigenthum anerkennen, aber freilich nur das ſeines Herrn, denn
nicht den Begriff des Eigenthums kann es faſſen, ſondern nur die Beziehung
ſeines Herrn zu ſeinem Beſitze, weil dieſe ſich ihm ſinnlich im Schalten
des Herrn damit darſtellt. Dieſe Unterordnung unter und Hingebung an
den Menſchen erhebt ſich von der Furcht zu einer bleibenden Ahnung,
keine eigene Perſönlichkeit, ſondern eine ſolche nur im Herrn zu beſitzen.
Dieß iſt die höchſte mögliche Analogie des Sittlichen im Thiere. Das
Thier iſt unſchuldig, weil es nicht Gutes und Böſes unterſcheidet, hier
aber iſt ein Anklang an Tugend und Schuld. Der Hund, der ein Cal-
facter wird, iſt wirklich demoraliſirt zu nennen. Dem Thiere iſt der
Menſch ſein Gott. Es kann das Allgemeine als ſolches nicht denken,
noch vorſtellen, ſondern nur Einzelnes ſchauend verſtehen. Der einzelne
Menſch ſtellt ihm durch Geſtalt, Blick u. ſ. w. die Vernunft, dieß All-
gemeine dar, es ahnt, daß ſein Helldunkel in ihm Licht iſt, das iſt ſeine
Religion. Die Naturreligion kehrte im Thiercultus die Sache um und
ſuchte im Helldunkel der Thierſeele das Göttliche; wo die Vernunft noch
nicht explizirt iſt, ſcheint das Implizirte das Abſolute, ſein Abgrund ver-
birgt ungetrennt, was im Menſchengeiſte getrennt iſt und ſich doch noch
nicht wieder im Gedanken zuſammenfaſſen kann.
§. 290.
Was ſich bewegt, iſt ein Zeitleben. Die Pflanze führt ein ſolches, aber
weil ſie als Ganzes noch räumlich gebunden iſt, ein unvollkommenes, das nicht
ſeiner ſelbſt als im Zeitwechſel mit ſich identiſch bleibender Einheit inne wird.
Der durch äußere Gewalt ihren verhärteten Theilen entlockte Klang iſt zwar
geeigneter, den Ausdruck des Seelenlebens in ſich aufzunehmen, als der des
unorganiſchen Stoffs (§. 269), aber ſie kann ſich zum Kundgeben ihres Zeit-
lebens nicht ſelbſt befreien, ſie kann ſich nicht vernehmen laſſen, weil ſie ſich
ſelbſt nicht vernimmt. Das Thier dagegen lebt nicht nur in der Zeit, ſondern
fühlt ſich auch als die im Wechſel des Zeitverlaufs in ſich zuſammengefaßte
Einheit. Dieſes innere Leben verräth es durch die zum Stimm-Organe gebil-
deten Athmungs- und Geſchmacks-Organe im Tone. Der Ausdruck deſſelben
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/125>, abgerufen am 22.02.2025.
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