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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Glauben auf, daß ein Mensch wahre Regenwolken zu Trockenseilen
gebrauche. Den Komödianten selber und später auch uns ist das Trock-
nen an einer festen Scheinwolke nichts Lächerliches. -- Ohne diese vor-
eilige Unterschiebung, gleichsam ein Syllogismus der Empfindung, würde
das Paaren alles Ungleichartigsten doch kein Lachen gebähren." Durch
diesen Satz wird nun Alles erklärt, was in §. 153. 154 zuerst thetisch
aufgestellt wurde über die Entbindung der Besinnung als das Moment,
wodurch das Häßliche komisch wird, und in §. 157. 158. 160 über die
Grenze der Komik, wie sie da eintritt, wo die Unterschiebung nicht möglich
ist. J. Paul selbst gibt diese Grenze in raschen Blicken an: "vollen-
dete Dummheit oder Verstandeslosigkeit wird schwer lächerlich, weil sie uns
das Leihen unserer contrastirenden Ansicht erschwert oder verbeut" u. s. w.
Hier folgt eine Bemerkung über die Nothwendigkeit eines tieferen, tota-
len, personifizirenden anthropomorphotischen Leihens bei bewußtlosen
Wesen, worüber vergl. §. 158, 4. -- "Daher wächst das Lächerliche
mit dem Verstande der lächerlichen Person. Daher bereitet sich der
Mensch, der sich über das Leben und dessen Motive erhebt, das längste
Luftspiel, weil er seine höheren Motive den tieferen Bestrebungen der
Menge unterlegen und dadurch diese zu Ungereimtheiten machen kann"
u. s. w. -- In §. 153 ist gesagt, daß das Bewußtseyn von dem an-
schauenden in das angeschaute Subject "irgendwie übergehen" müsse.
Dieser unbestimmte Ausdruck mußte gewählt werden, um der jetzigen
Auseinandersetzung Raum zu lassen.

2. Dieses Leihen muß natürlich unbewußt seyn und da es doch ein
bloses Leihen ist, so sagt dem Leihenden sein Bewußtsein, daß er eigent-
lich nicht leihen darf. Allein das Gefühl des wahren Sachverhalts,
mit welchem das angeschaute Subject in vollen Widerspruch tritt, ist zu
stark: er setzt daher trotzdem das Leihen fort. So straft sein Bewußt-
seyn das Unbewußte in ihm und über das strafende Bewußtseyn wächst
wieder das Unbewußte her. Er ist daher ein Thor wie der Verlachte,
beide sind, wie Flögel sagt, in demselben Spitale krank und tauschen
Thorheit um Thorheit. Schon dadurch ist die veraltete Erklärung des
komischen Lustgefühls aus einer Genugthuung der Selbstliebe widerlegt.
Weil Ruge dieses Moment nicht erfaßt hat, schließt seine Erklärung des
Komischen fälschlich mit einer einfachen Herstellung der Vernunft oder
wahren, freien Persönlichkeit (§. 175, Anm.). Dagegen hat J. Paul
dieses Herüber und Hinüber, dieses Reimenwollen und nicht Können
angedeutet (a. a. O. §. 30), wo er drei Reihen unterscheidet, die

Glauben auf, daß ein Menſch wahre Regenwolken zu Trockenſeilen
gebrauche. Den Komödianten ſelber und ſpäter auch uns iſt das Trock-
nen an einer feſten Scheinwolke nichts Lächerliches. — Ohne dieſe vor-
eilige Unterſchiebung, gleichſam ein Syllogismus der Empfindung, würde
das Paaren alles Ungleichartigſten doch kein Lachen gebähren.“ Durch
dieſen Satz wird nun Alles erklärt, was in §. 153. 154 zuerſt thetiſch
aufgeſtellt wurde über die Entbindung der Beſinnung als das Moment,
wodurch das Häßliche komiſch wird, und in §. 157. 158. 160 über die
Grenze der Komik, wie ſie da eintritt, wo die Unterſchiebung nicht möglich
iſt. J. Paul ſelbſt gibt dieſe Grenze in raſchen Blicken an: „vollen-
dete Dummheit oder Verſtandesloſigkeit wird ſchwer lächerlich, weil ſie uns
das Leihen unſerer contraſtirenden Anſicht erſchwert oder verbeut“ u. ſ. w.
Hier folgt eine Bemerkung über die Nothwendigkeit eines tieferen, tota-
len, perſonifizirenden anthropomorphotiſchen Leihens bei bewußtloſen
Weſen, worüber vergl. §. 158, 4. — „Daher wächst das Lächerliche
mit dem Verſtande der lächerlichen Perſon. Daher bereitet ſich der
Menſch, der ſich über das Leben und deſſen Motive erhebt, das längſte
Luftſpiel, weil er ſeine höheren Motive den tieferen Beſtrebungen der
Menge unterlegen und dadurch dieſe zu Ungereimtheiten machen kann“
u. ſ. w. — In §. 153 iſt geſagt, daß das Bewußtſeyn von dem an-
ſchauenden in das angeſchaute Subject „irgendwie übergehen“ müſſe.
Dieſer unbeſtimmte Ausdruck mußte gewählt werden, um der jetzigen
Auseinanderſetzung Raum zu laſſen.

2. Dieſes Leihen muß natürlich unbewußt ſeyn und da es doch ein
bloſes Leihen iſt, ſo ſagt dem Leihenden ſein Bewußtſein, daß er eigent-
lich nicht leihen darf. Allein das Gefühl des wahren Sachverhalts,
mit welchem das angeſchaute Subject in vollen Widerſpruch tritt, iſt zu
ſtark: er ſetzt daher trotzdem das Leihen fort. So ſtraft ſein Bewußt-
ſeyn das Unbewußte in ihm und über das ſtrafende Bewußtſeyn wächst
wieder das Unbewußte her. Er iſt daher ein Thor wie der Verlachte,
beide ſind, wie Flögel ſagt, in demſelben Spitale krank und tauſchen
Thorheit um Thorheit. Schon dadurch iſt die veraltete Erklärung des
komiſchen Luſtgefühls aus einer Genugthuung der Selbſtliebe widerlegt.
Weil Ruge dieſes Moment nicht erfaßt hat, ſchließt ſeine Erklärung des
Komiſchen fälſchlich mit einer einfachen Herſtellung der Vernunft oder
wahren, freien Perſönlichkeit (§. 175, Anm.). Dagegen hat J. Paul
dieſes Herüber und Hinüber, dieſes Reimenwollen und nicht Können
angedeutet (a. a. O. §. 30), wo er drei Reihen unterſcheidet, die

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[386/0400] Glauben auf, daß ein Menſch wahre Regenwolken zu Trockenſeilen gebrauche. Den Komödianten ſelber und ſpäter auch uns iſt das Trock- nen an einer feſten Scheinwolke nichts Lächerliches. — Ohne dieſe vor- eilige Unterſchiebung, gleichſam ein Syllogismus der Empfindung, würde das Paaren alles Ungleichartigſten doch kein Lachen gebähren.“ Durch dieſen Satz wird nun Alles erklärt, was in §. 153. 154 zuerſt thetiſch aufgeſtellt wurde über die Entbindung der Beſinnung als das Moment, wodurch das Häßliche komiſch wird, und in §. 157. 158. 160 über die Grenze der Komik, wie ſie da eintritt, wo die Unterſchiebung nicht möglich iſt. J. Paul ſelbſt gibt dieſe Grenze in raſchen Blicken an: „vollen- dete Dummheit oder Verſtandesloſigkeit wird ſchwer lächerlich, weil ſie uns das Leihen unſerer contraſtirenden Anſicht erſchwert oder verbeut“ u. ſ. w. Hier folgt eine Bemerkung über die Nothwendigkeit eines tieferen, tota- len, perſonifizirenden anthropomorphotiſchen Leihens bei bewußtloſen Weſen, worüber vergl. §. 158, 4. — „Daher wächst das Lächerliche mit dem Verſtande der lächerlichen Perſon. Daher bereitet ſich der Menſch, der ſich über das Leben und deſſen Motive erhebt, das längſte Luftſpiel, weil er ſeine höheren Motive den tieferen Beſtrebungen der Menge unterlegen und dadurch dieſe zu Ungereimtheiten machen kann“ u. ſ. w. — In §. 153 iſt geſagt, daß das Bewußtſeyn von dem an- ſchauenden in das angeſchaute Subject „irgendwie übergehen“ müſſe. Dieſer unbeſtimmte Ausdruck mußte gewählt werden, um der jetzigen Auseinanderſetzung Raum zu laſſen. 2. Dieſes Leihen muß natürlich unbewußt ſeyn und da es doch ein bloſes Leihen iſt, ſo ſagt dem Leihenden ſein Bewußtſein, daß er eigent- lich nicht leihen darf. Allein das Gefühl des wahren Sachverhalts, mit welchem das angeſchaute Subject in vollen Widerſpruch tritt, iſt zu ſtark: er ſetzt daher trotzdem das Leihen fort. So ſtraft ſein Bewußt- ſeyn das Unbewußte in ihm und über das ſtrafende Bewußtſeyn wächst wieder das Unbewußte her. Er iſt daher ein Thor wie der Verlachte, beide ſind, wie Flögel ſagt, in demſelben Spitale krank und tauſchen Thorheit um Thorheit. Schon dadurch iſt die veraltete Erklärung des komiſchen Luſtgefühls aus einer Genugthuung der Selbſtliebe widerlegt. Weil Ruge dieſes Moment nicht erfaßt hat, ſchließt ſeine Erklärung des Komiſchen fälſchlich mit einer einfachen Herſtellung der Vernunft oder wahren, freien Perſönlichkeit (§. 175, Anm.). Dagegen hat J. Paul dieſes Herüber und Hinüber, dieſes Reimenwollen und nicht Können angedeutet (a. a. O. §. 30), wo er drei Reihen unterſcheidet, die

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/400>, abgerufen am 22.11.2024.