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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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die jetzt als Ergebniß vor uns steht, ist nur das Unsichtbare, was
diese Formen zu einem Ganzen bindet. Als einzelnes Ganzes aber ge-
hört eine bestimmte ästhetische Erscheinung oder ein Kunstwerk selbst nur
Einer dieser Formen an; die Reihe der Werke eines Künstlers, eines
Volks, einer Zeit faßt sich wieder zu besonderen Ganzen zusammen,
die selbst noch, wiewohl hier ganz andere, neue, reale Momente als Ur-
sachen neuer Bestimmungen im Schönen einwirken, nicht das ganze
Schöne darstellen, sondern nach dem einen oder andern seiner Gegensätze
gravitiren, und das wahre, allgemeine Ganze, das Schöne als erfüllte
Einheit ist nur der Geist der ganzen Kunstwelt und ihrer ganzen Ge-
schichte. Zu wiederholen ist aber hier, daß die Schönheit, wie sich ihr
Wesen vor der Entfaltung der Gegensätze zeigte, nun zu einer besondern
Form herabgesetzt ist. Zwar wurde der Grazie des einfach Schönen
auch ihre Hohheit zuerkannt (§. 73), aber diese ist noch etwas Anderes,
als das Erhabene, sie hat sich noch nicht im Kampfe bewährt, wie die
Hohheit des Erhabenen. Die Venus von Melos ist eine weltbezwin-
gende Macht voll Hohheit; sie gehört noch dem einfach Schönen an, wie-
wohl die Mediceische wie ein liebliches Mädchen ohne Göttergröße neben
ihr steht; denn ihr Sieg über das Widerstrebende ist leicht und ein
Kampf ohne Kampf. Dagegen der Zeus des Phidias war zwar auf-
gefaßt als der milde Geber der Wohlfahrt und neigte sich hernieder
mit Olympischer Seligkeit, aber es war der Zeus, der die Titanen be-
kämpft hat und auf das Winken von dessen Augenbraunen die Himmel
donnern; er war erhaben. Nicht also das Liebliche ohne Hohheit ist jenes
zur besondern Gestalt herabgesetzte einfach Schöne; sieht man die Medi-
ceische Venus nicht neben der von Melos, so hat auch sie ihre Hohheit;
wo die Unendlichkeit des Ausdrucks verschwindet, da beginnen die blosen
Nachbarbegriffe des Schönen das Zierliche u. dergl.; das einfach Schöne ist
vielmehr nun das Liebliche, das nur seine Hohheit noch nicht zum herben
Kampfe erschlossen hat. Wo aber dieser ist, da ist nicht mehr das einfach
Schöne; wo die Komik ihn löst, ist nicht mehr das Erhabene und nicht mehr
dieses; wo dagegen diese kämpfenden Formen selbst beruhigt sind, da folgt
kein neues Schauspiel, sondern übersieht der Zuschauer, erfüllt von dem
Athem, der alle diese Formen durchdringt, das Ganze, und dieses ist die
erfüllte, vermittelte Schönheit.

2. Der Gegensatz des Objectiven und Subjectiven ist in den Formen
des Erhabenen und Komischen hervorgetreten und hat sich zuletzt im Humor
zusammengefaßt, welcher sowohl darum, weil er zugleich eine komische

die jetzt als Ergebniß vor uns ſteht, iſt nur das Unſichtbare, was
dieſe Formen zu einem Ganzen bindet. Als einzelnes Ganzes aber ge-
hört eine beſtimmte äſthetiſche Erſcheinung oder ein Kunſtwerk ſelbſt nur
Einer dieſer Formen an; die Reihe der Werke eines Künſtlers, eines
Volks, einer Zeit faßt ſich wieder zu beſonderen Ganzen zuſammen,
die ſelbſt noch, wiewohl hier ganz andere, neue, reale Momente als Ur-
ſachen neuer Beſtimmungen im Schönen einwirken, nicht das ganze
Schöne darſtellen, ſondern nach dem einen oder andern ſeiner Gegenſätze
gravitiren, und das wahre, allgemeine Ganze, das Schöne als erfüllte
Einheit iſt nur der Geiſt der ganzen Kunſtwelt und ihrer ganzen Ge-
ſchichte. Zu wiederholen iſt aber hier, daß die Schönheit, wie ſich ihr
Weſen vor der Entfaltung der Gegenſätze zeigte, nun zu einer beſondern
Form herabgeſetzt iſt. Zwar wurde der Grazie des einfach Schönen
auch ihre Hohheit zuerkannt (§. 73), aber dieſe iſt noch etwas Anderes,
als das Erhabene, ſie hat ſich noch nicht im Kampfe bewährt, wie die
Hohheit des Erhabenen. Die Venus von Melos iſt eine weltbezwin-
gende Macht voll Hohheit; ſie gehört noch dem einfach Schönen an, wie-
wohl die Mediceiſche wie ein liebliches Mädchen ohne Göttergröße neben
ihr ſteht; denn ihr Sieg über das Widerſtrebende iſt leicht und ein
Kampf ohne Kampf. Dagegen der Zeus des Phidias war zwar auf-
gefaßt als der milde Geber der Wohlfahrt und neigte ſich hernieder
mit Olympiſcher Seligkeit, aber es war der Zeus, der die Titanen be-
kämpft hat und auf das Winken von deſſen Augenbraunen die Himmel
donnern; er war erhaben. Nicht alſo das Liebliche ohne Hohheit iſt jenes
zur beſondern Geſtalt herabgeſetzte einfach Schöne; ſieht man die Medi-
ceiſche Venus nicht neben der von Melos, ſo hat auch ſie ihre Hohheit;
wo die Unendlichkeit des Ausdrucks verſchwindet, da beginnen die bloſen
Nachbarbegriffe des Schönen das Zierliche u. dergl.; das einfach Schöne iſt
vielmehr nun das Liebliche, das nur ſeine Hohheit noch nicht zum herben
Kampfe erſchloſſen hat. Wo aber dieſer iſt, da iſt nicht mehr das einfach
Schöne; wo die Komik ihn löst, iſt nicht mehr das Erhabene und nicht mehr
dieſes; wo dagegen dieſe kämpfenden Formen ſelbſt beruhigt ſind, da folgt
kein neues Schauſpiel, ſondern überſieht der Zuſchauer, erfüllt von dem
Athem, der alle dieſe Formen durchdringt, das Ganze, und dieſes iſt die
erfüllte, vermittelte Schönheit.

2. Der Gegenſatz des Objectiven und Subjectiven iſt in den Formen
des Erhabenen und Komiſchen hervorgetreten und hat ſich zuletzt im Humor
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[487/0501] die jetzt als Ergebniß vor uns ſteht, iſt nur das Unſichtbare, was dieſe Formen zu einem Ganzen bindet. Als einzelnes Ganzes aber ge- hört eine beſtimmte äſthetiſche Erſcheinung oder ein Kunſtwerk ſelbſt nur Einer dieſer Formen an; die Reihe der Werke eines Künſtlers, eines Volks, einer Zeit faßt ſich wieder zu beſonderen Ganzen zuſammen, die ſelbſt noch, wiewohl hier ganz andere, neue, reale Momente als Ur- ſachen neuer Beſtimmungen im Schönen einwirken, nicht das ganze Schöne darſtellen, ſondern nach dem einen oder andern ſeiner Gegenſätze gravitiren, und das wahre, allgemeine Ganze, das Schöne als erfüllte Einheit iſt nur der Geiſt der ganzen Kunſtwelt und ihrer ganzen Ge- ſchichte. Zu wiederholen iſt aber hier, daß die Schönheit, wie ſich ihr Weſen vor der Entfaltung der Gegenſätze zeigte, nun zu einer beſondern Form herabgeſetzt iſt. Zwar wurde der Grazie des einfach Schönen auch ihre Hohheit zuerkannt (§. 73), aber dieſe iſt noch etwas Anderes, als das Erhabene, ſie hat ſich noch nicht im Kampfe bewährt, wie die Hohheit des Erhabenen. Die Venus von Melos iſt eine weltbezwin- gende Macht voll Hohheit; ſie gehört noch dem einfach Schönen an, wie- wohl die Mediceiſche wie ein liebliches Mädchen ohne Göttergröße neben ihr ſteht; denn ihr Sieg über das Widerſtrebende iſt leicht und ein Kampf ohne Kampf. Dagegen der Zeus des Phidias war zwar auf- gefaßt als der milde Geber der Wohlfahrt und neigte ſich hernieder mit Olympiſcher Seligkeit, aber es war der Zeus, der die Titanen be- kämpft hat und auf das Winken von deſſen Augenbraunen die Himmel donnern; er war erhaben. Nicht alſo das Liebliche ohne Hohheit iſt jenes zur beſondern Geſtalt herabgeſetzte einfach Schöne; ſieht man die Medi- ceiſche Venus nicht neben der von Melos, ſo hat auch ſie ihre Hohheit; wo die Unendlichkeit des Ausdrucks verſchwindet, da beginnen die bloſen Nachbarbegriffe des Schönen das Zierliche u. dergl.; das einfach Schöne iſt vielmehr nun das Liebliche, das nur ſeine Hohheit noch nicht zum herben Kampfe erſchloſſen hat. Wo aber dieſer iſt, da iſt nicht mehr das einfach Schöne; wo die Komik ihn löst, iſt nicht mehr das Erhabene und nicht mehr dieſes; wo dagegen dieſe kämpfenden Formen ſelbſt beruhigt ſind, da folgt kein neues Schauſpiel, ſondern überſieht der Zuſchauer, erfüllt von dem Athem, der alle dieſe Formen durchdringt, das Ganze, und dieſes iſt die erfüllte, vermittelte Schönheit. 2. Der Gegenſatz des Objectiven und Subjectiven iſt in den Formen des Erhabenen und Komiſchen hervorgetreten und hat ſich zuletzt im Humor zuſammengefaßt, welcher ſowohl darum, weil er zugleich eine komiſche

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 487. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/501>, abgerufen am 24.11.2024.