bestimmter sittlicher Mächte aus, die einander wesentlich fordern und in der reinen Idee im Einklang stehen. Der reinste Fall nun ist, wenn dieser Gegen- satz nicht blos in Ein Subject fällt, so daß es nicht handeln kann, ohne das eine oder das andere Glied desselben zu verletzen, sondern wenn jedes der Glieder einem von zwei Subjecten, die als Vorkämpfer einer Vielheit von Subjecten sich gegenüberstehen, als sein Pathos zufällt.
Aristoteles (Poet. 14) sagt, indem er die Stoffe aufsucht, welche tragische Furcht und Mitleid erregen: "wenn ein Feind den andern tödtet, so liegt weder in der Handlung selbst, noch in dem Vorhaben etwas Mitleidbewegendes außer dem, was aus dem Leiden selbst entspringt; ebensowenig bei denen, welche weder Freund noch Feind sind. Bricht aber zerstörende Leidenschaft in Verhältnissen aus, deren Wesen die Liebe ist, wie wenn ein Bruder den Bruder oder ein Sohn den Vater oder eine Mutter den Sohn oder ein Sohn die Mutter tödtet oder tödten will oder sonst etwas der Art thut, -- solche Stoffe muß man suchen." Diese Stelle enthält einen sehr treffenden Wink für die wahrhaft tra- gischen Collisionen, ist aber keineswegs allein für die vorliegende dritte Form des Tragischen als Beleg anzuführen, wie Rötscher zu wollen scheint, wenn er (Staatsler. v. Rotteck und Welcker B. 15. Theater und dram. Poesie S. 390) dieselbe auf den Conflict solcher Mächte anwendet, welche "durch ihre eigene Natur aufeinander bezogen, d. h. als Gegensätze gegeneinander gespannt sind." Die Worte des Aristoteles gehen nämlich ebenso auf die zweite Form, die einfache Schuld, wie auf die dritte, den tragischen Conflict; denn wenn ein Bruder den Bruder u. s. w. tödtet, so kann dies geschehen aus Haß überhaupt und Schlechtig- keit, wie es Richard III thut, es kann ihn aber auch ein berechtigtes Pathos dazu treiben, wie den Polyneikes gegen Eteokles, der ihm seinen Antheil an der Herrschaft über Thebe verweigert. Tragisch ist auch die erstere Form, denn sie verletzt, was durch Liebe gebunden seyn soll, tragischer aber die letztere, denn hier erst geräth mit der Liebe ein anderes Gesetz, das Recht, in Streit, dem nicht Genüge geschehen kann, ohne jene zu verletzen. Aristoteles hat beide Formen nicht unterschieden. Daß auch die erstere, von uns als zweite aufgeführte ein Verhältniß voraussetzt, wo Einheit herrschen sollte, liegt einfach in dem dort aufgeführten Begriffe der Schuld; denn diese ist nur, wo verletzt wird, was geachtet werden soll. Die dritte, vorliegende Form nun hat Hegel in mehreren Stellen seiner Werke entwickelt: in der Phä- nomenol. S. 346 ff. 550 ff. Religionsphilos. 2, 113 ff. Aesth. 3, 527 ff.
beſtimmter ſittlicher Mächte aus, die einander weſentlich fordern und in der reinen Idee im Einklang ſtehen. Der reinſte Fall nun iſt, wenn dieſer Gegen- ſatz nicht blos in Ein Subject fällt, ſo daß es nicht handeln kann, ohne das eine oder das andere Glied desſelben zu verletzen, ſondern wenn jedes der Glieder einem von zwei Subjecten, die als Vorkämpfer einer Vielheit von Subjecten ſich gegenüberſtehen, als ſein Pathos zufällt.
Ariſtoteles (Poet. 14) ſagt, indem er die Stoffe aufſucht, welche tragiſche Furcht und Mitleid erregen: „wenn ein Feind den andern tödtet, ſo liegt weder in der Handlung ſelbſt, noch in dem Vorhaben etwas Mitleidbewegendes außer dem, was aus dem Leiden ſelbſt entſpringt; ebenſowenig bei denen, welche weder Freund noch Feind ſind. Bricht aber zerſtörende Leidenſchaft in Verhältniſſen aus, deren Weſen die Liebe iſt, wie wenn ein Bruder den Bruder oder ein Sohn den Vater oder eine Mutter den Sohn oder ein Sohn die Mutter tödtet oder tödten will oder ſonſt etwas der Art thut, — ſolche Stoffe muß man ſuchen.“ Dieſe Stelle enthält einen ſehr treffenden Wink für die wahrhaft tra- giſchen Colliſionen, iſt aber keineswegs allein für die vorliegende dritte Form des Tragiſchen als Beleg anzuführen, wie Rötſcher zu wollen ſcheint, wenn er (Staatsler. v. Rotteck und Welcker B. 15. Theater und dram. Poeſie S. 390) dieſelbe auf den Conflict ſolcher Mächte anwendet, welche „durch ihre eigene Natur aufeinander bezogen, d. h. als Gegenſätze gegeneinander geſpannt ſind.“ Die Worte des Ariſtoteles gehen nämlich ebenſo auf die zweite Form, die einfache Schuld, wie auf die dritte, den tragiſchen Conflict; denn wenn ein Bruder den Bruder u. ſ. w. tödtet, ſo kann dies geſchehen aus Haß überhaupt und Schlechtig- keit, wie es Richard III thut, es kann ihn aber auch ein berechtigtes Pathos dazu treiben, wie den Polyneikes gegen Eteokles, der ihm ſeinen Antheil an der Herrſchaft über Thebe verweigert. Tragiſch iſt auch die erſtere Form, denn ſie verletzt, was durch Liebe gebunden ſeyn ſoll, tragiſcher aber die letztere, denn hier erſt geräth mit der Liebe ein anderes Geſetz, das Recht, in Streit, dem nicht Genüge geſchehen kann, ohne jene zu verletzen. Ariſtoteles hat beide Formen nicht unterſchieden. Daß auch die erſtere, von uns als zweite aufgeführte ein Verhältniß vorausſetzt, wo Einheit herrſchen ſollte, liegt einfach in dem dort aufgeführten Begriffe der Schuld; denn dieſe iſt nur, wo verletzt wird, was geachtet werden ſoll. Die dritte, vorliegende Form nun hat Hegel in mehreren Stellen ſeiner Werke entwickelt: in der Phä- nomenol. S. 346 ff. 550 ff. Religionsphiloſ. 2, 113 ff. Aeſth. 3, 527 ff.
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beſtimmter ſittlicher Mächte aus, die einander weſentlich fordern und in der
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ſatz nicht blos in Ein Subject fällt, ſo daß es nicht handeln kann, ohne das
eine oder das andere Glied desſelben zu verletzen, ſondern wenn jedes der
Glieder einem von zwei Subjecten, die als Vorkämpfer einer Vielheit von
Subjecten ſich gegenüberſtehen, als ſein Pathos zufällt.
Ariſtoteles (Poet. 14) ſagt, indem er die Stoffe aufſucht, welche
tragiſche Furcht und Mitleid erregen: „wenn ein Feind den andern tödtet,
ſo liegt weder in der Handlung ſelbſt, noch in dem Vorhaben etwas
Mitleidbewegendes außer dem, was aus dem Leiden ſelbſt entſpringt;
ebenſowenig bei denen, welche weder Freund noch Feind ſind. Bricht
aber zerſtörende Leidenſchaft in Verhältniſſen aus, deren Weſen die Liebe
iſt, wie wenn ein Bruder den Bruder oder ein Sohn den Vater oder
eine Mutter den Sohn oder ein Sohn die Mutter tödtet oder tödten
will oder ſonſt etwas der Art thut, — ſolche Stoffe muß man ſuchen.“
Dieſe Stelle enthält einen ſehr treffenden Wink für die wahrhaft tra-
giſchen Colliſionen, iſt aber keineswegs allein für die vorliegende dritte
Form des Tragiſchen als Beleg anzuführen, wie Rötſcher zu wollen
ſcheint, wenn er (Staatsler. v. Rotteck und Welcker B. 15. Theater
und dram. Poeſie S. 390) dieſelbe auf den Conflict ſolcher Mächte
anwendet, welche „durch ihre eigene Natur aufeinander bezogen, d. h.
als Gegenſätze gegeneinander geſpannt ſind.“ Die Worte des Ariſtoteles
gehen nämlich ebenſo auf die zweite Form, die einfache Schuld, wie auf
die dritte, den tragiſchen Conflict; denn wenn ein Bruder den Bruder
u. ſ. w. tödtet, ſo kann dies geſchehen aus Haß überhaupt und Schlechtig-
keit, wie es Richard III thut, es kann ihn aber auch ein berechtigtes
Pathos dazu treiben, wie den Polyneikes gegen Eteokles, der ihm ſeinen
Antheil an der Herrſchaft über Thebe verweigert. Tragiſch iſt auch die
erſtere Form, denn ſie verletzt, was durch Liebe gebunden ſeyn ſoll, tragiſcher
aber die letztere, denn hier erſt geräth mit der Liebe ein anderes Geſetz,
das Recht, in Streit, dem nicht Genüge geſchehen kann, ohne jene zu verletzen.
Ariſtoteles hat beide Formen nicht unterſchieden. Daß auch die erſtere, von
uns als zweite aufgeführte ein Verhältniß vorausſetzt, wo Einheit herrſchen
ſollte, liegt einfach in dem dort aufgeführten Begriffe der Schuld; denn dieſe iſt
nur, wo verletzt wird, was geachtet werden ſoll. Die dritte, vorliegende Form
nun hat Hegel in mehreren Stellen ſeiner Werke entwickelt: in der Phä-
nomenol. S. 346 ff. 550 ff. Religionsphiloſ. 2, 113 ff. Aeſth. 3, 527 ff.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/327>, abgerufen am 22.11.2024.
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