stande im zeitlich Erhabenen ungleich gewisser ein Bewußtseyn untergeschoben wird, als im zeitlich Erhabenen.
2. Die ausdrücklich vollzogene Vorstellung, als daure ein Endliches unendlich, ist leer und ermüdend, so lang man ihm kein Bewußtseyn dieses Widerspruchs zuschreibt; schreibt man ihm aber dieses zu, so tritt alsbald ein Entsetzliches in das Gefühl und daher haben die Völker solche Vor- stellungen nur erdichtet in dem Sinne der äußersten Strafe. Nicht sterben können ist schauderhaft. Sage vom ewigen Juden. Die ewige Ver- dammniß ist nicht so schauderhaft, wie diese Vorstellung, weil die positiven Qualen, womit hier die Fortdauer erfüllt erscheint, nicht Zeit lassen, das Bewußtseyn auf die innerste Qual, die unendliche Fortdauer des todes- müden endlichen Wesens, zu fixiren. Von dem Fortleben der Seligen aber hält man die Vorstellung dieser Qual ferne durch die Ungenauigkeit des Denkens, vermöge welcher man sich die Zeit des fortlebenden Wesens mit Genüssen ausgefüllt vorstellt, welche zugleich über alle Zeitbedingungen er- haben seyn sollen. -- Wir haben hier den Kreis dichtender Vorstellung, freilich etwas vorgreifend, berührt, den Hauptpunkt mehr zu verdeutlichen; so wurde auch der Begriff des Schauderhaften hereingezogen, der in seiner ganzen Bedeutung allerdings erst in das Erhabene der Kraft fällt. Die erhabene Stelle des Psalm 90, v. 4.: "Tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache" u. s. w. spricht dem Jehovah, obwohl sinnlich vorgestellt, Erhabenheit über die Zeit zu und führt schon zur negativen Form.
§. 94.
1
Auch die Zeit bestimmt sich in gewisse Dimensionen, je nachdem das empfindende Subject auf die verschwundene oder auf die bevorstehende Zeitreihe hinblickt. Der Standpunkt ist die Gegenwart, jenes die Vergangenheit, dieses die Zukunft. Die Vergangenheit wirkt immer eine, zwar verschieden gestimmte, Wehmuth, die Zukunft geheimnißvolle Erwartung, die Gegenwart, im Versuche sie zu halten, verschwindend, hat kein besonderes Gefühl für sich, außer sofern sie jene beide verbindet. Diese Dimensionen fließen so in einander über, daß schon 2dadurch der innere Widerspruch der Zeitform in das Gefühl tritt. Erscheint nun selbst das lange Dauernde, das geeignet war, das positiv Erhabene der Zeit dar-
ſtande im zeitlich Erhabenen ungleich gewiſſer ein Bewußtſeyn untergeſchoben wird, als im zeitlich Erhabenen.
2. Die ausdrücklich vollzogene Vorſtellung, als daure ein Endliches unendlich, iſt leer und ermüdend, ſo lang man ihm kein Bewußtſeyn dieſes Widerſpruchs zuſchreibt; ſchreibt man ihm aber dieſes zu, ſo tritt alsbald ein Entſetzliches in das Gefühl und daher haben die Völker ſolche Vor- ſtellungen nur erdichtet in dem Sinne der äußerſten Strafe. Nicht ſterben können iſt ſchauderhaft. Sage vom ewigen Juden. Die ewige Ver- dammniß iſt nicht ſo ſchauderhaft, wie dieſe Vorſtellung, weil die poſitiven Qualen, womit hier die Fortdauer erfüllt erſcheint, nicht Zeit laſſen, das Bewußtſeyn auf die innerſte Qual, die unendliche Fortdauer des todes- müden endlichen Weſens, zu fixiren. Von dem Fortleben der Seligen aber hält man die Vorſtellung dieſer Qual ferne durch die Ungenauigkeit des Denkens, vermöge welcher man ſich die Zeit des fortlebenden Weſens mit Genüſſen ausgefüllt vorſtellt, welche zugleich über alle Zeitbedingungen er- haben ſeyn ſollen. — Wir haben hier den Kreis dichtender Vorſtellung, freilich etwas vorgreifend, berührt, den Hauptpunkt mehr zu verdeutlichen; ſo wurde auch der Begriff des Schauderhaften hereingezogen, der in ſeiner ganzen Bedeutung allerdings erſt in das Erhabene der Kraft fällt. Die erhabene Stelle des Pſalm 90, v. 4.: „Tauſend Jahre ſind vor dir wie der Tag, der geſtern vergangen iſt, und wie eine Nachtwache“ u. ſ. w. ſpricht dem Jehovah, obwohl ſinnlich vorgeſtellt, Erhabenheit über die Zeit zu und führt ſchon zur negativen Form.
§. 94.
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Auch die Zeit beſtimmt ſich in gewiſſe Dimenſionen, je nachdem das empfindende Subject auf die verſchwundene oder auf die bevorſtehende Zeitreihe hinblickt. Der Standpunkt iſt die Gegenwart, jenes die Vergangenheit, dieſes die Zukunft. Die Vergangenheit wirkt immer eine, zwar verſchieden geſtimmte, Wehmuth, die Zukunft geheimnißvolle Erwartung, die Gegenwart, im Verſuche ſie zu halten, verſchwindend, hat kein beſonderes Gefühl für ſich, außer ſofern ſie jene beide verbindet. Dieſe Dimenſionen fließen ſo in einander über, daß ſchon 2dadurch der innere Widerſpruch der Zeitform in das Gefühl tritt. Erſcheint nun ſelbſt das lange Dauernde, das geeignet war, das poſitiv Erhabene der Zeit dar-
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2. Die ausdrücklich vollzogene Vorſtellung, als daure ein Endliches
unendlich, iſt leer und ermüdend, ſo lang man ihm kein Bewußtſeyn dieſes
Widerſpruchs zuſchreibt; ſchreibt man ihm aber dieſes zu, ſo tritt alsbald
ein Entſetzliches in das Gefühl und daher haben die Völker ſolche Vor-
ſtellungen nur erdichtet in dem Sinne der äußerſten Strafe. Nicht ſterben
können iſt ſchauderhaft. Sage vom ewigen Juden. Die ewige Ver-
dammniß iſt nicht ſo ſchauderhaft, wie dieſe Vorſtellung, weil die poſitiven
Qualen, womit hier die Fortdauer erfüllt erſcheint, nicht Zeit laſſen, das
Bewußtſeyn auf die innerſte Qual, die unendliche Fortdauer des todes-
müden endlichen Weſens, zu fixiren. Von dem Fortleben der Seligen aber
hält man die Vorſtellung dieſer Qual ferne durch die Ungenauigkeit des
Denkens, vermöge welcher man ſich die Zeit des fortlebenden Weſens mit
Genüſſen ausgefüllt vorſtellt, welche zugleich über alle Zeitbedingungen er-
haben ſeyn ſollen. — Wir haben hier den Kreis dichtender Vorſtellung,
freilich etwas vorgreifend, berührt, den Hauptpunkt mehr zu verdeutlichen;
ſo wurde auch der Begriff des Schauderhaften hereingezogen, der in ſeiner
ganzen Bedeutung allerdings erſt in das Erhabene der Kraft fällt. Die
erhabene Stelle des Pſalm 90, v. 4.: „Tauſend Jahre ſind vor dir wie
der Tag, der geſtern vergangen iſt, und wie eine Nachtwache“ u. ſ. w.
ſpricht dem Jehovah, obwohl ſinnlich vorgeſtellt, Erhabenheit über die
Zeit zu und führt ſchon zur negativen Form.
§. 94.
Auch die Zeit beſtimmt ſich in gewiſſe Dimenſionen, je nachdem das
empfindende Subject auf die verſchwundene oder auf die bevorſtehende Zeitreihe
hinblickt. Der Standpunkt iſt die Gegenwart, jenes die Vergangenheit, dieſes
die Zukunft. Die Vergangenheit wirkt immer eine, zwar verſchieden geſtimmte,
Wehmuth, die Zukunft geheimnißvolle Erwartung, die Gegenwart, im Verſuche
ſie zu halten, verſchwindend, hat kein beſonderes Gefühl für ſich, außer ſofern ſie
jene beide verbindet. Dieſe Dimenſionen fließen ſo in einander über, daß ſchon
dadurch der innere Widerſpruch der Zeitform in das Gefühl tritt. Erſcheint nun
ſelbſt das lange Dauernde, das geeignet war, das poſitiv Erhabene der Zeit dar-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/254>, abgerufen am 27.11.2024.
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