Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Subject ist das alles Seyn und alle Subjecte ebenso Setzende wie Auf-
hebende und kommt als solches im Tragischen ausdrücklich zur Dar-
stellung. Im wirklichen Leben, sofern es nicht durch zufälliges Aus-
bleiben des störenden Zufalls oder etwas Anderes, das wir noch nicht
kennen, zu einer reinen ästhetischen Erscheinung befreit ist, collidiren
zwei sittliche Mächte, z. B. Freiheit und Gesetz. Nun bleibt aber für
eine Schuld, die auf Einer Seite begangen ist, die Strafe aus, es tritt
nichts ein, es geschieht nichts, woraus das Gesetz einer höheren, ab-
wägenden Gerechtigkeit hervorleuchtete; wir müssen uns damit vertrösten,
daß es anderswo und ein andermal gerechter hergehen werde. Dies ist
unästhetisches Dunkel, solches Dunkel ist abgewiesen durch §. 53, von
solchem ist also im §. nicht die Rede. Dagegen halte man ein Drama,
das abwägende Gerechtigkeit in dem einzelnen, bestimmten Falle, den
es vorführt, zur Erscheinung bringt. Hier ist Klarheit, allein ich sehe
zugleich in ein Weltgesetz hinaus, das in unberechenbarer Weise eine
alte Schuld bestraft, eine verborgene Tugend an's Licht führt, das in
seinen Erfolgen deutlich, in seinen einzelnen Combinationen und Zufalls-
verflechtungen dunkel waltet. Dort kommt das Walten gar nicht zur
Erscheinung, nur innerlich glaube ich daran; hier ist das Walten gewiß,
aber wie das Gesetz der höchsten Gerechtigkeit waltet, kann man nie
vorherwissen, ein Abgrund angedeuteter Verschlingungen thut sich hinter
dem klar Vorliegenden auf: dies ist das ästhetische Dunkel des Tragi-
schen. Das Schöne hat diesen Abgrund überall, aber im einfach Schö-
nen wird man nicht fortgerissen, in seine dunkeln Tiefen zu sehen. Es
ist ein Unterschied wie zwischen dem aufgewühlten und dem ruhigen Meer.

§. 122.

Um nun jene Bewegung zu begreifen, ist zuerst festzuhalten, daß die
Erhabenheit des Subjects nicht schlechtweg zu Grunde gegangen, sondern ein
aufgehobenes Moment ist. Als solches tritt es wieder auf, so nämlich, daß
das Verhältniß sich umgedreht hat. Vorher schien das erhabene Subject sich
über sich selbst zu erweitern und blieb doch Subject. Jetzt ist die Erhabenheit
auf diejenige Seite getreten, wohin das Subject sich erweitert, und dieses er-
scheint als eine Beschränkung, welche das höchst Erhabene sich selber gibt und
wieder aufhebt. Das Subject tritt hervor auf diesem Hintergrunde und dieser
ist vor ihm da, es kommt aus ihm. Seine Erhabenheit ist daher zwar die
seinige, der Hintergrund ist in ihm selbst, es ist frei, aber ebensosehr geht der

Subject iſt das alles Seyn und alle Subjecte ebenſo Setzende wie Auf-
hebende und kommt als ſolches im Tragiſchen ausdrücklich zur Dar-
ſtellung. Im wirklichen Leben, ſofern es nicht durch zufälliges Aus-
bleiben des ſtörenden Zufalls oder etwas Anderes, das wir noch nicht
kennen, zu einer reinen äſthetiſchen Erſcheinung befreit iſt, collidiren
zwei ſittliche Mächte, z. B. Freiheit und Geſetz. Nun bleibt aber für
eine Schuld, die auf Einer Seite begangen iſt, die Strafe aus, es tritt
nichts ein, es geſchieht nichts, woraus das Geſetz einer höheren, ab-
wägenden Gerechtigkeit hervorleuchtete; wir müſſen uns damit vertröſten,
daß es anderswo und ein andermal gerechter hergehen werde. Dies iſt
unäſthetiſches Dunkel, ſolches Dunkel iſt abgewieſen durch §. 53, von
ſolchem iſt alſo im §. nicht die Rede. Dagegen halte man ein Drama,
das abwägende Gerechtigkeit in dem einzelnen, beſtimmten Falle, den
es vorführt, zur Erſcheinung bringt. Hier iſt Klarheit, allein ich ſehe
zugleich in ein Weltgeſetz hinaus, das in unberechenbarer Weiſe eine
alte Schuld beſtraft, eine verborgene Tugend an’s Licht führt, das in
ſeinen Erfolgen deutlich, in ſeinen einzelnen Combinationen und Zufalls-
verflechtungen dunkel waltet. Dort kommt das Walten gar nicht zur
Erſcheinung, nur innerlich glaube ich daran; hier iſt das Walten gewiß,
aber wie das Geſetz der höchſten Gerechtigkeit waltet, kann man nie
vorherwiſſen, ein Abgrund angedeuteter Verſchlingungen thut ſich hinter
dem klar Vorliegenden auf: dies iſt das äſthetiſche Dunkel des Tragi-
ſchen. Das Schöne hat dieſen Abgrund überall, aber im einfach Schö-
nen wird man nicht fortgeriſſen, in ſeine dunkeln Tiefen zu ſehen. Es
iſt ein Unterſchied wie zwiſchen dem aufgewühlten und dem ruhigen Meer.

§. 122.

Um nun jene Bewegung zu begreifen, iſt zuerſt feſtzuhalten, daß die
Erhabenheit des Subjects nicht ſchlechtweg zu Grunde gegangen, ſondern ein
aufgehobenes Moment iſt. Als ſolches tritt es wieder auf, ſo nämlich, daß
das Verhältniß ſich umgedreht hat. Vorher ſchien das erhabene Subject ſich
über ſich ſelbſt zu erweitern und blieb doch Subject. Jetzt iſt die Erhabenheit
auf diejenige Seite getreten, wohin das Subject ſich erweitert, und dieſes er-
ſcheint als eine Beſchränkung, welche das höchſt Erhabene ſich ſelber gibt und
wieder aufhebt. Das Subject tritt hervor auf dieſem Hintergrunde und dieſer
iſt vor ihm da, es kommt aus ihm. Seine Erhabenheit iſt daher zwar die
ſeinige, der Hintergrund iſt in ihm ſelbſt, es iſt frei, aber ebenſoſehr geht der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0298" n="284"/>
Subject i&#x017F;t das alles Seyn und alle Subjecte eben&#x017F;o Setzende wie Auf-<lb/>
hebende und kommt als &#x017F;olches im Tragi&#x017F;chen <hi rendition="#g">ausdrücklich</hi> zur Dar-<lb/>
&#x017F;tellung. Im wirklichen Leben, &#x017F;ofern es nicht durch zufälliges Aus-<lb/>
bleiben des &#x017F;törenden Zufalls oder etwas Anderes, das wir noch nicht<lb/>
kennen, zu einer reinen ä&#x017F;theti&#x017F;chen Er&#x017F;cheinung befreit i&#x017F;t, collidiren<lb/>
zwei &#x017F;ittliche Mächte, z. B. Freiheit und Ge&#x017F;etz. Nun bleibt aber für<lb/>
eine Schuld, die auf Einer Seite begangen i&#x017F;t, die Strafe aus, es tritt<lb/>
nichts ein, es ge&#x017F;chieht nichts, woraus das Ge&#x017F;etz einer höheren, ab-<lb/>
wägenden Gerechtigkeit hervorleuchtete; wir mü&#x017F;&#x017F;en uns damit vertrö&#x017F;ten,<lb/>
daß es anderswo und ein andermal gerechter hergehen werde. Dies i&#x017F;t<lb/>
unä&#x017F;theti&#x017F;ches Dunkel, &#x017F;olches Dunkel i&#x017F;t abgewie&#x017F;en durch §. 53, von<lb/>
&#x017F;olchem i&#x017F;t al&#x017F;o im §. nicht die Rede. Dagegen halte man ein Drama,<lb/>
das abwägende Gerechtigkeit in dem einzelnen, be&#x017F;timmten Falle, den<lb/>
es vorführt, zur Er&#x017F;cheinung bringt. Hier i&#x017F;t Klarheit, allein ich &#x017F;ehe<lb/>
zugleich in ein Weltge&#x017F;etz hinaus, das in unberechenbarer Wei&#x017F;e eine<lb/>
alte Schuld be&#x017F;traft, eine verborgene Tugend an&#x2019;s Licht führt, das in<lb/>
&#x017F;einen Erfolgen deutlich, in &#x017F;einen einzelnen Combinationen und Zufalls-<lb/>
verflechtungen <hi rendition="#g">dunkel</hi> waltet. <hi rendition="#g">Dort</hi> kommt das Walten gar nicht zur<lb/>
Er&#x017F;cheinung, nur innerlich glaube ich daran; <hi rendition="#g">hier</hi> i&#x017F;t das Walten gewiß,<lb/>
aber <hi rendition="#g">wie</hi> das Ge&#x017F;etz der höch&#x017F;ten Gerechtigkeit waltet, kann man nie<lb/>
vorherwi&#x017F;&#x017F;en, ein Abgrund angedeuteter Ver&#x017F;chlingungen thut &#x017F;ich hinter<lb/>
dem klar Vorliegenden auf: dies i&#x017F;t das ä&#x017F;theti&#x017F;che Dunkel des Tragi-<lb/>
&#x017F;chen. Das Schöne hat die&#x017F;en Abgrund überall, aber im einfach Schö-<lb/>
nen wird man nicht fortgeri&#x017F;&#x017F;en, in &#x017F;eine dunkeln Tiefen zu &#x017F;ehen. Es<lb/>
i&#x017F;t ein Unter&#x017F;chied wie zwi&#x017F;chen dem aufgewühlten und dem ruhigen Meer.</hi> </p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 122.</head><lb/>
                <p> <hi rendition="#fr">Um nun jene Bewegung zu begreifen, i&#x017F;t zuer&#x017F;t fe&#x017F;tzuhalten, daß die<lb/>
Erhabenheit des Subjects nicht &#x017F;chlechtweg zu Grunde gegangen, &#x017F;ondern ein<lb/>
aufgehobenes Moment i&#x017F;t. Als &#x017F;olches tritt es wieder auf, &#x017F;o nämlich, daß<lb/>
das Verhältniß &#x017F;ich umgedreht hat. Vorher &#x017F;chien das erhabene Subject &#x017F;ich<lb/>
über &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zu erweitern und blieb doch Subject. Jetzt i&#x017F;t die Erhabenheit<lb/>
auf diejenige Seite getreten, <hi rendition="#g">wohin</hi> das Subject &#x017F;ich erweitert, und die&#x017F;es er-<lb/>
&#x017F;cheint als eine Be&#x017F;chränkung, welche das höch&#x017F;t Erhabene &#x017F;ich &#x017F;elber gibt und<lb/>
wieder aufhebt. Das Subject tritt hervor auf die&#x017F;em <hi rendition="#g">Hintergrunde</hi> und die&#x017F;er<lb/>
i&#x017F;t vor ihm da, es kommt aus ihm. Seine Erhabenheit i&#x017F;t daher zwar die<lb/>
&#x017F;einige, der Hintergrund i&#x017F;t in ihm &#x017F;elb&#x017F;t, es i&#x017F;t frei, aber eben&#x017F;o&#x017F;ehr geht der<lb/></hi> </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[284/0298] Subject iſt das alles Seyn und alle Subjecte ebenſo Setzende wie Auf- hebende und kommt als ſolches im Tragiſchen ausdrücklich zur Dar- ſtellung. Im wirklichen Leben, ſofern es nicht durch zufälliges Aus- bleiben des ſtörenden Zufalls oder etwas Anderes, das wir noch nicht kennen, zu einer reinen äſthetiſchen Erſcheinung befreit iſt, collidiren zwei ſittliche Mächte, z. B. Freiheit und Geſetz. Nun bleibt aber für eine Schuld, die auf Einer Seite begangen iſt, die Strafe aus, es tritt nichts ein, es geſchieht nichts, woraus das Geſetz einer höheren, ab- wägenden Gerechtigkeit hervorleuchtete; wir müſſen uns damit vertröſten, daß es anderswo und ein andermal gerechter hergehen werde. Dies iſt unäſthetiſches Dunkel, ſolches Dunkel iſt abgewieſen durch §. 53, von ſolchem iſt alſo im §. nicht die Rede. Dagegen halte man ein Drama, das abwägende Gerechtigkeit in dem einzelnen, beſtimmten Falle, den es vorführt, zur Erſcheinung bringt. Hier iſt Klarheit, allein ich ſehe zugleich in ein Weltgeſetz hinaus, das in unberechenbarer Weiſe eine alte Schuld beſtraft, eine verborgene Tugend an’s Licht führt, das in ſeinen Erfolgen deutlich, in ſeinen einzelnen Combinationen und Zufalls- verflechtungen dunkel waltet. Dort kommt das Walten gar nicht zur Erſcheinung, nur innerlich glaube ich daran; hier iſt das Walten gewiß, aber wie das Geſetz der höchſten Gerechtigkeit waltet, kann man nie vorherwiſſen, ein Abgrund angedeuteter Verſchlingungen thut ſich hinter dem klar Vorliegenden auf: dies iſt das äſthetiſche Dunkel des Tragi- ſchen. Das Schöne hat dieſen Abgrund überall, aber im einfach Schö- nen wird man nicht fortgeriſſen, in ſeine dunkeln Tiefen zu ſehen. Es iſt ein Unterſchied wie zwiſchen dem aufgewühlten und dem ruhigen Meer. §. 122. Um nun jene Bewegung zu begreifen, iſt zuerſt feſtzuhalten, daß die Erhabenheit des Subjects nicht ſchlechtweg zu Grunde gegangen, ſondern ein aufgehobenes Moment iſt. Als ſolches tritt es wieder auf, ſo nämlich, daß das Verhältniß ſich umgedreht hat. Vorher ſchien das erhabene Subject ſich über ſich ſelbſt zu erweitern und blieb doch Subject. Jetzt iſt die Erhabenheit auf diejenige Seite getreten, wohin das Subject ſich erweitert, und dieſes er- ſcheint als eine Beſchränkung, welche das höchſt Erhabene ſich ſelber gibt und wieder aufhebt. Das Subject tritt hervor auf dieſem Hintergrunde und dieſer iſt vor ihm da, es kommt aus ihm. Seine Erhabenheit iſt daher zwar die ſeinige, der Hintergrund iſt in ihm ſelbſt, es iſt frei, aber ebenſoſehr geht der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/298
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/298>, abgerufen am 25.11.2024.