widerlegen, denn die höchste Bosheit findet noch den Anklang sowohl des Mitleids als der Furcht, weil der Bösewicht keineswegs aus der Gattung tritt und seine höchste Schuld noch auf einen Rest der Menschheit und der Verkehrung aus Unschuld hinweist. Das tiefe Bedürfniß der Liebe, das Macbeth und Richard III vor ihrem Untergang aussprechen, erregt die innerste Theilnahme, und wie wir ihnen auch den Untergang gönnen, wir zittern doch mit ihnen für uns selbst, denn der Dämon, den hier die Nemesis ereilt, schlummert auch in uns. Der Grund sitzt aber tiefer. Im antiken Staate, dem das Gute ein khreston war, gilt das Böse als etwas nicht Positives, sondern kläglich Elendes, als ein phaulon; der Böse ist Taugenichts, daher untragisch. Erst nach der Auflösung der antiken Republik wurde die Größe in der Bosheit möglich. Weitere Momente entwickelt Rötscher (Cyclus dramatischer Charaktere S. 39 ff.). Zwar treten in der antiken Tragödie ungeheure Verbrechen auf, Thaten, welche die Menschheit beleidigen, werden selbst von Weibern begangen. Aber es sind einzelne Thaten der Rache, es sind nicht Reihenfolgen von Verbrechen aus Bosheit, die zum Charakter geworden. In unserer allgemeinen Begriffslehre aber ist die Bestimmung so weit zu ziehen, daß für jede Form des Tragischen, also auch die des modernen Ideals, worin vollendet böse Charaktere auftreten, Raum ist. Die Schuld des Bösen nun besteht nicht in der Einseitigkeit eines berechtigten Pathos im Kampfe mit einem ebenfalls einseitigen und berechtigten; die Seite wenigstens, wodurch es in einem geschichtlichen Rechte ist, gehört zunächst nicht hie- her, denn der Böse will nicht Gerechtigkeit üben an solchen, die es ver- schuldet haben, sondern er will nur seine bösen Zwecke, und was er Gerechtes wirkt, das wirkt die Weltgeschichte durch ihn ohne sein Ver- dienst. Ebendaher ist seine Schuld auch unvermischt; der Rest des Guten in ihm gehört ebenfalls nicht hieher, es handelt sich um seine That, und diese ist einfache, volle Verletzung des sittlichen Complexes.
§. 132.
Die Schuld verletzt auf irgend einem Punkte den sittlichen Complex. Es leiden durch sie andere Subjecte, und da die Schuld einfach ist, so scheint es zunächst, sie leiden unschuldig. Allein dann wären sie reine Objecte der Schuld des tragischen Subjects und für den ästhetischen Zusammenhang blose Mittel, was dem absoluten Werthe der Subjectivität, sie wäre denn noch ganz unent- wickelt, widerspricht. Daher dürfen sie nicht als völlig schuldlos erscheinen,
widerlegen, denn die höchſte Bosheit findet noch den Anklang ſowohl des Mitleids als der Furcht, weil der Böſewicht keineswegs aus der Gattung tritt und ſeine höchſte Schuld noch auf einen Reſt der Menſchheit und der Verkehrung aus Unſchuld hinweist. Das tiefe Bedürfniß der Liebe, das Macbeth und Richard III vor ihrem Untergang ausſprechen, erregt die innerſte Theilnahme, und wie wir ihnen auch den Untergang gönnen, wir zittern doch mit ihnen für uns ſelbſt, denn der Dämon, den hier die Nemeſis ereilt, ſchlummert auch in uns. Der Grund ſitzt aber tiefer. Im antiken Staate, dem das Gute ein χρηϛὸν war, gilt das Böſe als etwas nicht Poſitives, ſondern kläglich Elendes, als ein φαῦλον; der Böſe iſt Taugenichts, daher untragiſch. Erſt nach der Auflöſung der antiken Republik wurde die Größe in der Bosheit möglich. Weitere Momente entwickelt Rötſcher (Cyclus dramatiſcher Charaktere S. 39 ff.). Zwar treten in der antiken Tragödie ungeheure Verbrechen auf, Thaten, welche die Menſchheit beleidigen, werden ſelbſt von Weibern begangen. Aber es ſind einzelne Thaten der Rache, es ſind nicht Reihenfolgen von Verbrechen aus Bosheit, die zum Charakter geworden. In unſerer allgemeinen Begriffslehre aber iſt die Beſtimmung ſo weit zu ziehen, daß für jede Form des Tragiſchen, alſo auch die des modernen Ideals, worin vollendet böſe Charaktere auftreten, Raum iſt. Die Schuld des Böſen nun beſteht nicht in der Einſeitigkeit eines berechtigten Pathos im Kampfe mit einem ebenfalls einſeitigen und berechtigten; die Seite wenigſtens, wodurch es in einem geſchichtlichen Rechte iſt, gehört zunächſt nicht hie- her, denn der Böſe will nicht Gerechtigkeit üben an ſolchen, die es ver- ſchuldet haben, ſondern er will nur ſeine böſen Zwecke, und was er Gerechtes wirkt, das wirkt die Weltgeſchichte durch ihn ohne ſein Ver- dienſt. Ebendaher iſt ſeine Schuld auch unvermiſcht; der Reſt des Guten in ihm gehört ebenfalls nicht hieher, es handelt ſich um ſeine That, und dieſe iſt einfache, volle Verletzung des ſittlichen Complexes.
§. 132.
Die Schuld verletzt auf irgend einem Punkte den ſittlichen Complex. Es leiden durch ſie andere Subjecte, und da die Schuld einfach iſt, ſo ſcheint es zunächſt, ſie leiden unſchuldig. Allein dann wären ſie reine Objecte der Schuld des tragiſchen Subjects und für den äſthetiſchen Zuſammenhang bloſe Mittel, was dem abſoluten Werthe der Subjectivität, ſie wäre denn noch ganz unent- wickelt, widerſpricht. Daher dürfen ſie nicht als völlig ſchuldlos erſcheinen,
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tritt und ſeine höchſte Schuld noch auf einen Reſt der Menſchheit und der
Verkehrung aus Unſchuld hinweist. Das tiefe Bedürfniß der Liebe, das
Macbeth und Richard III vor ihrem Untergang ausſprechen, erregt die
innerſte Theilnahme, und wie wir ihnen auch den Untergang gönnen,
wir zittern doch mit ihnen für uns ſelbſt, denn der Dämon, den hier die
Nemeſis ereilt, ſchlummert auch in uns. Der Grund ſitzt aber tiefer.
Im antiken Staate, dem das Gute ein χρηϛὸν war, gilt das Böſe als
etwas nicht Poſitives, ſondern kläglich Elendes, als ein φαῦλον; der
Böſe iſt Taugenichts, daher untragiſch. Erſt nach der Auflöſung der
antiken Republik wurde die Größe in der Bosheit möglich. Weitere
Momente entwickelt Rötſcher (Cyclus dramatiſcher Charaktere S. 39 ff.).
Zwar treten in der antiken Tragödie ungeheure Verbrechen auf, Thaten,
welche die Menſchheit beleidigen, werden ſelbſt von Weibern begangen.
Aber es ſind einzelne Thaten der Rache, es ſind nicht Reihenfolgen
von Verbrechen aus Bosheit, die zum Charakter geworden. In unſerer
allgemeinen Begriffslehre aber iſt die Beſtimmung ſo weit zu ziehen, daß
für jede Form des Tragiſchen, alſo auch die des modernen Ideals, worin
vollendet böſe Charaktere auftreten, Raum iſt. Die Schuld des Böſen
nun beſteht nicht in der Einſeitigkeit eines berechtigten Pathos im Kampfe
mit einem ebenfalls einſeitigen und berechtigten; die Seite wenigſtens,
wodurch es in einem geſchichtlichen Rechte iſt, gehört zunächſt nicht hie-
her, denn der Böſe will nicht Gerechtigkeit üben an ſolchen, die es ver-
ſchuldet haben, ſondern er will nur ſeine böſen Zwecke, und was er
Gerechtes wirkt, das wirkt die Weltgeſchichte durch ihn ohne ſein Ver-
dienſt. Ebendaher iſt ſeine Schuld auch unvermiſcht; der Reſt des
Guten in ihm gehört ebenfalls nicht hieher, es handelt ſich um ſeine
That, und dieſe iſt einfache, volle Verletzung des ſittlichen Complexes.
§. 132.
Die Schuld verletzt auf irgend einem Punkte den ſittlichen Complex. Es
leiden durch ſie andere Subjecte, und da die Schuld einfach iſt, ſo ſcheint es
zunächſt, ſie leiden unſchuldig. Allein dann wären ſie reine Objecte der Schuld
des tragiſchen Subjects und für den äſthetiſchen Zuſammenhang bloſe Mittel,
was dem abſoluten Werthe der Subjectivität, ſie wäre denn noch ganz unent-
wickelt, widerſpricht. Daher dürfen ſie nicht als völlig ſchuldlos erſcheinen,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/320>, abgerufen am 22.11.2024.
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