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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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Kraft an die Schwelle der eigentlich qualitativen (geistigen) Erhabenheit
führt, ihr Recht behaupten.

2. "Zunächst". Es ist im folg. §. noch eine andere Form der posi-
tiven Erhabenheit des Raums aufzuführen. Die Bedingung der Er-
habenheit eines Gegenstands ist zuerst, daß er ungleich größer sey, als
die umgebenden, sey es seiner oder einer andern Gattung angehörigen; denn
gemessen muß werden, wenn überhaupt etwas als groß bestimmt werden
soll. Allein so erhalten wir nur eine relative Größe, das Erhabene fordert
aber den Eindruck einer unendlichen. Hier tritt eine weitere, den Gegen-
stand selbst betreffende Bedingung ein, welche schon Burke (a. a. O.
Th. 4, Abschn. 9--14) scharfsinnig, jedoch mit einseitig physiologischer
und empirischer Begründung entwickelt hat. Kant (a. a. O. §. 26)
geht wissenschaftlicher zu Werke, ohne in der Ausführung so vollständig
zu seyn als Burke. Jean Paul (a. a. O. §. 27) ergänzt ihn und
vollendet den Begriff. Die Sache ist diese: der Gegenstand selbst, neben
dem die umgebenden unendlich klein erscheinen sollen, muß gemessen
werden; aber alles Maß muß sich als unzureichend erweisen, d. h. es
muß eine Aufforderung gegeben seyn, in's Unendliche fortzumessen. Zu
diesem Messen sind, wie Kant aufzeigt, zwei Handlungen nöthig: Auf-
fassung und Zusammenfassung. Die Auffassung nun muß so lange fort-
rücken, daß die Zusammenfassung nicht mehr folgen kann, sondern, in-
dem immer neu aufgefaßte Theilvorstellungen sich ansetzen, die vorher-
gehenden in demselben Grade erlöschen, wodurch der Versuch der Zu-
sammenfassung auf der einen Seite ebensoviel verliert, als er auf der
andern gewinnt. Dadurch nun verliert die Phantasie den festen Boden,
sie geräth in's Schweben und setzt im Schwindel diesen Widerspruch des
Auffassens und Zusammenfassens in's Unbestimmte fort, obwohl der
Gegenstand an sich wirklich eine Grenze hat und die Auffassung daher
eigentlich allerdings ihr Ende findet. So erscheint denn der Gegenstand
als unendlich groß, er steigt und wächst fort, wir wissen nicht wohin,
und wir glauben im Begrenzten das alle Grenze Setzende und allen
Raum Füllende zu sehen. Kommt nun noch einiges Dunkel dazu, wo-
durch die vorhandene Grenze sich in einen Schleier verhüllt, so findet
auch die Auffassung in Wirklichkeit ihr Ende nicht und nur das abstracte
Wissen, daß in Wahrheit Alles eine Grenze hat, das aber im ästheti-
schen Gebiete als solches überhaupt nicht in Kraft ist, bleibt als leicht
besiegtes Hinderniß der Täuschung zurück. Demgemäß muß der Körper
des Gegenstands folgende Eigenschaften haben: es müssen sich Einschnitte,

Kraft an die Schwelle der eigentlich qualitativen (geiſtigen) Erhabenheit
führt, ihr Recht behaupten.

2. „Zunächſt“. Es iſt im folg. §. noch eine andere Form der poſi-
tiven Erhabenheit des Raums aufzuführen. Die Bedingung der Er-
habenheit eines Gegenſtands iſt zuerſt, daß er ungleich größer ſey, als
die umgebenden, ſey es ſeiner oder einer andern Gattung angehörigen; denn
gemeſſen muß werden, wenn überhaupt etwas als groß beſtimmt werden
ſoll. Allein ſo erhalten wir nur eine relative Größe, das Erhabene fordert
aber den Eindruck einer unendlichen. Hier tritt eine weitere, den Gegen-
ſtand ſelbſt betreffende Bedingung ein, welche ſchon Burke (a. a. O.
Th. 4, Abſchn. 9—14) ſcharfſinnig, jedoch mit einſeitig phyſiologiſcher
und empiriſcher Begründung entwickelt hat. Kant (a. a. O. §. 26)
geht wiſſenſchaftlicher zu Werke, ohne in der Ausführung ſo vollſtändig
zu ſeyn als Burke. Jean Paul (a. a. O. §. 27) ergänzt ihn und
vollendet den Begriff. Die Sache iſt dieſe: der Gegenſtand ſelbſt, neben
dem die umgebenden unendlich klein erſcheinen ſollen, muß gemeſſen
werden; aber alles Maß muß ſich als unzureichend erweiſen, d. h. es
muß eine Aufforderung gegeben ſeyn, in’s Unendliche fortzumeſſen. Zu
dieſem Meſſen ſind, wie Kant aufzeigt, zwei Handlungen nöthig: Auf-
faſſung und Zuſammenfaſſung. Die Auffaſſung nun muß ſo lange fort-
rücken, daß die Zuſammenfaſſung nicht mehr folgen kann, ſondern, in-
dem immer neu aufgefaßte Theilvorſtellungen ſich anſetzen, die vorher-
gehenden in demſelben Grade erlöſchen, wodurch der Verſuch der Zu-
ſammenfaſſung auf der einen Seite ebenſoviel verliert, als er auf der
andern gewinnt. Dadurch nun verliert die Phantaſie den feſten Boden,
ſie geräth in’s Schweben und ſetzt im Schwindel dieſen Widerſpruch des
Auffaſſens und Zuſammenfaſſens in’s Unbeſtimmte fort, obwohl der
Gegenſtand an ſich wirklich eine Grenze hat und die Auffaſſung daher
eigentlich allerdings ihr Ende findet. So erſcheint denn der Gegenſtand
als unendlich groß, er ſteigt und wächst fort, wir wiſſen nicht wohin,
und wir glauben im Begrenzten das alle Grenze Setzende und allen
Raum Füllende zu ſehen. Kommt nun noch einiges Dunkel dazu, wo-
durch die vorhandene Grenze ſich in einen Schleier verhüllt, ſo findet
auch die Auffaſſung in Wirklichkeit ihr Ende nicht und nur das abſtracte
Wiſſen, daß in Wahrheit Alles eine Grenze hat, das aber im äſtheti-
ſchen Gebiete als ſolches überhaupt nicht in Kraft iſt, bleibt als leicht
beſiegtes Hinderniß der Täuſchung zurück. Demgemäß muß der Körper
des Gegenſtands folgende Eigenſchaften haben: es müſſen ſich Einſchnitte,

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[235/0249] Kraft an die Schwelle der eigentlich qualitativen (geiſtigen) Erhabenheit führt, ihr Recht behaupten. 2. „Zunächſt“. Es iſt im folg. §. noch eine andere Form der poſi- tiven Erhabenheit des Raums aufzuführen. Die Bedingung der Er- habenheit eines Gegenſtands iſt zuerſt, daß er ungleich größer ſey, als die umgebenden, ſey es ſeiner oder einer andern Gattung angehörigen; denn gemeſſen muß werden, wenn überhaupt etwas als groß beſtimmt werden ſoll. Allein ſo erhalten wir nur eine relative Größe, das Erhabene fordert aber den Eindruck einer unendlichen. Hier tritt eine weitere, den Gegen- ſtand ſelbſt betreffende Bedingung ein, welche ſchon Burke (a. a. O. Th. 4, Abſchn. 9—14) ſcharfſinnig, jedoch mit einſeitig phyſiologiſcher und empiriſcher Begründung entwickelt hat. Kant (a. a. O. §. 26) geht wiſſenſchaftlicher zu Werke, ohne in der Ausführung ſo vollſtändig zu ſeyn als Burke. Jean Paul (a. a. O. §. 27) ergänzt ihn und vollendet den Begriff. Die Sache iſt dieſe: der Gegenſtand ſelbſt, neben dem die umgebenden unendlich klein erſcheinen ſollen, muß gemeſſen werden; aber alles Maß muß ſich als unzureichend erweiſen, d. h. es muß eine Aufforderung gegeben ſeyn, in’s Unendliche fortzumeſſen. Zu dieſem Meſſen ſind, wie Kant aufzeigt, zwei Handlungen nöthig: Auf- faſſung und Zuſammenfaſſung. Die Auffaſſung nun muß ſo lange fort- rücken, daß die Zuſammenfaſſung nicht mehr folgen kann, ſondern, in- dem immer neu aufgefaßte Theilvorſtellungen ſich anſetzen, die vorher- gehenden in demſelben Grade erlöſchen, wodurch der Verſuch der Zu- ſammenfaſſung auf der einen Seite ebenſoviel verliert, als er auf der andern gewinnt. Dadurch nun verliert die Phantaſie den feſten Boden, ſie geräth in’s Schweben und ſetzt im Schwindel dieſen Widerſpruch des Auffaſſens und Zuſammenfaſſens in’s Unbeſtimmte fort, obwohl der Gegenſtand an ſich wirklich eine Grenze hat und die Auffaſſung daher eigentlich allerdings ihr Ende findet. So erſcheint denn der Gegenſtand als unendlich groß, er ſteigt und wächst fort, wir wiſſen nicht wohin, und wir glauben im Begrenzten das alle Grenze Setzende und allen Raum Füllende zu ſehen. Kommt nun noch einiges Dunkel dazu, wo- durch die vorhandene Grenze ſich in einen Schleier verhüllt, ſo findet auch die Auffaſſung in Wirklichkeit ihr Ende nicht und nur das abſtracte Wiſſen, daß in Wahrheit Alles eine Grenze hat, das aber im äſtheti- ſchen Gebiete als ſolches überhaupt nicht in Kraft iſt, bleibt als leicht beſiegtes Hinderniß der Täuſchung zurück. Demgemäß muß der Körper des Gegenſtands folgende Eigenſchaften haben: es müſſen ſich Einſchnitte,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/249>, abgerufen am 27.11.2024.