Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

thierisch organischen, sowie in der menschlichen Welt seyn. Wildzer-
klüftetes -- in den Umrissen reines Gebirge (sofern solches als das Werk
von Revolutionen nunmehr unter den Begriff der Kraft gestellt wird).
Rauhe, knorrige -- edel gestaltete Bäume. Rhinoceros, Nilpferd, Krokodil
-- Löwe, Tiger. Ungeschlacht formlose -- große und edle Menschen-
gestalt. Die intensive Kraft gehört nun zwar vorzüglich den höheren
Reichen an, und eben diese sind in demselben Grade, in welchem die Kraft
gesammelter ist, auch in der Form edler organisirt. Je mehr sie aber dies
sind, je mehr also hier das formlos Erhabene entfernt scheint, desto
häßlicher ist vielmehr gerade ein Individuum, wenn es durch einseitige
Ausbildung der Kraft von den Formen seiner Gattung abweicht, oder
eine Gattung, wenn sie an die formlosen Urgebilde der wilden Kraft
der früheren Erdrevolutionen erinnert, wie die oben genannten Thiere.

2. Hier begegnet zuerst das Häßliche. Das Erhabene des Raums
kann nicht wohl häßlich heißen, auch wenn es im engeren Sinn formlos
ist, denn hier ist das organische Zusammengehören der Glieder eines
Gebildes ganz unwesentlich; das Organische aber kommt, soweit es unter
den Gesichtspunkt der blosen Größe fällt, nicht als Organisches, sondern
als Masse in Betracht. Dagegen durch die Kategorie der Kraft auf
höherer Stufe werden die Mittel des organischen Körpers gefordert und
hier erst beginnt das Häßliche. Weiße hat dasselbe als eine besondere
Form im Uebergange vom Erhabenen zum Komischen aufgeführt und
Ruge ist ihm gefolgt. Allein es kann und darf durchaus nicht ver-
mieden werden, das Häßliche schon im Erhabenen aufzuführen, wie
dies unser Zusammenhang beweist und in einer weiteren Form des
Erhabenen ferner beweisen wird. Beide Aesthetiker führen unter dem
Häßlichen Erscheinungen auf, welche spezifisch Grauen und Entsetzen er-
regen und ebendaher nothwendig in die Sphäre des Erhabenen fallen.
Ob an der Stelle, wo sie das Häßliche aufführen, noch ein Ort für
dasselbe bleibt, nachdem ein großer Theil desselben in unserer Anordnung
an das Erhabene gefallen ist, wird sich zeigen. Im vorliegenden Falle
nun leuchtet die Sache einfach an den nächsten Beispielen ein. Das
Krokodil z. B. ist häßlich durch seine Gestalt, welche nur gemacht zu
seyn scheint, um Alles in dem ungeheuren Rachen zusammenzufassen, so
daß ein Organ, das nach dem Begriffe des organischen Lebens unterge-
ordnet seyn soll, sich anmaßt, das Ganze darzustellen, ebenso durch seine
an Unorganisches erinnernde Bedeckung. Allein dieser Rachen ist durch
Größe, Bewaffnung mit Zähnen furchtbar, die schwer verwundbare Härte der

thieriſch organiſchen, ſowie in der menſchlichen Welt ſeyn. Wildzer-
klüftetes — in den Umriſſen reines Gebirge (ſofern ſolches als das Werk
von Revolutionen nunmehr unter den Begriff der Kraft geſtellt wird).
Rauhe, knorrige — edel geſtaltete Bäume. Rhinoceros, Nilpferd, Krokodil
— Löwe, Tiger. Ungeſchlacht formloſe — große und edle Menſchen-
geſtalt. Die intenſive Kraft gehört nun zwar vorzüglich den höheren
Reichen an, und eben dieſe ſind in demſelben Grade, in welchem die Kraft
geſammelter iſt, auch in der Form edler organiſirt. Je mehr ſie aber dies
ſind, je mehr alſo hier das formlos Erhabene entfernt ſcheint, deſto
häßlicher iſt vielmehr gerade ein Individuum, wenn es durch einſeitige
Ausbildung der Kraft von den Formen ſeiner Gattung abweicht, oder
eine Gattung, wenn ſie an die formloſen Urgebilde der wilden Kraft
der früheren Erdrevolutionen erinnert, wie die oben genannten Thiere.

2. Hier begegnet zuerſt das Häßliche. Das Erhabene des Raums
kann nicht wohl häßlich heißen, auch wenn es im engeren Sinn formlos
iſt, denn hier iſt das organiſche Zuſammengehören der Glieder eines
Gebildes ganz unweſentlich; das Organiſche aber kommt, ſoweit es unter
den Geſichtspunkt der bloſen Größe fällt, nicht als Organiſches, ſondern
als Maſſe in Betracht. Dagegen durch die Kategorie der Kraft auf
höherer Stufe werden die Mittel des organiſchen Körpers gefordert und
hier erſt beginnt das Häßliche. Weiße hat daſſelbe als eine beſondere
Form im Uebergange vom Erhabenen zum Komiſchen aufgeführt und
Ruge iſt ihm gefolgt. Allein es kann und darf durchaus nicht ver-
mieden werden, das Häßliche ſchon im Erhabenen aufzuführen, wie
dies unſer Zuſammenhang beweist und in einer weiteren Form des
Erhabenen ferner beweiſen wird. Beide Aeſthetiker führen unter dem
Häßlichen Erſcheinungen auf, welche ſpezifiſch Grauen und Entſetzen er-
regen und ebendaher nothwendig in die Sphäre des Erhabenen fallen.
Ob an der Stelle, wo ſie das Häßliche aufführen, noch ein Ort für
daſſelbe bleibt, nachdem ein großer Theil deſſelben in unſerer Anordnung
an das Erhabene gefallen iſt, wird ſich zeigen. Im vorliegenden Falle
nun leuchtet die Sache einfach an den nächſten Beiſpielen ein. Das
Krokodil z. B. iſt häßlich durch ſeine Geſtalt, welche nur gemacht zu
ſeyn ſcheint, um Alles in dem ungeheuren Rachen zuſammenzufaſſen, ſo
daß ein Organ, das nach dem Begriffe des organiſchen Lebens unterge-
ordnet ſeyn ſoll, ſich anmaßt, das Ganze darzuſtellen, ebenſo durch ſeine
an Unorganiſches erinnernde Bedeckung. Allein dieſer Rachen iſt durch
Größe, Bewaffnung mit Zähnen furchtbar, die ſchwer verwundbare Härte der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0261" n="247"/>
thieri&#x017F;ch organi&#x017F;chen, &#x017F;owie in der men&#x017F;chlichen Welt &#x017F;eyn. Wildzer-<lb/>
klüftetes &#x2014; in den Umri&#x017F;&#x017F;en reines Gebirge (&#x017F;ofern &#x017F;olches als das Werk<lb/>
von Revolutionen nunmehr unter den Begriff der Kraft ge&#x017F;tellt wird).<lb/>
Rauhe, knorrige &#x2014; edel ge&#x017F;taltete Bäume. Rhinoceros, Nilpferd, Krokodil<lb/>
&#x2014; Löwe, Tiger. Unge&#x017F;chlacht formlo&#x017F;e &#x2014; große und edle Men&#x017F;chen-<lb/>
ge&#x017F;talt. Die inten&#x017F;ive Kraft gehört nun zwar vorzüglich den höheren<lb/>
Reichen an, und eben die&#x017F;e &#x017F;ind in dem&#x017F;elben Grade, in welchem die Kraft<lb/>
ge&#x017F;ammelter i&#x017F;t, auch in der Form edler organi&#x017F;irt. Je mehr &#x017F;ie aber dies<lb/>
&#x017F;ind, je mehr al&#x017F;o hier das formlos Erhabene entfernt &#x017F;cheint, de&#x017F;to<lb/>
häßlicher i&#x017F;t vielmehr gerade ein Individuum, wenn es durch ein&#x017F;eitige<lb/>
Ausbildung der Kraft von den Formen &#x017F;einer Gattung abweicht, oder<lb/>
eine Gattung, wenn &#x017F;ie an die formlo&#x017F;en Urgebilde der wilden Kraft<lb/>
der früheren Erdrevolutionen erinnert, wie die oben genannten Thiere.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">2. Hier begegnet zuer&#x017F;t das <hi rendition="#g">Häßliche</hi>. Das Erhabene des Raums<lb/>
kann nicht wohl häßlich heißen, auch wenn es im engeren Sinn formlos<lb/>
i&#x017F;t, denn hier i&#x017F;t das organi&#x017F;che Zu&#x017F;ammengehören der Glieder eines<lb/>
Gebildes ganz unwe&#x017F;entlich; das Organi&#x017F;che aber kommt, &#x017F;oweit es unter<lb/>
den Ge&#x017F;ichtspunkt der blo&#x017F;en Größe fällt, nicht als Organi&#x017F;ches, &#x017F;ondern<lb/>
als Ma&#x017F;&#x017F;e in Betracht. Dagegen durch die Kategorie der Kraft auf<lb/>
höherer Stufe werden die Mittel des organi&#x017F;chen Körpers gefordert und<lb/>
hier er&#x017F;t beginnt das Häßliche. <hi rendition="#g">Weiße</hi> hat da&#x017F;&#x017F;elbe als eine be&#x017F;ondere<lb/>
Form im Uebergange vom Erhabenen zum Komi&#x017F;chen aufgeführt und<lb/><hi rendition="#g">Ruge</hi> i&#x017F;t ihm gefolgt. Allein es kann und darf durchaus nicht ver-<lb/>
mieden werden, das Häßliche &#x017F;chon im Erhabenen aufzuführen, wie<lb/>
dies un&#x017F;er Zu&#x017F;ammenhang beweist und in einer weiteren Form des<lb/>
Erhabenen ferner bewei&#x017F;en wird. Beide Ae&#x017F;thetiker führen unter dem<lb/>
Häßlichen Er&#x017F;cheinungen auf, welche &#x017F;pezifi&#x017F;ch Grauen und Ent&#x017F;etzen er-<lb/>
regen und ebendaher nothwendig in die Sphäre des Erhabenen fallen.<lb/>
Ob an der Stelle, wo &#x017F;ie das Häßliche aufführen, noch ein Ort für<lb/>
da&#x017F;&#x017F;elbe bleibt, nachdem ein großer Theil de&#x017F;&#x017F;elben in un&#x017F;erer Anordnung<lb/>
an das Erhabene gefallen i&#x017F;t, wird &#x017F;ich zeigen. Im vorliegenden Falle<lb/>
nun leuchtet die Sache einfach an den näch&#x017F;ten Bei&#x017F;pielen ein. Das<lb/>
Krokodil z. B. i&#x017F;t häßlich durch &#x017F;eine Ge&#x017F;talt, welche nur gemacht zu<lb/>
&#x017F;eyn &#x017F;cheint, um Alles in dem ungeheuren Rachen zu&#x017F;ammenzufa&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;o<lb/>
daß ein Organ, das nach dem Begriffe des organi&#x017F;chen Lebens unterge-<lb/>
ordnet &#x017F;eyn &#x017F;oll, &#x017F;ich anmaßt, das Ganze darzu&#x017F;tellen, eben&#x017F;o durch &#x017F;eine<lb/>
an Unorgani&#x017F;ches erinnernde Bedeckung. Allein die&#x017F;er Rachen i&#x017F;t durch<lb/>
Größe, Bewaffnung mit Zähnen furchtbar, die &#x017F;chwer verwundbare Härte der<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[247/0261] thieriſch organiſchen, ſowie in der menſchlichen Welt ſeyn. Wildzer- klüftetes — in den Umriſſen reines Gebirge (ſofern ſolches als das Werk von Revolutionen nunmehr unter den Begriff der Kraft geſtellt wird). Rauhe, knorrige — edel geſtaltete Bäume. Rhinoceros, Nilpferd, Krokodil — Löwe, Tiger. Ungeſchlacht formloſe — große und edle Menſchen- geſtalt. Die intenſive Kraft gehört nun zwar vorzüglich den höheren Reichen an, und eben dieſe ſind in demſelben Grade, in welchem die Kraft geſammelter iſt, auch in der Form edler organiſirt. Je mehr ſie aber dies ſind, je mehr alſo hier das formlos Erhabene entfernt ſcheint, deſto häßlicher iſt vielmehr gerade ein Individuum, wenn es durch einſeitige Ausbildung der Kraft von den Formen ſeiner Gattung abweicht, oder eine Gattung, wenn ſie an die formloſen Urgebilde der wilden Kraft der früheren Erdrevolutionen erinnert, wie die oben genannten Thiere. 2. Hier begegnet zuerſt das Häßliche. Das Erhabene des Raums kann nicht wohl häßlich heißen, auch wenn es im engeren Sinn formlos iſt, denn hier iſt das organiſche Zuſammengehören der Glieder eines Gebildes ganz unweſentlich; das Organiſche aber kommt, ſoweit es unter den Geſichtspunkt der bloſen Größe fällt, nicht als Organiſches, ſondern als Maſſe in Betracht. Dagegen durch die Kategorie der Kraft auf höherer Stufe werden die Mittel des organiſchen Körpers gefordert und hier erſt beginnt das Häßliche. Weiße hat daſſelbe als eine beſondere Form im Uebergange vom Erhabenen zum Komiſchen aufgeführt und Ruge iſt ihm gefolgt. Allein es kann und darf durchaus nicht ver- mieden werden, das Häßliche ſchon im Erhabenen aufzuführen, wie dies unſer Zuſammenhang beweist und in einer weiteren Form des Erhabenen ferner beweiſen wird. Beide Aeſthetiker führen unter dem Häßlichen Erſcheinungen auf, welche ſpezifiſch Grauen und Entſetzen er- regen und ebendaher nothwendig in die Sphäre des Erhabenen fallen. Ob an der Stelle, wo ſie das Häßliche aufführen, noch ein Ort für daſſelbe bleibt, nachdem ein großer Theil deſſelben in unſerer Anordnung an das Erhabene gefallen iſt, wird ſich zeigen. Im vorliegenden Falle nun leuchtet die Sache einfach an den nächſten Beiſpielen ein. Das Krokodil z. B. iſt häßlich durch ſeine Geſtalt, welche nur gemacht zu ſeyn ſcheint, um Alles in dem ungeheuren Rachen zuſammenzufaſſen, ſo daß ein Organ, das nach dem Begriffe des organiſchen Lebens unterge- ordnet ſeyn ſoll, ſich anmaßt, das Ganze darzuſtellen, ebenſo durch ſeine an Unorganiſches erinnernde Bedeckung. Allein dieſer Rachen iſt durch Größe, Bewaffnung mit Zähnen furchtbar, die ſchwer verwundbare Härte der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/261
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/261>, abgerufen am 22.11.2024.