Dynamisch erhaben ist ein Gegenstand, wenn er den umgebenden an1 Kraft so überlegen ist, daß die seinige, obwohl durch ein Maß begrenzt, dennoch zugleich alles Maß zu überschreiten scheint. Die Kraft wird durch2 Widerstand gemessen, also ein möglicher Widerstand vorgestellt und zwar, weil sie unendlich erscheint, als vergeblich. Da nun die Kraft zwar ein selbständiges, aber noch nicht vom Quantitativen geschiedenes und in sich reflectirtes, sondern blindes Seyn ist, und da sie sich in der Bewegung äußert, welche, wo sie rück- sichtslos vordringt, zerstörend wirkt, da endlich der Zuschauer sich selbst zu dem Umgebenden mitzählt, was von dieser Zerstörung getroffen werden kann, so er- scheint das Erhabene der Kraft im Allgemeinen als furchtbar.
1. Auch hier zeigt sich die "grenzlose Grenze." Der kraftvolle Gegen- stand, der angeschaut wird, hat nur ein begrenztes Maß der Kraft. Allein da er im bestimmten Falle allen umgebenden Kräften überlegen ist, so kommt jetzt nicht zum Bewußtseyn, daß ihm selbst eine andere Kraft überlegen seyn kann, sondern dies bleibt verhüllt im Grunde des Gefühls. Der Gegenstand wird als ein Wesen von beschränkter Kraft zugleich festgehalten und zugleich diese Kraft in's Unendliche erweiternd hinausgetragen.
2. Ueber das Messen nach der Größe des Widerstands vergl. Kant a. a. O. §. 28. Es fehlt aber in seiner Darstellung das weitere, im §. aufgeführte Moment, daß die Kraft als solche (in ihrem Unterschied vom Geiste) ein besinnungsloses ist, von dem man den Eindruck hat, daß es nichts mit sich führt, was es veranlassen könnte, den schwächeren Gegner zu schonen. Daher fürchten wir uns weit mehr, wenn wir dem Raubthiere, als wenn wir einem bewaffneten Menschen gegenüber- stehen; ein unheimlicher Naturgrund thut sich vor uns auf. Daß übrigens die Furcht keine eigentliche, sondern der Fall eines Kampfes und vergeb- lichen Widerstands, in den der Zuschauer selbst gerathen könnte, blos vorgestellt seyn darf, wenn das Furchtbare ästhetisch seyn soll, folgt mit Nothwendigkeit aus der Interesselosigkeit des Schönen. "Wer sich fürchtet, kann über das Erhabene der Natur gar nicht urtheilen, so wenig als der, welcher durch Neigung und Appetit eingenommen ist, über das Schöne" (Kant a. a. O.). Die Erklärung der Lust im Anblicke des furchtbar Erhabenen aus dem Gefühle der eigenen Sicherheit dagegen ist so veraltet, daß sie keiner Widerlegung mehr bedarf; es leuchtet ein, daß sie
16*
§. 96.
Dynamiſch erhaben iſt ein Gegenſtand, wenn er den umgebenden an1 Kraft ſo überlegen iſt, daß die ſeinige, obwohl durch ein Maß begrenzt, dennoch zugleich alles Maß zu überſchreiten ſcheint. Die Kraft wird durch2 Widerſtand gemeſſen, alſo ein möglicher Widerſtand vorgeſtellt und zwar, weil ſie unendlich erſcheint, als vergeblich. Da nun die Kraft zwar ein ſelbſtändiges, aber noch nicht vom Quantitativen geſchiedenes und in ſich reflectirtes, ſondern blindes Seyn iſt, und da ſie ſich in der Bewegung äußert, welche, wo ſie rück- ſichtslos vordringt, zerſtörend wirkt, da endlich der Zuſchauer ſich ſelbſt zu dem Umgebenden mitzählt, was von dieſer Zerſtörung getroffen werden kann, ſo er- ſcheint das Erhabene der Kraft im Allgemeinen als furchtbar.
1. Auch hier zeigt ſich die „grenzloſe Grenze.“ Der kraftvolle Gegen- ſtand, der angeſchaut wird, hat nur ein begrenztes Maß der Kraft. Allein da er im beſtimmten Falle allen umgebenden Kräften überlegen iſt, ſo kommt jetzt nicht zum Bewußtſeyn, daß ihm ſelbſt eine andere Kraft überlegen ſeyn kann, ſondern dies bleibt verhüllt im Grunde des Gefühls. Der Gegenſtand wird als ein Weſen von beſchränkter Kraft zugleich feſtgehalten und zugleich dieſe Kraft in’s Unendliche erweiternd hinausgetragen.
2. Ueber das Meſſen nach der Größe des Widerſtands vergl. Kant a. a. O. §. 28. Es fehlt aber in ſeiner Darſtellung das weitere, im §. aufgeführte Moment, daß die Kraft als ſolche (in ihrem Unterſchied vom Geiſte) ein beſinnungsloſes iſt, von dem man den Eindruck hat, daß es nichts mit ſich führt, was es veranlaſſen könnte, den ſchwächeren Gegner zu ſchonen. Daher fürchten wir uns weit mehr, wenn wir dem Raubthiere, als wenn wir einem bewaffneten Menſchen gegenüber- ſtehen; ein unheimlicher Naturgrund thut ſich vor uns auf. Daß übrigens die Furcht keine eigentliche, ſondern der Fall eines Kampfes und vergeb- lichen Widerſtands, in den der Zuſchauer ſelbſt gerathen könnte, blos vorgeſtellt ſeyn darf, wenn das Furchtbare äſthetiſch ſeyn ſoll, folgt mit Nothwendigkeit aus der Intereſſeloſigkeit des Schönen. „Wer ſich fürchtet, kann über das Erhabene der Natur gar nicht urtheilen, ſo wenig als der, welcher durch Neigung und Appetit eingenommen iſt, über das Schöne“ (Kant a. a. O.). Die Erklärung der Luſt im Anblicke des furchtbar Erhabenen aus dem Gefühle der eigenen Sicherheit dagegen iſt ſo veraltet, daß ſie keiner Widerlegung mehr bedarf; es leuchtet ein, daß ſie
16*
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><pbfacs="#f0257"n="243"/><divn="6"><head>§. 96.</head><lb/><p><hirendition="#fr">Dynamiſch erhaben iſt ein Gegenſtand, wenn er den umgebenden an<noteplace="right">1</note><lb/>
Kraft ſo überlegen iſt, daß die ſeinige, obwohl durch ein Maß begrenzt,<lb/>
dennoch zugleich alles Maß zu überſchreiten ſcheint. Die Kraft wird durch<noteplace="right">2</note><lb/>
Widerſtand gemeſſen, alſo ein möglicher Widerſtand vorgeſtellt und zwar, weil<lb/>ſie unendlich erſcheint, als vergeblich. Da nun die Kraft zwar ein ſelbſtändiges,<lb/>
aber noch nicht vom Quantitativen geſchiedenes und in ſich reflectirtes, ſondern<lb/>
blindes Seyn iſt, und da ſie ſich in der Bewegung äußert, welche, wo ſie rück-<lb/>ſichtslos vordringt, zerſtörend wirkt, da endlich der Zuſchauer ſich ſelbſt zu dem<lb/>
Umgebenden mitzählt, was von dieſer Zerſtörung getroffen werden kann, ſo er-<lb/>ſcheint das Erhabene der Kraft im Allgemeinen als <hirendition="#g">furchtbar</hi>.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">1. Auch hier zeigt ſich die „grenzloſe Grenze.“ Der kraftvolle Gegen-<lb/>ſtand, der angeſchaut wird, hat nur ein begrenztes Maß der Kraft.<lb/>
Allein da er im beſtimmten Falle allen umgebenden Kräften überlegen<lb/>
iſt, ſo kommt jetzt nicht zum Bewußtſeyn, daß ihm ſelbſt eine andere<lb/>
Kraft überlegen ſeyn kann, ſondern dies bleibt verhüllt im Grunde des<lb/>
Gefühls. Der Gegenſtand wird als ein Weſen von beſchränkter Kraft<lb/>
zugleich feſtgehalten und zugleich dieſe Kraft in’s Unendliche erweiternd<lb/>
hinausgetragen.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">2. Ueber das Meſſen nach der Größe des Widerſtands vergl. <hirendition="#g">Kant</hi><lb/>
a. a. O. §. 28. Es fehlt aber in ſeiner Darſtellung das weitere, im<lb/>
§. aufgeführte Moment, daß die Kraft als ſolche (in ihrem Unterſchied<lb/>
vom Geiſte) ein beſinnungsloſes iſt, von dem man den Eindruck hat,<lb/>
daß es nichts mit ſich führt, was es veranlaſſen könnte, den ſchwächeren<lb/>
Gegner zu ſchonen. Daher fürchten wir uns weit mehr, wenn wir<lb/>
dem Raubthiere, als wenn wir einem bewaffneten Menſchen gegenüber-<lb/>ſtehen; ein unheimlicher Naturgrund thut ſich vor uns auf. Daß übrigens<lb/>
die Furcht keine eigentliche, ſondern der Fall eines Kampfes und vergeb-<lb/>
lichen Widerſtands, in den der Zuſchauer ſelbſt gerathen könnte, blos<lb/>
vorgeſtellt ſeyn darf, wenn das Furchtbare äſthetiſch ſeyn ſoll, folgt mit<lb/>
Nothwendigkeit aus der Intereſſeloſigkeit des Schönen. „Wer ſich fürchtet,<lb/>
kann über das Erhabene der Natur gar nicht urtheilen, ſo wenig als<lb/>
der, welcher durch Neigung und Appetit eingenommen iſt, über das<lb/>
Schöne“ (<hirendition="#g">Kant</hi> a. a. O.). Die Erklärung der Luſt im Anblicke des<lb/>
furchtbar Erhabenen aus dem Gefühle der eigenen Sicherheit dagegen iſt ſo<lb/>
veraltet, daß ſie keiner Widerlegung mehr bedarf; es leuchtet ein, daß ſie</hi><lb/><fwplace="bottom"type="sig">16*</fw><lb/></p></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[243/0257]
§. 96.
Dynamiſch erhaben iſt ein Gegenſtand, wenn er den umgebenden an
Kraft ſo überlegen iſt, daß die ſeinige, obwohl durch ein Maß begrenzt,
dennoch zugleich alles Maß zu überſchreiten ſcheint. Die Kraft wird durch
Widerſtand gemeſſen, alſo ein möglicher Widerſtand vorgeſtellt und zwar, weil
ſie unendlich erſcheint, als vergeblich. Da nun die Kraft zwar ein ſelbſtändiges,
aber noch nicht vom Quantitativen geſchiedenes und in ſich reflectirtes, ſondern
blindes Seyn iſt, und da ſie ſich in der Bewegung äußert, welche, wo ſie rück-
ſichtslos vordringt, zerſtörend wirkt, da endlich der Zuſchauer ſich ſelbſt zu dem
Umgebenden mitzählt, was von dieſer Zerſtörung getroffen werden kann, ſo er-
ſcheint das Erhabene der Kraft im Allgemeinen als furchtbar.
1. Auch hier zeigt ſich die „grenzloſe Grenze.“ Der kraftvolle Gegen-
ſtand, der angeſchaut wird, hat nur ein begrenztes Maß der Kraft.
Allein da er im beſtimmten Falle allen umgebenden Kräften überlegen
iſt, ſo kommt jetzt nicht zum Bewußtſeyn, daß ihm ſelbſt eine andere
Kraft überlegen ſeyn kann, ſondern dies bleibt verhüllt im Grunde des
Gefühls. Der Gegenſtand wird als ein Weſen von beſchränkter Kraft
zugleich feſtgehalten und zugleich dieſe Kraft in’s Unendliche erweiternd
hinausgetragen.
2. Ueber das Meſſen nach der Größe des Widerſtands vergl. Kant
a. a. O. §. 28. Es fehlt aber in ſeiner Darſtellung das weitere, im
§. aufgeführte Moment, daß die Kraft als ſolche (in ihrem Unterſchied
vom Geiſte) ein beſinnungsloſes iſt, von dem man den Eindruck hat,
daß es nichts mit ſich führt, was es veranlaſſen könnte, den ſchwächeren
Gegner zu ſchonen. Daher fürchten wir uns weit mehr, wenn wir
dem Raubthiere, als wenn wir einem bewaffneten Menſchen gegenüber-
ſtehen; ein unheimlicher Naturgrund thut ſich vor uns auf. Daß übrigens
die Furcht keine eigentliche, ſondern der Fall eines Kampfes und vergeb-
lichen Widerſtands, in den der Zuſchauer ſelbſt gerathen könnte, blos
vorgeſtellt ſeyn darf, wenn das Furchtbare äſthetiſch ſeyn ſoll, folgt mit
Nothwendigkeit aus der Intereſſeloſigkeit des Schönen. „Wer ſich fürchtet,
kann über das Erhabene der Natur gar nicht urtheilen, ſo wenig als
der, welcher durch Neigung und Appetit eingenommen iſt, über das
Schöne“ (Kant a. a. O.). Die Erklärung der Luſt im Anblicke des
furchtbar Erhabenen aus dem Gefühle der eigenen Sicherheit dagegen iſt ſo
veraltet, daß ſie keiner Widerlegung mehr bedarf; es leuchtet ein, daß ſie
16*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/257>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.