Die trefflichste Darstellung ist jene in der Phänomenologie; wie die That "das Unbewegte bewegt", den schlummernden Geist der Einheit, die das Wesen und das Selbstbewußtseyn, den sittlichen Zweck und den ihm entgegengesetzten in sich im Einklang hält, gegen sich aufreizt, könnte mit tieferem Schicksalsgefühle nicht ausgesprochen werden. Um nun vorläufig ein Bild dieser Form zu geben, mag an folgende Beispiele erinnert werden, wobei die Fälle zu unterscheiden sind, wo der Conflict sich klar an zwei Kämpfer vertheilt, oder wo blos Einer den Kampf im Busen trägt, welchem die ver- letzte Seite nur in übermenschlicher oder rathender, mahnender, aber nicht mitkämpfender menschlicher Persönlichkeit zur Seite steht. Daß der erstere Fall der ästhetisch höhere ist, leuchtet von selbst ein. Erscheint dennoch ein Kunstwerk der zweiten Art als höher, so ist dies nicht, weil das Tragische darin bedeutender ist, sondern hier kommt theils die Kunstgattung, theils die Intensität der Behandlung und Anderes in Rechnung, was hier noch nicht zu verfolgen ist. Geschwisterliebe und Staatsgesetz in der Antigone des Sophokles. Sohnesliebe und Blutrache in der Orestie: hier sind nicht zwei Kämpfer, die Pietät spricht aus dem Munde der mitleidflehenden Mutter, die Blut- rache aus Apollo und Elektra, aber jene fällt schnell und nun spielt sich der tragische Conflict im Busen des Orestes ab, nur in übermensch- lichen Wesen ist er zugleich objectivirt. Rüdigers Conflict zwischen der Pflicht der Freundschaft gegen die Nibelungen und des Vasallen, welche letztere durch einen der Chriemhilde geschworenen Eid verstärkt ist; der Kampf ist innerlich. Im Mittelalter: Kampf der Kaiser und Päpste, d. h. des Staats, der sich als vernünftige Einheit bilden will, und der ihn auf- hebenden transcendenten Macht der Kirche. Der Kampf ist tragisch, weil beide Mächte in ihrer Zeit berechtigt sind. Hat sich dagegen eine Religions- form ausgelebt, so ist ihr Kampf gegen den Staat, der nur Einen, nicht zwei Willen in seinem Mittelpunkte dulden kann, sowie gegen die Auf- klärung des Geistes nicht mehr tragisch im Sinne der vorliegenden Form, sondern im Sinne der zweiten, es ist das Tragische der einfachen Schuld, nämlich des aus Selbsttäuschung bös gewordenen Willens. Conflict im Staate: demokratisches und monarchisches oder aristokratisches Prinzip (Shakespeare's Julius Cäsar und Coriolan, nur ist das Volk zu schlecht behandelt; französische Revolution); Kämpfe der Vasallen gegen den Thron im Feudalstaate, an den sie ein Recht haben, in dem Sinne, wie es §. 134, 2 erwähnt ist (Shakespeare's historische Stücke). Ende des Feudalstaats: Recht der ungebundenen heroischen Persönlichkeit und Recht des sich bildenden Polizeistaats; Göz von Berlichingen. Privat-
Die trefflichſte Darſtellung iſt jene in der Phänomenologie; wie die That „das Unbewegte bewegt“, den ſchlummernden Geiſt der Einheit, die das Weſen und das Selbſtbewußtſeyn, den ſittlichen Zweck und den ihm entgegengeſetzten in ſich im Einklang hält, gegen ſich aufreizt, könnte mit tieferem Schickſalsgefühle nicht ausgeſprochen werden. Um nun vorläufig ein Bild dieſer Form zu geben, mag an folgende Beiſpiele erinnert werden, wobei die Fälle zu unterſcheiden ſind, wo der Conflict ſich klar an zwei Kämpfer vertheilt, oder wo blos Einer den Kampf im Buſen trägt, welchem die ver- letzte Seite nur in übermenſchlicher oder rathender, mahnender, aber nicht mitkämpfender menſchlicher Perſönlichkeit zur Seite ſteht. Daß der erſtere Fall der äſthetiſch höhere iſt, leuchtet von ſelbſt ein. Erſcheint dennoch ein Kunſtwerk der zweiten Art als höher, ſo iſt dies nicht, weil das Tragiſche darin bedeutender iſt, ſondern hier kommt theils die Kunſtgattung, theils die Intenſität der Behandlung und Anderes in Rechnung, was hier noch nicht zu verfolgen iſt. Geſchwiſterliebe und Staatsgeſetz in der Antigone des Sophokles. Sohnesliebe und Blutrache in der Oreſtie: hier ſind nicht zwei Kämpfer, die Pietät ſpricht aus dem Munde der mitleidflehenden Mutter, die Blut- rache aus Apollo und Elektra, aber jene fällt ſchnell und nun ſpielt ſich der tragiſche Conflict im Buſen des Oreſtes ab, nur in übermenſch- lichen Weſen iſt er zugleich objectivirt. Rüdigers Conflict zwiſchen der Pflicht der Freundſchaft gegen die Nibelungen und des Vaſallen, welche letztere durch einen der Chriemhilde geſchworenen Eid verſtärkt iſt; der Kampf iſt innerlich. Im Mittelalter: Kampf der Kaiſer und Päpſte, d. h. des Staats, der ſich als vernünftige Einheit bilden will, und der ihn auf- hebenden transcendenten Macht der Kirche. Der Kampf iſt tragiſch, weil beide Mächte in ihrer Zeit berechtigt ſind. Hat ſich dagegen eine Religions- form ausgelebt, ſo iſt ihr Kampf gegen den Staat, der nur Einen, nicht zwei Willen in ſeinem Mittelpunkte dulden kann, ſowie gegen die Auf- klärung des Geiſtes nicht mehr tragiſch im Sinne der vorliegenden Form, ſondern im Sinne der zweiten, es iſt das Tragiſche der einfachen Schuld, nämlich des aus Selbſttäuſchung bös gewordenen Willens. Conflict im Staate: demokratiſches und monarchiſches oder ariſtokratiſches Prinzip (Shakespeare’s Julius Cäſar und Coriolan, nur iſt das Volk zu ſchlecht behandelt; franzöſiſche Revolution); Kämpfe der Vaſallen gegen den Thron im Feudalſtaate, an den ſie ein Recht haben, in dem Sinne, wie es §. 134, 2 erwähnt iſt (Shakespeare’s hiſtoriſche Stücke). Ende des Feudalſtaats: Recht der ungebundenen heroiſchen Perſönlichkeit und Recht des ſich bildenden Polizeiſtaats; Göz von Berlichingen. Privat-
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Die trefflichſte Darſtellung iſt jene in der Phänomenologie; wie die That
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entgegengeſetzten in ſich im Einklang hält, gegen ſich aufreizt, könnte mit
tieferem Schickſalsgefühle nicht ausgeſprochen werden. Um nun vorläufig ein
Bild dieſer Form zu geben, mag an folgende Beiſpiele erinnert werden, wobei
die Fälle zu unterſcheiden ſind, wo der Conflict ſich klar an zwei Kämpfer
vertheilt, oder wo blos Einer den Kampf im Buſen trägt, welchem die ver-
letzte Seite nur in übermenſchlicher oder rathender, mahnender, aber nicht
mitkämpfender menſchlicher Perſönlichkeit zur Seite ſteht. Daß der erſtere
Fall der äſthetiſch höhere iſt, leuchtet von ſelbſt ein. Erſcheint dennoch ein
Kunſtwerk der zweiten Art als höher, ſo iſt dies nicht, weil das Tragiſche
darin bedeutender iſt, ſondern hier kommt theils die Kunſtgattung, theils
die Intenſität der Behandlung und Anderes in Rechnung, was hier noch nicht zu
verfolgen iſt. Geſchwiſterliebe und Staatsgeſetz in der Antigone des Sophokles.
Sohnesliebe und Blutrache in der Oreſtie: hier ſind nicht zwei Kämpfer,
die Pietät ſpricht aus dem Munde der mitleidflehenden Mutter, die Blut-
rache aus Apollo und Elektra, aber jene fällt ſchnell und nun ſpielt ſich
der tragiſche Conflict im Buſen des Oreſtes ab, nur in übermenſch-
lichen Weſen iſt er zugleich objectivirt. Rüdigers Conflict zwiſchen der
Pflicht der Freundſchaft gegen die Nibelungen und des Vaſallen, welche
letztere durch einen der Chriemhilde geſchworenen Eid verſtärkt iſt; der
Kampf iſt innerlich. Im Mittelalter: Kampf der Kaiſer und Päpſte, d. h.
des Staats, der ſich als vernünftige Einheit bilden will, und der ihn auf-
hebenden transcendenten Macht der Kirche. Der Kampf iſt tragiſch, weil
beide Mächte in ihrer Zeit berechtigt ſind. Hat ſich dagegen eine Religions-
form ausgelebt, ſo iſt ihr Kampf gegen den Staat, der nur Einen, nicht
zwei Willen in ſeinem Mittelpunkte dulden kann, ſowie gegen die Auf-
klärung des Geiſtes nicht mehr tragiſch im Sinne der vorliegenden Form,
ſondern im Sinne der zweiten, es iſt das Tragiſche der einfachen Schuld,
nämlich des aus Selbſttäuſchung bös gewordenen Willens. Conflict im
Staate: demokratiſches und monarchiſches oder ariſtokratiſches Prinzip
(Shakespeare’s Julius Cäſar und Coriolan, nur iſt das Volk zu
ſchlecht behandelt; franzöſiſche Revolution); Kämpfe der Vaſallen gegen
den Thron im Feudalſtaate, an den ſie ein Recht haben, in dem Sinne,
wie es §. 134, 2 erwähnt iſt (Shakespeare’s hiſtoriſche Stücke). Ende
des Feudalſtaats: Recht der ungebundenen heroiſchen Perſönlichkeit und
Recht des ſich bildenden Polizeiſtaats; Göz von Berlichingen. Privat-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/328>, abgerufen am 22.11.2024.
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