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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847.

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Gelb; man wird schon deßwegen mit ganz anderer Stimmung unter
Tannen und Föhren, als unter Linden wandeln. Die meisten Bäume
entfärben sich im Herbste und werden gelblich, röthlich; dieß ist ein Haupt-
grund der wärmeren Stimmung, welche die Landschaft im Herbste annimmt,
und welche im Widerspruche mit der Trauer, welche zugleich das Fallen
der Blätter, die neblichte, kältere Luft hervorruft, ein so wehmüthig schönes
Gefühl hervorbringt.

2. Die Blume zeichnet sich außer der Farbenpracht namentlich durch
ihren feinen symmetrischen Bau aus: die Blätter stellen sich meist im
Kreise um ihren Mittelpunkt und bilden in ihrer bestimmteren Form und
Lage Kronen der verschiedensten Art, becherförmige, glockenförmige, trichter-
rad- krug- teller- sternförmige; einfache und gefüllte u. s. w. Aus diesem
reizenden Kinde der Pflanze steigt der Duft auf, den wir in berechtigter
Bildersprache die Seele der Pflanze nennen. Die Pflanzenwelt spricht
überhaupt entschieden auch durch den Geruch zum Gemüthe, wie denn der
theilweise Anspruch des Geruchsinns in §. 71 zugegeben ist. Nicht nur durch
den feineren Duft der Waldblumen, sondern auch durch den Gesundheit-
athmenden Geruch der Moose, der Bäume nimmt der strotzende Wald mit
den andern Sinnen auch diesen gefangen und vollendet das Gefühl der
Genesung, nicht etwa eben von Krankheit, wohl aber immer von den
spannenden Steigerungen der Gesellschaft und Bildung, womit wir unter
seinem Laubdach wandeln; der wohlriechende Duft der eigentlichen Blumen
aber ist so fein, so geistig, daß die Phantasie bestimmter angeregt und der
ganze Mensch zart und edel gestimmt wird. Trotz diesen ausgezeichneten
Eigenschaften nun hat die Aesthetik an der Blume einen ungleich geringeren
Stoff, als am Baum. Es ist schon gesagt, daß das Schöne eine gewisse
Größe fordert. Die tropische Pflanzenwelt bringt zwar sehr große Blumen
hervor; an den schattigen Ufern des Madalenenflußes in Südamerika
wächst nach Alex. v. Humboldt eine rankende Aristolochia, deren Blume,
von vier Fuß Umfang, sich die indischen Knaben in ihren Spielen über
die Scheitel ziehen. Allein gerade dieser Wucher ist für die Aesthetik im
wahren und strengen Sinne kein wahrhaft schöner Stoff; die inneren
Mängel des Vegetabilischen treiben sie, die Schönheit höher in andern
Reichen zu suchen, im vorliegenden Reiche aber fordert sie dieselbe in der
Größe und Gliederung eines ganzen Gebildes, wogegen die Ueppigkeit
des Theils bei solchen wuchernden Gewächsen sich auszudehnen scheint, um
die inneren ästhetischen Mängel zu überwachsen, und sie ebendadurch nur
um so mehr aufzeigt. Die Blume höher stellen, als den Baum, wäre
dasselbe, wie das Kind höher stellen, als den Mann, und dieselben, welche
jenes thun, thun dieses. Alle Pflanzen erscheinen uns als schlafende Wesen,
aber die Blume ist ein schlafendes Kind, der Baum ein schlafender Held.

Gelb; man wird ſchon deßwegen mit ganz anderer Stimmung unter
Tannen und Föhren, als unter Linden wandeln. Die meiſten Bäume
entfärben ſich im Herbſte und werden gelblich, röthlich; dieß iſt ein Haupt-
grund der wärmeren Stimmung, welche die Landſchaft im Herbſte annimmt,
und welche im Widerſpruche mit der Trauer, welche zugleich das Fallen
der Blätter, die neblichte, kältere Luft hervorruft, ein ſo wehmüthig ſchönes
Gefühl hervorbringt.

2. Die Blume zeichnet ſich außer der Farbenpracht namentlich durch
ihren feinen ſymmetriſchen Bau aus: die Blätter ſtellen ſich meiſt im
Kreiſe um ihren Mittelpunkt und bilden in ihrer beſtimmteren Form und
Lage Kronen der verſchiedenſten Art, becherförmige, glockenförmige, trichter-
rad- krug- teller- ſternförmige; einfache und gefüllte u. ſ. w. Aus dieſem
reizenden Kinde der Pflanze ſteigt der Duft auf, den wir in berechtigter
Bilderſprache die Seele der Pflanze nennen. Die Pflanzenwelt ſpricht
überhaupt entſchieden auch durch den Geruch zum Gemüthe, wie denn der
theilweiſe Anſpruch des Geruchſinns in §. 71 zugegeben iſt. Nicht nur durch
den feineren Duft der Waldblumen, ſondern auch durch den Geſundheit-
athmenden Geruch der Mooſe, der Bäume nimmt der ſtrotzende Wald mit
den andern Sinnen auch dieſen gefangen und vollendet das Gefühl der
Geneſung, nicht etwa eben von Krankheit, wohl aber immer von den
ſpannenden Steigerungen der Geſellſchaft und Bildung, womit wir unter
ſeinem Laubdach wandeln; der wohlriechende Duft der eigentlichen Blumen
aber iſt ſo fein, ſo geiſtig, daß die Phantaſie beſtimmter angeregt und der
ganze Menſch zart und edel geſtimmt wird. Trotz dieſen ausgezeichneten
Eigenſchaften nun hat die Aeſthetik an der Blume einen ungleich geringeren
Stoff, als am Baum. Es iſt ſchon geſagt, daß das Schöne eine gewiſſe
Größe fordert. Die tropiſche Pflanzenwelt bringt zwar ſehr große Blumen
hervor; an den ſchattigen Ufern des Madalenenflußes in Südamerika
wächst nach Alex. v. Humboldt eine rankende Ariſtolochia, deren Blume,
von vier Fuß Umfang, ſich die indiſchen Knaben in ihren Spielen über
die Scheitel ziehen. Allein gerade dieſer Wucher iſt für die Aeſthetik im
wahren und ſtrengen Sinne kein wahrhaft ſchöner Stoff; die inneren
Mängel des Vegetabiliſchen treiben ſie, die Schönheit höher in andern
Reichen zu ſuchen, im vorliegenden Reiche aber fordert ſie dieſelbe in der
Größe und Gliederung eines ganzen Gebildes, wogegen die Ueppigkeit
des Theils bei ſolchen wuchernden Gewächſen ſich auszudehnen ſcheint, um
die inneren äſthetiſchen Mängel zu überwachſen, und ſie ebendadurch nur
um ſo mehr aufzeigt. Die Blume höher ſtellen, als den Baum, wäre
daſſelbe, wie das Kind höher ſtellen, als den Mann, und dieſelben, welche
jenes thun, thun dieſes. Alle Pflanzen erſcheinen uns als ſchlafende Weſen,
aber die Blume iſt ein ſchlafendes Kind, der Baum ein ſchlafender Held.

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[89/0101] Gelb; man wird ſchon deßwegen mit ganz anderer Stimmung unter Tannen und Föhren, als unter Linden wandeln. Die meiſten Bäume entfärben ſich im Herbſte und werden gelblich, röthlich; dieß iſt ein Haupt- grund der wärmeren Stimmung, welche die Landſchaft im Herbſte annimmt, und welche im Widerſpruche mit der Trauer, welche zugleich das Fallen der Blätter, die neblichte, kältere Luft hervorruft, ein ſo wehmüthig ſchönes Gefühl hervorbringt. 2. Die Blume zeichnet ſich außer der Farbenpracht namentlich durch ihren feinen ſymmetriſchen Bau aus: die Blätter ſtellen ſich meiſt im Kreiſe um ihren Mittelpunkt und bilden in ihrer beſtimmteren Form und Lage Kronen der verſchiedenſten Art, becherförmige, glockenförmige, trichter- rad- krug- teller- ſternförmige; einfache und gefüllte u. ſ. w. Aus dieſem reizenden Kinde der Pflanze ſteigt der Duft auf, den wir in berechtigter Bilderſprache die Seele der Pflanze nennen. Die Pflanzenwelt ſpricht überhaupt entſchieden auch durch den Geruch zum Gemüthe, wie denn der theilweiſe Anſpruch des Geruchſinns in §. 71 zugegeben iſt. Nicht nur durch den feineren Duft der Waldblumen, ſondern auch durch den Geſundheit- athmenden Geruch der Mooſe, der Bäume nimmt der ſtrotzende Wald mit den andern Sinnen auch dieſen gefangen und vollendet das Gefühl der Geneſung, nicht etwa eben von Krankheit, wohl aber immer von den ſpannenden Steigerungen der Geſellſchaft und Bildung, womit wir unter ſeinem Laubdach wandeln; der wohlriechende Duft der eigentlichen Blumen aber iſt ſo fein, ſo geiſtig, daß die Phantaſie beſtimmter angeregt und der ganze Menſch zart und edel geſtimmt wird. Trotz dieſen ausgezeichneten Eigenſchaften nun hat die Aeſthetik an der Blume einen ungleich geringeren Stoff, als am Baum. Es iſt ſchon geſagt, daß das Schöne eine gewiſſe Größe fordert. Die tropiſche Pflanzenwelt bringt zwar ſehr große Blumen hervor; an den ſchattigen Ufern des Madalenenflußes in Südamerika wächst nach Alex. v. Humboldt eine rankende Ariſtolochia, deren Blume, von vier Fuß Umfang, ſich die indiſchen Knaben in ihren Spielen über die Scheitel ziehen. Allein gerade dieſer Wucher iſt für die Aeſthetik im wahren und ſtrengen Sinne kein wahrhaft ſchöner Stoff; die inneren Mängel des Vegetabiliſchen treiben ſie, die Schönheit höher in andern Reichen zu ſuchen, im vorliegenden Reiche aber fordert ſie dieſelbe in der Größe und Gliederung eines ganzen Gebildes, wogegen die Ueppigkeit des Theils bei ſolchen wuchernden Gewächſen ſich auszudehnen ſcheint, um die inneren äſthetiſchen Mängel zu überwachſen, und ſie ebendadurch nur um ſo mehr aufzeigt. Die Blume höher ſtellen, als den Baum, wäre daſſelbe, wie das Kind höher ſtellen, als den Mann, und dieſelben, welche jenes thun, thun dieſes. Alle Pflanzen erſcheinen uns als ſchlafende Weſen, aber die Blume iſt ein ſchlafendes Kind, der Baum ein ſchlafender Held.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,1. Reutlingen u. a., 1847, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0201_1847/101>, abgerufen am 22.11.2024.