griff (vergl. §. 19, 2). Unter Vorgriff ist hier zu verstehen die Unter- schiebung, durch welche da, wo Persönlichkeit sich erst als werdende von ferne ankündigt, solche schon bestimmter untergelegt wird. Es muß in Beziehung auf das objectiv Erhabene von der Art dieser Unterschiebung noch einmal die Rede seyn, wo sich zeigen wird, wie sie allerdings keine förmlich vollzogene ist und gerade darin ihre Eigenthümlichkeit besteht. Dies muß nachgeholt werden, wenn der subjective Eindruck des Erhabenen erörtert werden wird. Obwohl nämlich überall schon dargethan wurde, daß das objectiv Er- habene ohne einen leihenden Act des Subjects gar nicht entsteht, so bleibt für diese Erörterung doch noch der Charakter des Genusses zu beleuchten übrig, der jenen Act begleitet. In der Lehre vom einfach Schönen nun wurde bei der Darstellung des subjectiven Eindrucks die besondere Be- stimmtheit, die derselbe gegenüber den bewußtlosen Naturwesen durch die Nothwendigkeit jenes Leihens annimmt, nicht hervorgehoben; hier aber, im Erhabenen, wird es nöthig, dies genauer und gesondert zu betrachten, und zwar aus demselben Grunde, aus welchem auch gegenständlich die Sphären jetzt gesondert werden (§. 88): weil nämlich erst, wenn der geistige Gehalt und das sinnliche Bild in ein negatives Verhältniß zu einander treten, ausdrücklich zu fragen ist, ob denn die Natur den zu dieser Negation geforderten Geist besitze; ebendaher also ist auch die sub- jective Seite gesondert zu erörtern, und hierüber ist so viel bereits dar- gethan, daß der Beitrag des Subjects ein ungleich bedeutenderer ist, als im Schönen. Dieses (das unbegeistet Schöne nämlich) fordert einfache Unterschiebung einer empfindenden Seele; jenes aber fordert eine doppelte: zuerst muß der Gegenstand wirklich als ein quantitativ, als ein sinnlich unendlicher gefaßt, dann erst diese sinnliche Unendlichkeit mit einer wahren, geistigen verwechselt werden. Das Letztere geschieht, indem das Subject in das räumlich Erhabene die Vorstellung einer Massen thürmenden, in das der Zeit einer Massen verzehrenden Kraft legt, dann schaut es die wirkliche Kraft und leiht ihr die innere geistige Unendlichkeit; jetzt wird es inne, daß es sowohl diesem Erhabenen als auch demgemäß dem räumlich und zeitlich Erhabenen nur sich selbst untergeschoben hat, und nun ist also, sowie dies erkannt ist, das Subject selbst das Erhabene.
griff (vergl. §. 19, 2). Unter Vorgriff iſt hier zu verſtehen die Unter- ſchiebung, durch welche da, wo Perſönlichkeit ſich erſt als werdende von ferne ankündigt, ſolche ſchon beſtimmter untergelegt wird. Es muß in Beziehung auf das objectiv Erhabene von der Art dieſer Unterſchiebung noch einmal die Rede ſeyn, wo ſich zeigen wird, wie ſie allerdings keine förmlich vollzogene iſt und gerade darin ihre Eigenthümlichkeit beſteht. Dies muß nachgeholt werden, wenn der ſubjective Eindruck des Erhabenen erörtert werden wird. Obwohl nämlich überall ſchon dargethan wurde, daß das objectiv Er- habene ohne einen leihenden Act des Subjects gar nicht entſteht, ſo bleibt für dieſe Erörterung doch noch der Charakter des Genuſſes zu beleuchten übrig, der jenen Act begleitet. In der Lehre vom einfach Schönen nun wurde bei der Darſtellung des ſubjectiven Eindrucks die beſondere Be- ſtimmtheit, die derſelbe gegenüber den bewußtloſen Naturweſen durch die Nothwendigkeit jenes Leihens annimmt, nicht hervorgehoben; hier aber, im Erhabenen, wird es nöthig, dies genauer und geſondert zu betrachten, und zwar aus demſelben Grunde, aus welchem auch gegenſtändlich die Sphären jetzt geſondert werden (§. 88): weil nämlich erſt, wenn der geiſtige Gehalt und das ſinnliche Bild in ein negatives Verhältniß zu einander treten, ausdrücklich zu fragen iſt, ob denn die Natur den zu dieſer Negation geforderten Geiſt beſitze; ebendaher alſo iſt auch die ſub- jective Seite geſondert zu erörtern, und hierüber iſt ſo viel bereits dar- gethan, daß der Beitrag des Subjects ein ungleich bedeutenderer iſt, als im Schönen. Dieſes (das unbegeiſtet Schöne nämlich) fordert einfache Unterſchiebung einer empfindenden Seele; jenes aber fordert eine doppelte: zuerſt muß der Gegenſtand wirklich als ein quantitativ, als ein ſinnlich unendlicher gefaßt, dann erſt dieſe ſinnliche Unendlichkeit mit einer wahren, geiſtigen verwechſelt werden. Das Letztere geſchieht, indem das Subject in das räumlich Erhabene die Vorſtellung einer Maſſen thürmenden, in das der Zeit einer Maſſen verzehrenden Kraft legt, dann ſchaut es die wirkliche Kraft und leiht ihr die innere geiſtige Unendlichkeit; jetzt wird es inne, daß es ſowohl dieſem Erhabenen als auch demgemäß dem räumlich und zeitlich Erhabenen nur ſich ſelbſt untergeſchoben hat, und nun iſt alſo, ſowie dies erkannt iſt, das Subject ſelbſt das Erhabene.
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griff (vergl. §. 19, 2). Unter Vorgriff iſt hier zu verſtehen die Unter-
ſchiebung, durch welche da, wo Perſönlichkeit ſich erſt als werdende von ferne
ankündigt, ſolche ſchon beſtimmter untergelegt wird. Es muß in Beziehung
auf das objectiv Erhabene von der Art dieſer Unterſchiebung noch einmal die
Rede ſeyn, wo ſich zeigen wird, wie ſie allerdings keine förmlich vollzogene
iſt und gerade darin ihre Eigenthümlichkeit beſteht. Dies muß nachgeholt
werden, wenn der ſubjective Eindruck des Erhabenen erörtert werden wird.
Obwohl nämlich überall ſchon dargethan wurde, daß das objectiv Er-
habene ohne einen leihenden Act des Subjects gar nicht entſteht, ſo bleibt
für dieſe Erörterung doch noch der Charakter des Genuſſes zu beleuchten
übrig, der jenen Act begleitet. In der Lehre vom einfach Schönen nun
wurde bei der Darſtellung des ſubjectiven Eindrucks die beſondere Be-
ſtimmtheit, die derſelbe gegenüber den bewußtloſen Naturweſen durch die
Nothwendigkeit jenes Leihens annimmt, nicht hervorgehoben; hier aber,
im Erhabenen, wird es nöthig, dies genauer und geſondert zu betrachten,
und zwar aus demſelben Grunde, aus welchem auch gegenſtändlich die
Sphären jetzt geſondert werden (§. 88): weil nämlich erſt, wenn der
geiſtige Gehalt und das ſinnliche Bild in ein negatives Verhältniß zu
einander treten, ausdrücklich zu fragen iſt, ob denn die Natur den zu
dieſer Negation geforderten Geiſt beſitze; ebendaher alſo iſt auch die ſub-
jective Seite geſondert zu erörtern, und hierüber iſt ſo viel bereits dar-
gethan, daß der Beitrag des Subjects ein ungleich bedeutenderer iſt, als
im Schönen. Dieſes (das unbegeiſtet Schöne nämlich) fordert einfache
Unterſchiebung einer empfindenden Seele; jenes aber fordert eine doppelte:
zuerſt muß der Gegenſtand wirklich als ein quantitativ, als ein ſinnlich
unendlicher gefaßt, dann erſt dieſe ſinnliche Unendlichkeit mit einer wahren,
geiſtigen verwechſelt werden. Das Letztere geſchieht, indem das Subject in
das räumlich Erhabene die Vorſtellung einer Maſſen thürmenden, in das
der Zeit einer Maſſen verzehrenden Kraft legt, dann ſchaut es die wirkliche
Kraft und leiht ihr die innere geiſtige Unendlichkeit; jetzt wird es inne,
daß es ſowohl dieſem Erhabenen als auch demgemäß dem räumlich und
zeitlich Erhabenen nur ſich ſelbſt untergeſchoben hat, und nun iſt alſo,
ſowie dies erkannt iſt, das Subject ſelbſt das Erhabene.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/268>, abgerufen am 26.11.2024.
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