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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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wird, so werfen sie sich dieser gegenüber auf die Sentimentalität des
geschichtlichen Jenseits, sie sind laudatores temporis acti, sie schwärmen
für die Biderbigkeit des Altvordern. Kaum findet man sie aber auf
diesem Boden, so drehen sie sich um, gehören der berechtigten Gegen-
wart und verlachen die alte Einfalt in ihrer Rohheit, Härte, Bornirtheit.
Hätten sie den vollen und ganzen Blick in die Tiefe des Geistes, so
würde sie aus diesem (unwillkürlichen) Widerspruch die einfache Er-
wägung befreien, daß der wahre Gehalt des Vergangenen selbst sich
eben in dem freien Bewußtseyn, das dieses stürzt, erhalten muß. Allein
hieran hindert den Humor ein ästhetisches Bedürfniß: die freie Gegen-
wart zerstört die Naturformen der alten Einfalt, welche wesentlich schön
waren. So würde z. B. ein Humorist der jetzigen Zeit vielleicht gerne
den letzten Respect vor dem Naturstande heroischer Zeiten mit aller ihrer
Grausamkeit, ihrem trüben Aberglauben, ihren Folterkammern und Schei-
terhaufen in den Fluß der Humors schleudern und ganz beherzigen, daß
die wahre Natur nur die Bildung ist, wenn nur jene rohe Zeit nicht
in Allem, was Auge und Gestaltensinn erfreut, bedeutender gewesen
wäre, als die modernen Zustände. Dieser nicht gewollte und nicht zum
wahrhaft Komischen gehörende Widerspruch im Humoristen könnte sich
nur dann lösen, wenn die kritische Bildung zugleich auf dem Momente
angekommen wäre, wo sie auch die Formen schon erzeugte, welche für
den Verlust der alten entschädigten und welche der Humor als ästhetische
Kraft fordert. Dann erst hätte der Humorist Alles in der Gegenwart
beisammen; er könnte mit ihr jede Erhabenheit, die von außen zwingen
will, belachen; er könnte aber auch sie selbst um der Häßlichkeit ihrer
gährenden Formen willen belachen und brauchte dazu nicht als Basis
das Jenseits der Vergangenheit mit ihren Autoritäten, sondern der innere
Kern ebenderselben Gegenwart, die Freiheit, welche ihm die Herstellung
neuer entsprechender und gediegener Formen verspräche, gäbe ihm die
Widerlage. Das neue Weltbild muß zwischen den Trümmern einer alten
Welt schon im vollen Werden begriffen und das Element desselben muß
Freiheit mit schönen und edlen Formen seyn. Nur in der Freiheit ist
der ganze und totale Humor möglich, von dem hier die Rede ist; seit
Aristophanes ist aber ein Staatsleben noch gar nirgends dagewesen,
worin ein Humorist, wie er es sammt dem inneren Mangel seines
Humors ist, geschweige denn ein Humorist ohne diesen Mangel möglich
gewesen wäre. Der Begriff dieses Humors ist nothwendig, seine Ver-
wirklichung bleibt Aufgabe. Zu erwähnen aber ist noch ein Geist, der

wird, ſo werfen ſie ſich dieſer gegenüber auf die Sentimentalität des
geſchichtlichen Jenſeits, ſie ſind laudatores temporis acti, ſie ſchwärmen
für die Biderbigkeit des Altvordern. Kaum findet man ſie aber auf
dieſem Boden, ſo drehen ſie ſich um, gehören der berechtigten Gegen-
wart und verlachen die alte Einfalt in ihrer Rohheit, Härte, Bornirtheit.
Hätten ſie den vollen und ganzen Blick in die Tiefe des Geiſtes, ſo
würde ſie aus dieſem (unwillkürlichen) Widerſpruch die einfache Er-
wägung befreien, daß der wahre Gehalt des Vergangenen ſelbſt ſich
eben in dem freien Bewußtſeyn, das dieſes ſtürzt, erhalten muß. Allein
hieran hindert den Humor ein äſthetiſches Bedürfniß: die freie Gegen-
wart zerſtört die Naturformen der alten Einfalt, welche weſentlich ſchön
waren. So würde z. B. ein Humoriſt der jetzigen Zeit vielleicht gerne
den letzten Reſpect vor dem Naturſtande heroiſcher Zeiten mit aller ihrer
Grauſamkeit, ihrem trüben Aberglauben, ihren Folterkammern und Schei-
terhaufen in den Fluß der Humors ſchleudern und ganz beherzigen, daß
die wahre Natur nur die Bildung iſt, wenn nur jene rohe Zeit nicht
in Allem, was Auge und Geſtaltenſinn erfreut, bedeutender geweſen
wäre, als die modernen Zuſtände. Dieſer nicht gewollte und nicht zum
wahrhaft Komiſchen gehörende Widerſpruch im Humoriſten könnte ſich
nur dann löſen, wenn die kritiſche Bildung zugleich auf dem Momente
angekommen wäre, wo ſie auch die Formen ſchon erzeugte, welche für
den Verluſt der alten entſchädigten und welche der Humor als äſthetiſche
Kraft fordert. Dann erſt hätte der Humoriſt Alles in der Gegenwart
beiſammen; er könnte mit ihr jede Erhabenheit, die von außen zwingen
will, belachen; er könnte aber auch ſie ſelbſt um der Häßlichkeit ihrer
gährenden Formen willen belachen und brauchte dazu nicht als Baſis
das Jenſeits der Vergangenheit mit ihren Autoritäten, ſondern der innere
Kern ebenderſelben Gegenwart, die Freiheit, welche ihm die Herſtellung
neuer entſprechender und gediegener Formen verſpräche, gäbe ihm die
Widerlage. Das neue Weltbild muß zwiſchen den Trümmern einer alten
Welt ſchon im vollen Werden begriffen und das Element desſelben muß
Freiheit mit ſchönen und edlen Formen ſeyn. Nur in der Freiheit iſt
der ganze und totale Humor möglich, von dem hier die Rede iſt; ſeit
Ariſtophanes iſt aber ein Staatsleben noch gar nirgends dageweſen,
worin ein Humoriſt, wie er es ſammt dem inneren Mangel ſeines
Humors iſt, geſchweige denn ein Humoriſt ohne dieſen Mangel möglich
geweſen wäre. Der Begriff dieſes Humors iſt nothwendig, ſeine Ver-
wirklichung bleibt Aufgabe. Zu erwähnen aber iſt noch ein Geiſt, der

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[472/0486] wird, ſo werfen ſie ſich dieſer gegenüber auf die Sentimentalität des geſchichtlichen Jenſeits, ſie ſind laudatores temporis acti, ſie ſchwärmen für die Biderbigkeit des Altvordern. Kaum findet man ſie aber auf dieſem Boden, ſo drehen ſie ſich um, gehören der berechtigten Gegen- wart und verlachen die alte Einfalt in ihrer Rohheit, Härte, Bornirtheit. Hätten ſie den vollen und ganzen Blick in die Tiefe des Geiſtes, ſo würde ſie aus dieſem (unwillkürlichen) Widerſpruch die einfache Er- wägung befreien, daß der wahre Gehalt des Vergangenen ſelbſt ſich eben in dem freien Bewußtſeyn, das dieſes ſtürzt, erhalten muß. Allein hieran hindert den Humor ein äſthetiſches Bedürfniß: die freie Gegen- wart zerſtört die Naturformen der alten Einfalt, welche weſentlich ſchön waren. So würde z. B. ein Humoriſt der jetzigen Zeit vielleicht gerne den letzten Reſpect vor dem Naturſtande heroiſcher Zeiten mit aller ihrer Grauſamkeit, ihrem trüben Aberglauben, ihren Folterkammern und Schei- terhaufen in den Fluß der Humors ſchleudern und ganz beherzigen, daß die wahre Natur nur die Bildung iſt, wenn nur jene rohe Zeit nicht in Allem, was Auge und Geſtaltenſinn erfreut, bedeutender geweſen wäre, als die modernen Zuſtände. Dieſer nicht gewollte und nicht zum wahrhaft Komiſchen gehörende Widerſpruch im Humoriſten könnte ſich nur dann löſen, wenn die kritiſche Bildung zugleich auf dem Momente angekommen wäre, wo ſie auch die Formen ſchon erzeugte, welche für den Verluſt der alten entſchädigten und welche der Humor als äſthetiſche Kraft fordert. Dann erſt hätte der Humoriſt Alles in der Gegenwart beiſammen; er könnte mit ihr jede Erhabenheit, die von außen zwingen will, belachen; er könnte aber auch ſie ſelbſt um der Häßlichkeit ihrer gährenden Formen willen belachen und brauchte dazu nicht als Baſis das Jenſeits der Vergangenheit mit ihren Autoritäten, ſondern der innere Kern ebenderſelben Gegenwart, die Freiheit, welche ihm die Herſtellung neuer entſprechender und gediegener Formen verſpräche, gäbe ihm die Widerlage. Das neue Weltbild muß zwiſchen den Trümmern einer alten Welt ſchon im vollen Werden begriffen und das Element desſelben muß Freiheit mit ſchönen und edlen Formen ſeyn. Nur in der Freiheit iſt der ganze und totale Humor möglich, von dem hier die Rede iſt; ſeit Ariſtophanes iſt aber ein Staatsleben noch gar nirgends dageweſen, worin ein Humoriſt, wie er es ſammt dem inneren Mangel ſeines Humors iſt, geſchweige denn ein Humoriſt ohne dieſen Mangel möglich geweſen wäre. Der Begriff dieſes Humors iſt nothwendig, ſeine Ver- wirklichung bleibt Aufgabe. Zu erwähnen aber iſt noch ein Geiſt, der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/486>, abgerufen am 25.11.2024.