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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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1. St. Schützes Versuch einer Theorie des Komischen verdient aus
unverschuldetem Dunkel hervorgezogen zu werden und hat gewiß mehr Werth,
als ihm Ruge zugesteht. Es fehlt an der gehörigen Schärfe, aber die
wesentlichen Elemente des Komischen sind als sehr brauchbares Material
für einen genaueren Bau zusammengestellt und der Hauptfund, die obige
Definition (S. 23 ff.) ist ein ganz glücklicher zu nennen. Aehnlich un-
vollkommen bei übriger Wahrheit ist Schleiermachers Bestimmung, das
Komische bringe den Gegensatz zwischen dem Wirklichen und dem, was durch
dasselbe (vermöge der Intention oder Freiheit des Handelnden) repräsentirt
werden soll, in dem Innern des menschlichen Lebens zur Anschauung
(Aesth. S. 195). Die Ausführung von Schützes Begriffsbestimmung
ist jedoch hier noch nicht an der Stelle, weil wir das Gegenglied, worein
die Freiheit versinkt, jenen neckischen Genius, wie ihn Schütze treffend
beschreibt, der bei den Handlungen der Menschen überall die Hand im
Spiele hat und, während sie in denselben frei zu seyn meinen, ihnen unver-
merkt etwas unterstellt, wodurch das, was Person ist, zur blosen Sache, zum
Mechanismus zu werden scheint, hier noch nicht darzustellen haben. Vor-
läufig aber stelle man sich, um diese "hinkende Freiheit" (a. a. O. S. 70)
als Wesen des Komischen sich deutlich zu machen, einen Menschen von
einiger Gabe der Selbsttäuschung vor, der rein für einen erhabenen Zweck
zu handeln meint und unbewußt vielmehr vom Instincte nach einem mit der
Erreichung des Zwecks äußerlich verbundenen kleinen Genusse getrieben
wird. Herr Schnaps in Göthes Bürgergeneral, der die Erstürmung
der Bastille darstellt, um zu einer sauren Milch zu gelangen, ist darum
nicht rein komisch, weil es ihm nur mit dem Hunger Ernst ist. Ein
treffendes Bild des Ganzen ist Trunkenheit, nicht übermäßig, doch bis zum
Faseln, Stottern und Taumeln. Der Wille ist da und zwar in großem
Selbstgefühle, aber Füße, Zunge und selbst Ideenverknüpfung handeln für
sich, ohne bei ihm anzufragen. Man erinnere sich auch an die Thiere
wieder, an welchen sich Schützes Darstellung ganz ergötzlich erprobt.
Freilich leihen wir ihnen nur durch Unterschiebung Freiheit; nun aber
erregt es das heiterste Lachen, wenn man sich z. B. die Bemühungen
eines Hunds, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs zu gelangen, als
die eines Stutzers vorstellt, der nach freier Wahl des Geschmacks einer
Dame den Hof macht, während er vielmehr so muß.

2. Das Reich der äußeren Zweckmäßigkeit konnte nur auf sehr be-
dingte Weise im einfach Schönen zugelassen werden, vergl. §. 23. Im
Erhabenen konnte es gar keinen Platz behaupten, weil die äußeren Zwecke

1. St. Schützes Verſuch einer Theorie des Komiſchen verdient aus
unverſchuldetem Dunkel hervorgezogen zu werden und hat gewiß mehr Werth,
als ihm Ruge zugeſteht. Es fehlt an der gehörigen Schärfe, aber die
weſentlichen Elemente des Komiſchen ſind als ſehr brauchbares Material
für einen genaueren Bau zuſammengeſtellt und der Hauptfund, die obige
Definition (S. 23 ff.) iſt ein ganz glücklicher zu nennen. Aehnlich un-
vollkommen bei übriger Wahrheit iſt Schleiermachers Beſtimmung, das
Komiſche bringe den Gegenſatz zwiſchen dem Wirklichen und dem, was durch
dasſelbe (vermöge der Intention oder Freiheit des Handelnden) repräſentirt
werden ſoll, in dem Innern des menſchlichen Lebens zur Anſchauung
(Aeſth. S. 195). Die Ausführung von Schützes Begriffsbeſtimmung
iſt jedoch hier noch nicht an der Stelle, weil wir das Gegenglied, worein
die Freiheit verſinkt, jenen neckiſchen Genius, wie ihn Schütze treffend
beſchreibt, der bei den Handlungen der Menſchen überall die Hand im
Spiele hat und, während ſie in denſelben frei zu ſeyn meinen, ihnen unver-
merkt etwas unterſtellt, wodurch das, was Perſon iſt, zur bloſen Sache, zum
Mechanismus zu werden ſcheint, hier noch nicht darzuſtellen haben. Vor-
läufig aber ſtelle man ſich, um dieſe „hinkende Freiheit“ (a. a. O. S. 70)
als Weſen des Komiſchen ſich deutlich zu machen, einen Menſchen von
einiger Gabe der Selbſttäuſchung vor, der rein für einen erhabenen Zweck
zu handeln meint und unbewußt vielmehr vom Inſtincte nach einem mit der
Erreichung des Zwecks äußerlich verbundenen kleinen Genuſſe getrieben
wird. Herr Schnaps in Göthes Bürgergeneral, der die Erſtürmung
der Baſtille darſtellt, um zu einer ſauren Milch zu gelangen, iſt darum
nicht rein komiſch, weil es ihm nur mit dem Hunger Ernſt iſt. Ein
treffendes Bild des Ganzen iſt Trunkenheit, nicht übermäßig, doch bis zum
Faſeln, Stottern und Taumeln. Der Wille iſt da und zwar in großem
Selbſtgefühle, aber Füße, Zunge und ſelbſt Ideenverknüpfung handeln für
ſich, ohne bei ihm anzufragen. Man erinnere ſich auch an die Thiere
wieder, an welchen ſich Schützes Darſtellung ganz ergötzlich erprobt.
Freilich leihen wir ihnen nur durch Unterſchiebung Freiheit; nun aber
erregt es das heiterſte Lachen, wenn man ſich z. B. die Bemühungen
eines Hunds, zur Befriedigung des Geſchlechtstriebs zu gelangen, als
die eines Stutzers vorſtellt, der nach freier Wahl des Geſchmacks einer
Dame den Hof macht, während er vielmehr ſo muß.

2. Das Reich der äußeren Zweckmäßigkeit konnte nur auf ſehr be-
dingte Weiſe im einfach Schönen zugelaſſen werden, vergl. §. 23. Im
Erhabenen konnte es gar keinen Platz behaupten, weil die äußeren Zwecke

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[364/0378] 1. St. Schützes Verſuch einer Theorie des Komiſchen verdient aus unverſchuldetem Dunkel hervorgezogen zu werden und hat gewiß mehr Werth, als ihm Ruge zugeſteht. Es fehlt an der gehörigen Schärfe, aber die weſentlichen Elemente des Komiſchen ſind als ſehr brauchbares Material für einen genaueren Bau zuſammengeſtellt und der Hauptfund, die obige Definition (S. 23 ff.) iſt ein ganz glücklicher zu nennen. Aehnlich un- vollkommen bei übriger Wahrheit iſt Schleiermachers Beſtimmung, das Komiſche bringe den Gegenſatz zwiſchen dem Wirklichen und dem, was durch dasſelbe (vermöge der Intention oder Freiheit des Handelnden) repräſentirt werden ſoll, in dem Innern des menſchlichen Lebens zur Anſchauung (Aeſth. S. 195). Die Ausführung von Schützes Begriffsbeſtimmung iſt jedoch hier noch nicht an der Stelle, weil wir das Gegenglied, worein die Freiheit verſinkt, jenen neckiſchen Genius, wie ihn Schütze treffend beſchreibt, der bei den Handlungen der Menſchen überall die Hand im Spiele hat und, während ſie in denſelben frei zu ſeyn meinen, ihnen unver- merkt etwas unterſtellt, wodurch das, was Perſon iſt, zur bloſen Sache, zum Mechanismus zu werden ſcheint, hier noch nicht darzuſtellen haben. Vor- läufig aber ſtelle man ſich, um dieſe „hinkende Freiheit“ (a. a. O. S. 70) als Weſen des Komiſchen ſich deutlich zu machen, einen Menſchen von einiger Gabe der Selbſttäuſchung vor, der rein für einen erhabenen Zweck zu handeln meint und unbewußt vielmehr vom Inſtincte nach einem mit der Erreichung des Zwecks äußerlich verbundenen kleinen Genuſſe getrieben wird. Herr Schnaps in Göthes Bürgergeneral, der die Erſtürmung der Baſtille darſtellt, um zu einer ſauren Milch zu gelangen, iſt darum nicht rein komiſch, weil es ihm nur mit dem Hunger Ernſt iſt. Ein treffendes Bild des Ganzen iſt Trunkenheit, nicht übermäßig, doch bis zum Faſeln, Stottern und Taumeln. Der Wille iſt da und zwar in großem Selbſtgefühle, aber Füße, Zunge und ſelbſt Ideenverknüpfung handeln für ſich, ohne bei ihm anzufragen. Man erinnere ſich auch an die Thiere wieder, an welchen ſich Schützes Darſtellung ganz ergötzlich erprobt. Freilich leihen wir ihnen nur durch Unterſchiebung Freiheit; nun aber erregt es das heiterſte Lachen, wenn man ſich z. B. die Bemühungen eines Hunds, zur Befriedigung des Geſchlechtstriebs zu gelangen, als die eines Stutzers vorſtellt, der nach freier Wahl des Geſchmacks einer Dame den Hof macht, während er vielmehr ſo muß. 2. Das Reich der äußeren Zweckmäßigkeit konnte nur auf ſehr be- dingte Weiſe im einfach Schönen zugelaſſen werden, vergl. §. 23. Im Erhabenen konnte es gar keinen Platz behaupten, weil die äußeren Zwecke

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 364. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/378>, abgerufen am 25.11.2024.