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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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gehenden Leiden, denen es sich nicht entziehen kann, als Rückwirkung seiner
Schuld ausdrücklich anerkenne, vergönnt, die gute Sache siegreich durchzusetzen
2und mit ihr das eigene Glück zu retten. Die Negation ist demnach auch hier
in der Position enthalten, allein diese Form ist dennoch, wie auf allen Stufen
des Erhabenen, die ungleich schwächere, denn hier, wie überall, beurkundet sich
das eigentliche Subject des Erhabenen als positive Macht erst, wenn es die
Selbständigkeit der in es aufgenommenen niedrigeren Formen wirklich negirt.

1. Das Bewußtseyn, die eigene Größe der absoluten zu verdanken,
tritt in Helden des handelnden Willens, weil sie überhaupt schließlich
unbewußtere Naturen sind, nur in naiven Momenten als dunkle Ahnung
eines Weltgesetzes, das sie vollstrecken, hervor, wie man z. B. einige
geistreiche fatalistische Aeußerungen von Napoleon kennt; nur in geistigen
Helden, welche freilich blos unter der in §. 103 genannten Bedingung
ästhetische Erscheinungen sind, ist dieses Bewußtseyn heller, z. B. in
Künstlern, Religionshelden, wie Luther, in Philosophen und überhaupt
Befreiern des denkenden Geistes. Bei Völkern dagegen, wenn sie für
ihre höchsten Güter mit Bewußtseyn kämpfen, kann es nicht fehlen, daß,
mögen auch die kämpfenden Kräfte zunächst ganz in der unbewußteren
Region des realen Geistes sich bewegen, schon durch den Austausch der
tiefer Blickenden mit den Andern sich ein Bewußtseyn der weltgeschichtlichen
Aufgabe, der Bestimmung sich erzeugt, und daß sie demgemäß die Leiden
und Opfer, die der Sieg kostet, als gerechte Buße für die vorhergehende
Erschlaffung, Uneinigkeit, für die mancherlei Verletzungen berechtigter
Sphären, ohne welche es im Kampfe selbst nicht abgehen kann, demnach
als gerechte Strafe der Schuld erkennen und daher sich im Triumphe
selbst mäßigen, wie Odysseus, wenn er nach der Tödtung der Freier
zur Eurykleia sagt:
Freue dich, Mutter, im Geist, doch enthalte dich jauchzenden Ausrufs!
Sünde ja ist es, sich stolz erschlagener Männer zu rühmen.

2. Es ist in dieser positiven Form immer noch ein Schein, als sey
das erhabene Subject das Subject im Erhabenen. Freilich konnte nur
eine gewisse Periode der Poesie diesen Schein zu jener falschen Gestalt
des Tragischen verkehren, von welcher der Dichter sagt, daß es am Ende
heiße: wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch.
Jener Schein ist aber allerdings erst aufgehoben, wenn das Gefäß
wirklich den erfüllenden Inhalt, der mehr ist als es, nicht mehr zu
fassen vermag (vergl. §. 85, 2). Auch die positive Form ist näher

gehenden Leiden, denen es ſich nicht entziehen kann, als Rückwirkung ſeiner
Schuld ausdrücklich anerkenne, vergönnt, die gute Sache ſiegreich durchzuſetzen
2und mit ihr das eigene Glück zu retten. Die Negation iſt demnach auch hier
in der Poſition enthalten, allein dieſe Form iſt dennoch, wie auf allen Stufen
des Erhabenen, die ungleich ſchwächere, denn hier, wie überall, beurkundet ſich
das eigentliche Subject des Erhabenen als poſitive Macht erſt, wenn es die
Selbſtändigkeit der in es aufgenommenen niedrigeren Formen wirklich negirt.

1. Das Bewußtſeyn, die eigene Größe der abſoluten zu verdanken,
tritt in Helden des handelnden Willens, weil ſie überhaupt ſchließlich
unbewußtere Naturen ſind, nur in naiven Momenten als dunkle Ahnung
eines Weltgeſetzes, das ſie vollſtrecken, hervor, wie man z. B. einige
geiſtreiche fataliſtiſche Aeußerungen von Napoleon kennt; nur in geiſtigen
Helden, welche freilich blos unter der in §. 103 genannten Bedingung
äſthetiſche Erſcheinungen ſind, iſt dieſes Bewußtſeyn heller, z. B. in
Künſtlern, Religionshelden, wie Luther, in Philoſophen und überhaupt
Befreiern des denkenden Geiſtes. Bei Völkern dagegen, wenn ſie für
ihre höchſten Güter mit Bewußtſeyn kämpfen, kann es nicht fehlen, daß,
mögen auch die kämpfenden Kräfte zunächſt ganz in der unbewußteren
Region des realen Geiſtes ſich bewegen, ſchon durch den Austauſch der
tiefer Blickenden mit den Andern ſich ein Bewußtſeyn der weltgeſchichtlichen
Aufgabe, der Beſtimmung ſich erzeugt, und daß ſie demgemäß die Leiden
und Opfer, die der Sieg koſtet, als gerechte Buße für die vorhergehende
Erſchlaffung, Uneinigkeit, für die mancherlei Verletzungen berechtigter
Sphären, ohne welche es im Kampfe ſelbſt nicht abgehen kann, demnach
als gerechte Strafe der Schuld erkennen und daher ſich im Triumphe
ſelbſt mäßigen, wie Odyſſeus, wenn er nach der Tödtung der Freier
zur Eurykleia ſagt:
Freue dich, Mutter, im Geiſt, doch enthalte dich jauchzenden Ausrufs!
Sünde ja iſt es, ſich ſtolz erſchlagener Männer zu rühmen.

2. Es iſt in dieſer poſitiven Form immer noch ein Schein, als ſey
das erhabene Subject das Subject im Erhabenen. Freilich konnte nur
eine gewiſſe Periode der Poeſie dieſen Schein zu jener falſchen Geſtalt
des Tragiſchen verkehren, von welcher der Dichter ſagt, daß es am Ende
heiße: wenn ſich das Laſter erbricht, ſetzt ſich die Tugend zu Tiſch.
Jener Schein iſt aber allerdings erſt aufgehoben, wenn das Gefäß
wirklich den erfüllenden Inhalt, der mehr iſt als es, nicht mehr zu
faſſen vermag (vergl. §. 85, 2). Auch die poſitive Form iſt näher

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[298/0312] gehenden Leiden, denen es ſich nicht entziehen kann, als Rückwirkung ſeiner Schuld ausdrücklich anerkenne, vergönnt, die gute Sache ſiegreich durchzuſetzen und mit ihr das eigene Glück zu retten. Die Negation iſt demnach auch hier in der Poſition enthalten, allein dieſe Form iſt dennoch, wie auf allen Stufen des Erhabenen, die ungleich ſchwächere, denn hier, wie überall, beurkundet ſich das eigentliche Subject des Erhabenen als poſitive Macht erſt, wenn es die Selbſtändigkeit der in es aufgenommenen niedrigeren Formen wirklich negirt. 1. Das Bewußtſeyn, die eigene Größe der abſoluten zu verdanken, tritt in Helden des handelnden Willens, weil ſie überhaupt ſchließlich unbewußtere Naturen ſind, nur in naiven Momenten als dunkle Ahnung eines Weltgeſetzes, das ſie vollſtrecken, hervor, wie man z. B. einige geiſtreiche fataliſtiſche Aeußerungen von Napoleon kennt; nur in geiſtigen Helden, welche freilich blos unter der in §. 103 genannten Bedingung äſthetiſche Erſcheinungen ſind, iſt dieſes Bewußtſeyn heller, z. B. in Künſtlern, Religionshelden, wie Luther, in Philoſophen und überhaupt Befreiern des denkenden Geiſtes. Bei Völkern dagegen, wenn ſie für ihre höchſten Güter mit Bewußtſeyn kämpfen, kann es nicht fehlen, daß, mögen auch die kämpfenden Kräfte zunächſt ganz in der unbewußteren Region des realen Geiſtes ſich bewegen, ſchon durch den Austauſch der tiefer Blickenden mit den Andern ſich ein Bewußtſeyn der weltgeſchichtlichen Aufgabe, der Beſtimmung ſich erzeugt, und daß ſie demgemäß die Leiden und Opfer, die der Sieg koſtet, als gerechte Buße für die vorhergehende Erſchlaffung, Uneinigkeit, für die mancherlei Verletzungen berechtigter Sphären, ohne welche es im Kampfe ſelbſt nicht abgehen kann, demnach als gerechte Strafe der Schuld erkennen und daher ſich im Triumphe ſelbſt mäßigen, wie Odyſſeus, wenn er nach der Tödtung der Freier zur Eurykleia ſagt: Freue dich, Mutter, im Geiſt, doch enthalte dich jauchzenden Ausrufs! Sünde ja iſt es, ſich ſtolz erſchlagener Männer zu rühmen. 2. Es iſt in dieſer poſitiven Form immer noch ein Schein, als ſey das erhabene Subject das Subject im Erhabenen. Freilich konnte nur eine gewiſſe Periode der Poeſie dieſen Schein zu jener falſchen Geſtalt des Tragiſchen verkehren, von welcher der Dichter ſagt, daß es am Ende heiße: wenn ſich das Laſter erbricht, ſetzt ſich die Tugend zu Tiſch. Jener Schein iſt aber allerdings erſt aufgehoben, wenn das Gefäß wirklich den erfüllenden Inhalt, der mehr iſt als es, nicht mehr zu faſſen vermag (vergl. §. 85, 2). Auch die poſitive Form iſt näher

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/312>, abgerufen am 22.11.2024.