sinnig auffaßt, wozu Rhetorik 2, 5. 8. beizuziehen ist. Auch Lessing ist dort schon genannt; er hat das Verdienst, diesen Punkt in Ari- stoteles zuerst aufgehellt zu haben (Hamb. Dram. Abschn. 74 ff.). -- Beiläufig gesagt: schon diese Stellen der Rhetorik, ebensosehr aber alle in der Poetik über Furcht und Mitleid widerlegen auf den ersten Anblick die von Göthe (Nachgel. W. B. 6, S. 16--21) aufgestellte, von A. Stahr (deutsche Jahrb. April 1842) aufgenommene Ansicht. -- Die Furcht wird Mitleid, wenn das befürchtete Uebel einschlägt, sie ist zukünftiges Mitleid. Die Furcht hingegen, welche Furcht bleibt und, wenn das Uebel einschlagend mich trifft, in Schrecken, der nur mir gilt, übergeht, kann nicht Mitleid werden, sie bleibt also stoffartig. Umgekehrt: das Mitleid, das nicht das Ende einer Furcht ist, die ich theilte, die also einen allgemeinen Grund hat, ein Gefühl des allgemeinen Menschenlooses ist (E. Müller a. a. O. S. 65. 66), ist gemeines und rohes Mitleid. Aristoteles hatte also vorzüglich eine Reinigung dieser Affecte durch gegenseitiges Einschließen und Uebergang ineinander im Auge. Das Geheimniß sitzt demnach vorzüglich da, wo es Lessing (a. a. O. Abschn. 78) aufsucht: "wer den Sinn des Aristoteles ganz erschöpfen will, muß stückweise zeigen 1) wie das tragische Mitleid unser Mitleid, 2) wie die tragische Furcht unsere Furcht, 3) wie das tragische Mitleid unsere Furcht, und 4) wie die tragische Furcht unser Mitleid reinigen könne und wirklich reinige." Nun erst drittens ist beizuziehen, daß Aristoteles auch auf den Gehalt eingeht und namentlich Poet. C. 13 als Inhalt der Tragödie das Leiden großer Menschen ohne entsprechende Schuld verlangt. Sieht der Zuschauer, wie auch der Beste nicht ausgenommen ist, so wird dadurch erst sein Schmerz groß, erhaben, all- gemein (Ed. Müller a. a. O.). Auf diesem Punkte nun aber fehlt bei Aristoteles ein Hauptmoment. Er spricht zwar von einer amartia, aber er entwickelt den Begriff der Schuld nicht weiter und geht also auch nicht auf den Begriff der absoluten Gerechtigkeit über, deren Anschauung erst Furcht und Mitleid in wesentlich andere Gefühle ver- wandelt. Diesen Mangel hat Ed. Müller nicht gehörig hervorgehoben und Bohtz (die Idee des Tragischen S. 109 ff.) hat ihn ergänzt, ohne ihn bei Aristoteles aufzudecken. Für uns aber, dir wir nicht von der ersten Läuterung jener Gefühle aus ihrer Stoffartigkeit, sondern von ihrer weiteren Umbildung, nachdem sie zum voraus als ästhetische vorausgesetzt sind, zu reden haben, wird dies Moment das wichtigste seyn. -- In Beziehung auf den vorliegenden §., der keiner Erläuterung bedarf, ist nur noch hinzuzusetzen, daß, wenn Aristoteles unter toiou'ton
ſinnig auffaßt, wozu Rhetorik 2, 5. 8. beizuziehen iſt. Auch Leſſing iſt dort ſchon genannt; er hat das Verdienſt, dieſen Punkt in Ari- ſtoteles zuerſt aufgehellt zu haben (Hamb. Dram. Abſchn. 74 ff.). — Beiläufig geſagt: ſchon dieſe Stellen der Rhetorik, ebenſoſehr aber alle in der Poetik über Furcht und Mitleid widerlegen auf den erſten Anblick die von Göthe (Nachgel. W. B. 6, S. 16—21) aufgeſtellte, von A. Stahr (deutſche Jahrb. April 1842) aufgenommene Anſicht. — Die Furcht wird Mitleid, wenn das befürchtete Uebel einſchlägt, ſie iſt zukünftiges Mitleid. Die Furcht hingegen, welche Furcht bleibt und, wenn das Uebel einſchlagend mich trifft, in Schrecken, der nur mir gilt, übergeht, kann nicht Mitleid werden, ſie bleibt alſo ſtoffartig. Umgekehrt: das Mitleid, das nicht das Ende einer Furcht iſt, die ich theilte, die alſo einen allgemeinen Grund hat, ein Gefühl des allgemeinen Menſchenlooſes iſt (E. Müller a. a. O. S. 65. 66), iſt gemeines und rohes Mitleid. Ariſtoteles hatte alſo vorzüglich eine Reinigung dieſer Affecte durch gegenſeitiges Einſchließen und Uebergang ineinander im Auge. Das Geheimniß ſitzt demnach vorzüglich da, wo es Leſſing (a. a. O. Abſchn. 78) aufſucht: „wer den Sinn des Ariſtoteles ganz erſchöpfen will, muß ſtückweiſe zeigen 1) wie das tragiſche Mitleid unſer Mitleid, 2) wie die tragiſche Furcht unſere Furcht, 3) wie das tragiſche Mitleid unſere Furcht, und 4) wie die tragiſche Furcht unſer Mitleid reinigen könne und wirklich reinige.“ Nun erſt drittens iſt beizuziehen, daß Ariſtoteles auch auf den Gehalt eingeht und namentlich Poet. C. 13 als Inhalt der Tragödie das Leiden großer Menſchen ohne entſprechende Schuld verlangt. Sieht der Zuſchauer, wie auch der Beſte nicht ausgenommen iſt, ſo wird dadurch erſt ſein Schmerz groß, erhaben, all- gemein (Ed. Müller a. a. O.). Auf dieſem Punkte nun aber fehlt bei Ariſtoteles ein Hauptmoment. Er ſpricht zwar von einer ἁμαρτία, aber er entwickelt den Begriff der Schuld nicht weiter und geht alſo auch nicht auf den Begriff der abſoluten Gerechtigkeit über, deren Anſchauung erſt Furcht und Mitleid in weſentlich andere Gefühle ver- wandelt. Dieſen Mangel hat Ed. Müller nicht gehörig hervorgehoben und Bohtz (die Idee des Tragiſchen S. 109 ff.) hat ihn ergänzt, ohne ihn bei Ariſtoteles aufzudecken. Für uns aber, dir wir nicht von der erſten Läuterung jener Gefühle aus ihrer Stoffartigkeit, ſondern von ihrer weiteren Umbildung, nachdem ſie zum voraus als äſthetiſche vorausgeſetzt ſind, zu reden haben, wird dies Moment das wichtigſte ſeyn. — In Beziehung auf den vorliegenden §., der keiner Erläuterung bedarf, iſt nur noch hinzuzuſetzen, daß, wenn Ariſtoteles unter τοιȣ´των
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der Poetik über Furcht und Mitleid widerlegen auf den erſten Anblick die
von Göthe (Nachgel. W. B. 6, S. 16—21) aufgeſtellte, von A. Stahr
(deutſche Jahrb. April 1842) aufgenommene Anſicht. — Die Furcht wird
Mitleid, wenn das befürchtete Uebel einſchlägt, ſie iſt zukünftiges Mitleid.
Die Furcht hingegen, welche Furcht bleibt und, wenn das Uebel einſchlagend
mich trifft, in Schrecken, der nur mir gilt, übergeht, kann nicht Mitleid werden,
ſie bleibt alſo ſtoffartig. Umgekehrt: das Mitleid, das nicht das Ende
einer Furcht iſt, die ich theilte, die alſo einen allgemeinen Grund hat,
ein Gefühl des allgemeinen Menſchenlooſes iſt (E. Müller a. a. O. S.
65. 66), iſt gemeines und rohes Mitleid. Ariſtoteles hatte alſo vorzüglich
eine Reinigung dieſer Affecte durch gegenſeitiges Einſchließen und Uebergang
ineinander im Auge. Das Geheimniß ſitzt demnach vorzüglich da, wo es
Leſſing (a. a. O. Abſchn. 78) aufſucht: „wer den Sinn des Ariſtoteles
ganz erſchöpfen will, muß ſtückweiſe zeigen 1) wie das tragiſche Mitleid
unſer Mitleid, 2) wie die tragiſche Furcht unſere Furcht, 3) wie das
tragiſche Mitleid unſere Furcht, und 4) wie die tragiſche Furcht unſer
Mitleid reinigen könne und wirklich reinige.“ Nun erſt drittens iſt
beizuziehen, daß Ariſtoteles auch auf den Gehalt eingeht und namentlich
Poet. C. 13 als Inhalt der Tragödie das Leiden großer Menſchen ohne
entſprechende Schuld verlangt. Sieht der Zuſchauer, wie auch der Beſte nicht
ausgenommen iſt, ſo wird dadurch erſt ſein Schmerz groß, erhaben, all-
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bei Ariſtoteles ein Hauptmoment. Er ſpricht zwar von einer ἁμαρτία,
aber er entwickelt den Begriff der Schuld nicht weiter und geht alſo
auch nicht auf den Begriff der abſoluten Gerechtigkeit über, deren
Anſchauung erſt Furcht und Mitleid in weſentlich andere Gefühle ver-
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und Bohtz (die Idee des Tragiſchen S. 109 ff.) hat ihn ergänzt,
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von der erſten Läuterung jener Gefühle aus ihrer Stoffartigkeit, ſondern
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/344>, abgerufen am 25.11.2024.
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