geht er davon aus, daß im Erhabenen die Irrationalität, welche die Maßbestimmungen des Schönen so durchdringt, daß sie in keine Formel gefaßt werden können, sich entbinde (§. 21), er geräth aber in's Mira- culöse, wenn er sofort am organischen Körper dieses Hinausgehen in Bewegungen findet, die organisch unmöglich sind, wie Schweben, Fliegen menschlicher Gestalten u. dergl. Dies gehört in die Geschichte der Phantasie und Kunst als Zug des Verhaltens eines bestimmten Ideals zum Naturgesetze. Der Grund sitzt aber bei Weiße tiefer, er denkt an einen Einbruch einer zweiten, jenseitigen Welt, einer Wunderwelt in die jetzige, sonst hätte ihn die Beobachtung der ersten von den zwei Formen, die unser §. sofort unterscheidet, derjenigen nämlich, wo alle Regel- mäßigkeit der Gestalt durchbrochen erscheint, nicht zu solchen Wunderlich- keiten geführt. Davon sogleich mehr; zunächst ist überhaupt festzuhalten, daß die Formlosigkeit nicht schlechthin aus der Form ausweichen darf. Dies folgt aus dem durch §. 84 im Erhabenen aufgewiesenen Wesen des Widerspruchs. Reine Formlosigkeit ist gleich Null; die Idee ist das Formsetzende, daher freilich mehr, als das Gesetzte, und als dieses Mehr kommt sie im Erhabenen zum Vorschein, allein nur indem sie die Form setzt, kann sie sich zugleich darstellen als das Prinzip, das als Urheber der Form auch über sie hinausgeht. Die Form wird im Er- habenen zugleich gesetzt und aufgehoben.
2. Dies nun kann also auf doppelte Weise geschehen. Entweder werden die natürlichen Formverhältnisse des Gegenstands theilweise fest- gehalten, theilweise aufgehoben. Man stelle sich z. B. einen Berg vor, der nicht die reine und schöne Linie des Vesuv hat, sondern von der konischen Bergform in schroffen Linien theilweise abweicht. Diese ab- springenden Formen reissen die Phantasie aus dem erwarteten Zusammen- hang der ihr geläufigen Grundform des Berges heraus, diese kecke Un- regelmäßigkeit kündigt eine Massenthürmende Urgewalt an, die fähig wäre, in's Unendliche fortzuthürmen, und für die Phantasie wächst daher die abspringende Linie in's Unendliche fort. Allein sobald dies wirklich der letzte Eindruck wäre, so entstünde statt des Erhabenen ein Langweiliges, wie denn z. B. das offene Meer langweilig wird bei Windstille und nur der Gegensatz begrenzender Ufer oder der Wechsel der Wellen seiner Linie den Reiz der Erhabenheit gibt; vielmehr die abspringende Linie kehrt zur regelmäßigen (z. B. zur geläufigen Berg- form) zurück und der Total-Eindruck ist der einer zugleich Form setzenden, aber weil frei setzenden, auch überflügelnden Urkraft. Ebenso der Geist
geht er davon aus, daß im Erhabenen die Irrationalität, welche die Maßbeſtimmungen des Schönen ſo durchdringt, daß ſie in keine Formel gefaßt werden können, ſich entbinde (§. 21), er geräth aber in’s Mira- culöſe, wenn er ſofort am organiſchen Körper dieſes Hinausgehen in Bewegungen findet, die organiſch unmöglich ſind, wie Schweben, Fliegen menſchlicher Geſtalten u. dergl. Dies gehört in die Geſchichte der Phantaſie und Kunſt als Zug des Verhaltens eines beſtimmten Ideals zum Naturgeſetze. Der Grund ſitzt aber bei Weiße tiefer, er denkt an einen Einbruch einer zweiten, jenſeitigen Welt, einer Wunderwelt in die jetzige, ſonſt hätte ihn die Beobachtung der erſten von den zwei Formen, die unſer §. ſofort unterſcheidet, derjenigen nämlich, wo alle Regel- mäßigkeit der Geſtalt durchbrochen erſcheint, nicht zu ſolchen Wunderlich- keiten geführt. Davon ſogleich mehr; zunächſt iſt überhaupt feſtzuhalten, daß die Formloſigkeit nicht ſchlechthin aus der Form ausweichen darf. Dies folgt aus dem durch §. 84 im Erhabenen aufgewieſenen Weſen des Widerſpruchs. Reine Formloſigkeit iſt gleich Null; die Idee iſt das Formſetzende, daher freilich mehr, als das Geſetzte, und als dieſes Mehr kommt ſie im Erhabenen zum Vorſchein, allein nur indem ſie die Form ſetzt, kann ſie ſich zugleich darſtellen als das Prinzip, das als Urheber der Form auch über ſie hinausgeht. Die Form wird im Er- habenen zugleich geſetzt und aufgehoben.
2. Dies nun kann alſo auf doppelte Weiſe geſchehen. Entweder werden die natürlichen Formverhältniſſe des Gegenſtands theilweiſe feſt- gehalten, theilweiſe aufgehoben. Man ſtelle ſich z. B. einen Berg vor, der nicht die reine und ſchöne Linie des Veſuv hat, ſondern von der koniſchen Bergform in ſchroffen Linien theilweiſe abweicht. Dieſe ab- ſpringenden Formen reiſſen die Phantaſie aus dem erwarteten Zuſammen- hang der ihr geläufigen Grundform des Berges heraus, dieſe kecke Un- regelmäßigkeit kündigt eine Maſſenthürmende Urgewalt an, die fähig wäre, in’s Unendliche fortzuthürmen, und für die Phantaſie wächst daher die abſpringende Linie in’s Unendliche fort. Allein ſobald dies wirklich der letzte Eindruck wäre, ſo entſtünde ſtatt des Erhabenen ein Langweiliges, wie denn z. B. das offene Meer langweilig wird bei Windſtille und nur der Gegenſatz begrenzender Ufer oder der Wechſel der Wellen ſeiner Linie den Reiz der Erhabenheit gibt; vielmehr die abſpringende Linie kehrt zur regelmäßigen (z. B. zur geläufigen Berg- form) zurück und der Total-Eindruck iſt der einer zugleich Form ſetzenden, aber weil frei ſetzenden, auch überflügelnden Urkraft. Ebenſo der Geiſt
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Bewegungen findet, die organiſch unmöglich ſind, wie Schweben, Fliegen
menſchlicher Geſtalten u. dergl. Dies gehört in die Geſchichte der
Phantaſie und Kunſt als Zug des Verhaltens eines beſtimmten Ideals
zum Naturgeſetze. Der Grund ſitzt aber bei Weiße tiefer, er denkt an
einen Einbruch einer zweiten, jenſeitigen Welt, einer Wunderwelt in die
jetzige, ſonſt hätte ihn die Beobachtung der erſten von den zwei Formen,
die unſer §. ſofort unterſcheidet, derjenigen nämlich, wo alle Regel-
mäßigkeit der Geſtalt durchbrochen erſcheint, nicht zu ſolchen Wunderlich-
keiten geführt. Davon ſogleich mehr; zunächſt iſt überhaupt feſtzuhalten,
daß die Formloſigkeit nicht ſchlechthin aus der Form ausweichen darf.
Dies folgt aus dem durch §. 84 im Erhabenen aufgewieſenen Weſen
des Widerſpruchs. Reine Formloſigkeit iſt gleich Null; die Idee iſt
das Formſetzende, daher freilich mehr, als das Geſetzte, und als dieſes
Mehr kommt ſie im Erhabenen zum Vorſchein, allein nur indem ſie die
Form ſetzt, kann ſie ſich zugleich darſtellen als das Prinzip, das als
Urheber der Form auch über ſie hinausgeht. Die Form wird im Er-
habenen zugleich geſetzt und aufgehoben.
2. Dies nun kann alſo auf doppelte Weiſe geſchehen. Entweder
werden die natürlichen Formverhältniſſe des Gegenſtands theilweiſe feſt-
gehalten, theilweiſe aufgehoben. Man ſtelle ſich z. B. einen Berg vor,
der nicht die reine und ſchöne Linie des Veſuv hat, ſondern von der
koniſchen Bergform in ſchroffen Linien theilweiſe abweicht. Dieſe ab-
ſpringenden Formen reiſſen die Phantaſie aus dem erwarteten Zuſammen-
hang der ihr geläufigen Grundform des Berges heraus, dieſe kecke Un-
regelmäßigkeit kündigt eine Maſſenthürmende Urgewalt an, die fähig
wäre, in’s Unendliche fortzuthürmen, und für die Phantaſie wächst
daher die abſpringende Linie in’s Unendliche fort. Allein ſobald dies
wirklich der letzte Eindruck wäre, ſo entſtünde ſtatt des Erhabenen ein
Langweiliges, wie denn z. B. das offene Meer langweilig wird bei
Windſtille und nur der Gegenſatz begrenzender Ufer oder der Wechſel
der Wellen ſeiner Linie den Reiz der Erhabenheit gibt; vielmehr die
abſpringende Linie kehrt zur regelmäßigen (z. B. zur geläufigen Berg-
form) zurück und der Total-Eindruck iſt der einer zugleich Form ſetzenden,
aber weil frei ſetzenden, auch überflügelnden Urkraft. Ebenſo der Geiſt
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/242>, abgerufen am 28.11.2024.
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