Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Abtheilungen an ihm zeigen, Wellen auf der Meeresfläche, Senkungen,
Hebungen, brüchige Stellen u. dergl. auf einer Erdfläche, Fugen der
Bausteine, Stockwerke, Friese, Gesimse, Ornamente u. dergl. an einem
Gebäude; sonst mißt das Auge überhaupt nicht. Diese Einschnitte aber
dürfen nicht stark seyn, nicht grell (z. B. durch Farbe) von einander ab-
stechen und müssen sich in langer Folge wiederholen. Sind sie zu stark,
so fängt das Auge mit jedem neuen Einschnitt einen neuen Gegenstand
an, stechen sie grell von einander ab, so ist dasselbe der Fall; doch ist
nicht völlige Einfärbigkeit nöthig, wie J. Paul behauptet. Vergl. was
Kant nach Savary von den Pyramiden sagt. -- Warum erscheint die
Peterskirche kleiner, als sie ist?

Hier ist nun bereits der Ort, wo sich bemerklich macht, daß im
blos Quantitativen schon Tieferes mitspielt. J. Paul sagt: weder die
Mitte, noch die Spitze der Pyramide ist erhaben, sondern die Bahn
des Blicks. Also die Bewegung; aber nicht nur die Bewegung des
Sehens und die damit gegebene Bewegung des inneren Vorstellens,
sondern dies an diesem Vorstellen, daß der Gegenstand selbst sich zu
bewegen scheint. Auch war es ja einmal wirkliche Bewegung, wodurch
Berge, Thürme entstanden sind; der Sehende schafft sie neu, die Linien
fließen und in ihnen die weltbauende Kraft: also liegt schon das Erhabene
der Kraft zu Grunde. Die Phantasie sieht das Urgewässer strömen,
hört es tosen, das diesen Berg zurückgelassen, sieht das Feuer jenen
emporschleudern. Allein dies liegt auch nur zu Grunde; das Bestim-
mende bleibt, daß die Kraft diese Berge so hoch thürmen, jene Fläche
so weit dehnen konnte u. s. w.

3. Beispiele zur Wirkung der Dimensionen s. in der Schr. Ueber
das Erhabene und Komische S. 55 -- 58. Es wird hier noch klarer,
daß Qualitatives mit einwirkt: die in ihren Umrissen schöne Höhe er-
hebt, die formlosere und überhängende droht; in beiden wird die Kraft
anders vorgestellt, die sie hervorbrachte, dort edel, hier wild; Tiefe
erregt die Angst der Existenz, Breite wirkt elegisch: dies sind geistige
Bestimmungen, wie solche zur Bezeichnung der Wirkung der verschiedenen
Dimensionen auch im §. gebraucht sind. Allein geistig deutet der Mensch
Alles; demnach wäre kein Unterschied in den Dingen. Es kommt
aber darauf, wie viel für die (unwillkürliche) Deutung oder leihende
Vergeistigung zu thun bleibt: das macht den Unterschied.


Abtheilungen an ihm zeigen, Wellen auf der Meeresfläche, Senkungen,
Hebungen, brüchige Stellen u. dergl. auf einer Erdfläche, Fugen der
Bauſteine, Stockwerke, Frieſe, Geſimſe, Ornamente u. dergl. an einem
Gebäude; ſonſt mißt das Auge überhaupt nicht. Dieſe Einſchnitte aber
dürfen nicht ſtark ſeyn, nicht grell (z. B. durch Farbe) von einander ab-
ſtechen und müſſen ſich in langer Folge wiederholen. Sind ſie zu ſtark,
ſo fängt das Auge mit jedem neuen Einſchnitt einen neuen Gegenſtand
an, ſtechen ſie grell von einander ab, ſo iſt dasſelbe der Fall; doch iſt
nicht völlige Einfärbigkeit nöthig, wie J. Paul behauptet. Vergl. was
Kant nach Savary von den Pyramiden ſagt. — Warum erſcheint die
Peterskirche kleiner, als ſie iſt?

Hier iſt nun bereits der Ort, wo ſich bemerklich macht, daß im
blos Quantitativen ſchon Tieferes mitſpielt. J. Paul ſagt: weder die
Mitte, noch die Spitze der Pyramide iſt erhaben, ſondern die Bahn
des Blicks. Alſo die Bewegung; aber nicht nur die Bewegung des
Sehens und die damit gegebene Bewegung des inneren Vorſtellens,
ſondern dies an dieſem Vorſtellen, daß der Gegenſtand ſelbſt ſich zu
bewegen ſcheint. Auch war es ja einmal wirkliche Bewegung, wodurch
Berge, Thürme entſtanden ſind; der Sehende ſchafft ſie neu, die Linien
fließen und in ihnen die weltbauende Kraft: alſo liegt ſchon das Erhabene
der Kraft zu Grunde. Die Phantaſie ſieht das Urgewäſſer ſtrömen,
hört es toſen, das dieſen Berg zurückgelaſſen, ſieht das Feuer jenen
emporſchleudern. Allein dies liegt auch nur zu Grunde; das Beſtim-
mende bleibt, daß die Kraft dieſe Berge ſo hoch thürmen, jene Fläche
ſo weit dehnen konnte u. ſ. w.

3. Beiſpiele zur Wirkung der Dimenſionen ſ. in der Schr. Ueber
das Erhabene und Komiſche S. 55 — 58. Es wird hier noch klarer,
daß Qualitatives mit einwirkt: die in ihren Umriſſen ſchöne Höhe er-
hebt, die formloſere und überhängende droht; in beiden wird die Kraft
anders vorgeſtellt, die ſie hervorbrachte, dort edel, hier wild; Tiefe
erregt die Angſt der Exiſtenz, Breite wirkt elegiſch: dies ſind geiſtige
Beſtimmungen, wie ſolche zur Bezeichnung der Wirkung der verſchiedenen
Dimenſionen auch im §. gebraucht ſind. Allein geiſtig deutet der Menſch
Alles; demnach wäre kein Unterſchied in den Dingen. Es kommt
aber darauf, wie viel für die (unwillkürliche) Deutung oder leihende
Vergeiſtigung zu thun bleibt: das macht den Unterſchied.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0250" n="236"/>
Abtheilungen an ihm zeigen, Wellen auf der Meeresfläche, Senkungen,<lb/>
Hebungen, brüchige Stellen u. dergl. auf einer Erdfläche, Fugen der<lb/>
Bau&#x017F;teine, Stockwerke, Frie&#x017F;e, Ge&#x017F;im&#x017F;e, Ornamente u. dergl. an einem<lb/>
Gebäude; &#x017F;on&#x017F;t mißt das Auge überhaupt nicht. Die&#x017F;e Ein&#x017F;chnitte aber<lb/>
dürfen nicht &#x017F;tark &#x017F;eyn, nicht grell (z. B. durch Farbe) von einander ab-<lb/>
&#x017F;techen und mü&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich in langer Folge wiederholen. Sind &#x017F;ie zu &#x017F;tark,<lb/>
&#x017F;o fängt das Auge mit jedem neuen Ein&#x017F;chnitt einen neuen Gegen&#x017F;tand<lb/>
an, &#x017F;techen &#x017F;ie grell von einander ab, &#x017F;o i&#x017F;t das&#x017F;elbe der Fall; doch i&#x017F;t<lb/>
nicht völlige Einfärbigkeit nöthig, wie J. <hi rendition="#g">Paul</hi> behauptet. Vergl. was<lb/><hi rendition="#g">Kant</hi> nach Savary von den Pyramiden &#x017F;agt. &#x2014; Warum er&#x017F;cheint die<lb/>
Peterskirche kleiner, als &#x017F;ie i&#x017F;t?</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">Hier i&#x017F;t nun bereits der Ort, wo &#x017F;ich bemerklich macht, daß im<lb/>
blos Quantitativen &#x017F;chon Tieferes mit&#x017F;pielt. J. <hi rendition="#g">Paul</hi> &#x017F;agt: weder die<lb/>
Mitte, noch die Spitze der Pyramide i&#x017F;t erhaben, &#x017F;ondern die Bahn<lb/>
des Blicks. Al&#x017F;o die Bewegung; aber nicht nur die Bewegung des<lb/>
Sehens und die damit gegebene Bewegung des inneren Vor&#x017F;tellens,<lb/>
&#x017F;ondern dies an die&#x017F;em Vor&#x017F;tellen, daß der Gegen&#x017F;tand &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ich zu<lb/>
bewegen &#x017F;cheint. Auch war es ja einmal wirkliche Bewegung, wodurch<lb/>
Berge, Thürme ent&#x017F;tanden &#x017F;ind; der Sehende &#x017F;chafft &#x017F;ie neu, die Linien<lb/>
fließen und in ihnen die weltbauende Kraft: al&#x017F;o liegt &#x017F;chon das Erhabene<lb/>
der Kraft zu Grunde. Die Phanta&#x017F;ie &#x017F;ieht das Urgewä&#x017F;&#x017F;er &#x017F;trömen,<lb/>
hört es to&#x017F;en, das die&#x017F;en Berg zurückgela&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ieht das Feuer jenen<lb/>
empor&#x017F;chleudern. Allein dies liegt auch nur <hi rendition="#g">zu Grunde</hi>; das Be&#x017F;tim-<lb/>
mende bleibt, daß die Kraft die&#x017F;e Berge &#x017F;o <hi rendition="#g">hoch</hi> thürmen, jene Fläche<lb/>
&#x017F;o <hi rendition="#g">weit</hi> dehnen konnte u. &#x017F;. w.</hi> </p><lb/>
                  <p> <hi rendition="#et">3. Bei&#x017F;piele zur Wirkung der Dimen&#x017F;ionen &#x017F;. in der Schr. Ueber<lb/>
das Erhabene und Komi&#x017F;che S. 55 &#x2014; 58. Es wird hier noch klarer,<lb/>
daß Qualitatives mit einwirkt: die in ihren Umri&#x017F;&#x017F;en &#x017F;chöne Höhe er-<lb/>
hebt, die formlo&#x017F;ere und überhängende droht; in beiden wird die Kraft<lb/>
anders vorge&#x017F;tellt, die &#x017F;ie hervorbrachte, dort edel, hier wild; Tiefe<lb/>
erregt die Ang&#x017F;t der Exi&#x017F;tenz, Breite wirkt elegi&#x017F;ch: dies &#x017F;ind gei&#x017F;tige<lb/>
Be&#x017F;timmungen, wie &#x017F;olche zur Bezeichnung der Wirkung der ver&#x017F;chiedenen<lb/>
Dimen&#x017F;ionen auch im §. gebraucht &#x017F;ind. Allein gei&#x017F;tig deutet der Men&#x017F;ch<lb/><hi rendition="#g">Alles</hi>; demnach wäre kein Unter&#x017F;chied in den Dingen. Es kommt<lb/>
aber darauf, wie viel für die (unwillkürliche) Deutung oder leihende<lb/>
Vergei&#x017F;tigung zu thun bleibt: das macht den Unter&#x017F;chied.</hi> </p>
                </div><lb/>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[236/0250] Abtheilungen an ihm zeigen, Wellen auf der Meeresfläche, Senkungen, Hebungen, brüchige Stellen u. dergl. auf einer Erdfläche, Fugen der Bauſteine, Stockwerke, Frieſe, Geſimſe, Ornamente u. dergl. an einem Gebäude; ſonſt mißt das Auge überhaupt nicht. Dieſe Einſchnitte aber dürfen nicht ſtark ſeyn, nicht grell (z. B. durch Farbe) von einander ab- ſtechen und müſſen ſich in langer Folge wiederholen. Sind ſie zu ſtark, ſo fängt das Auge mit jedem neuen Einſchnitt einen neuen Gegenſtand an, ſtechen ſie grell von einander ab, ſo iſt dasſelbe der Fall; doch iſt nicht völlige Einfärbigkeit nöthig, wie J. Paul behauptet. Vergl. was Kant nach Savary von den Pyramiden ſagt. — Warum erſcheint die Peterskirche kleiner, als ſie iſt? Hier iſt nun bereits der Ort, wo ſich bemerklich macht, daß im blos Quantitativen ſchon Tieferes mitſpielt. J. Paul ſagt: weder die Mitte, noch die Spitze der Pyramide iſt erhaben, ſondern die Bahn des Blicks. Alſo die Bewegung; aber nicht nur die Bewegung des Sehens und die damit gegebene Bewegung des inneren Vorſtellens, ſondern dies an dieſem Vorſtellen, daß der Gegenſtand ſelbſt ſich zu bewegen ſcheint. Auch war es ja einmal wirkliche Bewegung, wodurch Berge, Thürme entſtanden ſind; der Sehende ſchafft ſie neu, die Linien fließen und in ihnen die weltbauende Kraft: alſo liegt ſchon das Erhabene der Kraft zu Grunde. Die Phantaſie ſieht das Urgewäſſer ſtrömen, hört es toſen, das dieſen Berg zurückgelaſſen, ſieht das Feuer jenen emporſchleudern. Allein dies liegt auch nur zu Grunde; das Beſtim- mende bleibt, daß die Kraft dieſe Berge ſo hoch thürmen, jene Fläche ſo weit dehnen konnte u. ſ. w. 3. Beiſpiele zur Wirkung der Dimenſionen ſ. in der Schr. Ueber das Erhabene und Komiſche S. 55 — 58. Es wird hier noch klarer, daß Qualitatives mit einwirkt: die in ihren Umriſſen ſchöne Höhe er- hebt, die formloſere und überhängende droht; in beiden wird die Kraft anders vorgeſtellt, die ſie hervorbrachte, dort edel, hier wild; Tiefe erregt die Angſt der Exiſtenz, Breite wirkt elegiſch: dies ſind geiſtige Beſtimmungen, wie ſolche zur Bezeichnung der Wirkung der verſchiedenen Dimenſionen auch im §. gebraucht ſind. Allein geiſtig deutet der Menſch Alles; demnach wäre kein Unterſchied in den Dingen. Es kommt aber darauf, wie viel für die (unwillkürliche) Deutung oder leihende Vergeiſtigung zu thun bleibt: das macht den Unterſchied.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/250
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/250>, abgerufen am 27.11.2024.