Die oben erwähnte Andeutung Schleiermachers über eine in der Aesthetik erforderliche Rückbeziehung auf die höhere Einheit der Physik und Ethik gehört um so weniger hieher, als er dieselbe auf alle Disci- plinen der Ethik ausdehnt. Wohl aber ist hier der verworrene, wie- wohl in anderer Beziehung bedeutungsvolle Versuch Kants darzustellen.
Kant hat eine "unübersehbare Kluft" zwischen der Sphäre des Ver- standes und der Vernunft und zwischen dem Boden ihrer Gesetzgebung, der Natur und der Freiheit, befestigt. So lauten bei Kant die Gegen- sätze; eigentlich ist es eine Kluft zwischen der Idee und ihrer Wirklichkeit. Kant sucht eine Einheit, einen nachträglichen Uebergang; da er aber die Idee nur in der Form der sittlichen Gesetzgebung oder des Freiheits- begriffs anerkennt, so meint er, diesen Uebergang nur zu bedürfen, da- mit die Natur als empfänglich erkannt werde, die Wirkungen der prak- tischen Vernunft in sich aufzunehmen, damit sie als bestimmbar durch das intellectuale Vermögen erscheine. Er muß daher das übersinnliche Substrat, das der Verstand in der Natur voraussetzt, aber völlig un- bestimmt läßt, näher bestimmen, um eine solche Empfänglichkeit der Natur begreiflich zu machen; er muß immanenten Geist in der Natur annehmen. An dieser Stelle drängt sich eine Ahnung hervor, durch welche er über seinen eigenen Dualismus sich erhebt, die er aber, indem er sie aus- spricht, wieder erstickt, indem er sie nur für etwas Subjectives, für einen bloßen "Uebergang von der Denkungsart nach den Prinzipien der einen (Welt) zu der nach Prinzipien der andern" erklärt. Diesen Ueber- gang zu finden nimmt er (Kritik der Urtheilskr. Einl.) die verschrobene Wendung, die Urtheilskraft, nachdem ihr in der Kritik der reinen Vernunft schon ihr Gebiet angewiesen ist, in einer neuen Form aufzu- führen. Der Begriff der Urtheilskraft als "des Vermögens, das Be- sondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken" hätte ihn frei- lich schon dort auf ganz andere Einsichten führen können, als auf jene skeptische Mitte zwischen Dualismus und subjectivem Idealismus, die sein Standpunkt ist; nun aber nimmt er dieses Vermögen noch einmal auf und unterscheidet zwischen einer bestimmenden und einer reflecti- renden Urtheilskraft. Bestimmend ist sie, wenn das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben ist, worunter sie das Be- sondere subsumirt. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist sie bloß reflectirend. Die bestimmende Urtheilskraft ist unzureichend, weil so mannigfaltige Formen in der Natur sind, welche durch jene Gesetze, die der reine Verstand a priori
Die oben erwähnte Andeutung Schleiermachers über eine in der Aeſthetik erforderliche Rückbeziehung auf die höhere Einheit der Phyſik und Ethik gehört um ſo weniger hieher, als er dieſelbe auf alle Diſci- plinen der Ethik ausdehnt. Wohl aber iſt hier der verworrene, wie- wohl in anderer Beziehung bedeutungsvolle Verſuch Kants darzuſtellen.
Kant hat eine „unüberſehbare Kluft“ zwiſchen der Sphäre des Ver- ſtandes und der Vernunft und zwiſchen dem Boden ihrer Geſetzgebung, der Natur und der Freiheit, befeſtigt. So lauten bei Kant die Gegen- ſätze; eigentlich iſt es eine Kluft zwiſchen der Idee und ihrer Wirklichkeit. Kant ſucht eine Einheit, einen nachträglichen Uebergang; da er aber die Idee nur in der Form der ſittlichen Geſetzgebung oder des Freiheits- begriffs anerkennt, ſo meint er, dieſen Uebergang nur zu bedürfen, da- mit die Natur als empfänglich erkannt werde, die Wirkungen der prak- tiſchen Vernunft in ſich aufzunehmen, damit ſie als beſtimmbar durch das intellectuale Vermögen erſcheine. Er muß daher das überſinnliche Subſtrat, das der Verſtand in der Natur vorausſetzt, aber völlig un- beſtimmt läßt, näher beſtimmen, um eine ſolche Empfänglichkeit der Natur begreiflich zu machen; er muß immanenten Geiſt in der Natur annehmen. An dieſer Stelle drängt ſich eine Ahnung hervor, durch welche er über ſeinen eigenen Dualiſmus ſich erhebt, die er aber, indem er ſie aus- ſpricht, wieder erſtickt, indem er ſie nur für etwas Subjectives, für einen bloßen „Uebergang von der Denkungsart nach den Prinzipien der einen (Welt) zu der nach Prinzipien der andern“ erklärt. Dieſen Ueber- gang zu finden nimmt er (Kritik der Urtheilskr. Einl.) die verſchrobene Wendung, die Urtheilskraft, nachdem ihr in der Kritik der reinen Vernunft ſchon ihr Gebiet angewieſen iſt, in einer neuen Form aufzu- führen. Der Begriff der Urtheilskraft als „des Vermögens, das Be- ſondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken“ hätte ihn frei- lich ſchon dort auf ganz andere Einſichten führen können, als auf jene ſkeptiſche Mitte zwiſchen Dualiſmus und ſubjectivem Idealiſmus, die ſein Standpunkt iſt; nun aber nimmt er dieſes Vermögen noch einmal auf und unterſcheidet zwiſchen einer beſtimmenden und einer reflecti- renden Urtheilskraft. Beſtimmend iſt ſie, wenn das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Geſetz) gegeben iſt, worunter ſie das Be- ſondere ſubſumirt. Iſt aber nur das Beſondere gegeben, wozu ſie das Allgemeine finden ſoll, ſo iſt ſie bloß reflectirend. Die beſtimmende Urtheilskraft iſt unzureichend, weil ſo mannigfaltige Formen in der Natur ſind, welche durch jene Geſetze, die der reine Verſtand a priori
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Die oben erwähnte Andeutung Schleiermachers über eine in der
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plinen der Ethik ausdehnt. Wohl aber iſt hier der verworrene, wie-
wohl in anderer Beziehung bedeutungsvolle Verſuch Kants darzuſtellen.
Kant hat eine „unüberſehbare Kluft“ zwiſchen der Sphäre des Ver-
ſtandes und der Vernunft und zwiſchen dem Boden ihrer Geſetzgebung,
der Natur und der Freiheit, befeſtigt. So lauten bei Kant die Gegen-
ſätze; eigentlich iſt es eine Kluft zwiſchen der Idee und ihrer Wirklichkeit.
Kant ſucht eine Einheit, einen nachträglichen Uebergang; da er aber
die Idee nur in der Form der ſittlichen Geſetzgebung oder des Freiheits-
begriffs anerkennt, ſo meint er, dieſen Uebergang nur zu bedürfen, da-
mit die Natur als empfänglich erkannt werde, die Wirkungen der prak-
tiſchen Vernunft in ſich aufzunehmen, damit ſie als beſtimmbar durch
das intellectuale Vermögen erſcheine. Er muß daher das überſinnliche
Subſtrat, das der Verſtand in der Natur vorausſetzt, aber völlig un-
beſtimmt läßt, näher beſtimmen, um eine ſolche Empfänglichkeit der Natur
begreiflich zu machen; er muß immanenten Geiſt in der Natur annehmen.
An dieſer Stelle drängt ſich eine Ahnung hervor, durch welche er über
ſeinen eigenen Dualiſmus ſich erhebt, die er aber, indem er ſie aus-
ſpricht, wieder erſtickt, indem er ſie nur für etwas Subjectives, für
einen bloßen „Uebergang von der Denkungsart nach den Prinzipien der
einen (Welt) zu der nach Prinzipien der andern“ erklärt. Dieſen Ueber-
gang zu finden nimmt er (Kritik der Urtheilskr. Einl.) die verſchrobene
Wendung, die Urtheilskraft, nachdem ihr in der Kritik der reinen
Vernunft ſchon ihr Gebiet angewieſen iſt, in einer neuen Form aufzu-
führen. Der Begriff der Urtheilskraft als „des Vermögens, das Be-
ſondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken“ hätte ihn frei-
lich ſchon dort auf ganz andere Einſichten führen können, als auf jene
ſkeptiſche Mitte zwiſchen Dualiſmus und ſubjectivem Idealiſmus, die ſein
Standpunkt iſt; nun aber nimmt er dieſes Vermögen noch einmal auf
und unterſcheidet zwiſchen einer beſtimmenden und einer reflecti-
renden Urtheilskraft. Beſtimmend iſt ſie, wenn das Allgemeine (die
Regel, das Prinzip, das Geſetz) gegeben iſt, worunter ſie das Be-
ſondere ſubſumirt. Iſt aber nur das Beſondere gegeben, wozu ſie das
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Urtheilskraft iſt unzureichend, weil ſo mannigfaltige Formen in der
Natur ſind, welche durch jene Geſetze, die der reine Verſtand a priori
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/28>, abgerufen am 21.11.2024.
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