Im Erhabenen erscheint also das Bild durch das Ueberwachsen der Idee als dasjenige, was nicht die Idee ist, oder das Erhabene ist diejenige Form des Schönen, wo das ideelle Moment in negativem Verhältniß zum sinnlichen steht. Wenn nun die Idee über die Grenze ihres Bildes übergreift, so scheint sie ebendadurch in ihre reine Allgemeinheit zurückzukehren und zwar nicht nur in ihre Allgemeinheit als bestimmte Idee, sondern in die Allgemeinheit der absoluten Idee, so daß das Leben nicht nur des Individuums dieser Gattung, sondern aller Individuen aller Gattungen als nichtig verschwindet. Allein die Idee ist nur in ihren Individuen und durch das Schöne wird sie wesentlich in Einem Individuum als vollendet zur Erscheinung gebracht. Daher ist im Er- habenen das Eine Individuum zugleich als wesentliche Erscheinung der Idee und zugleich als verschwindend gegen ihre Allgemeinheit gesetzt: dies ist ein Wider- spruch und dieser Widerspruch ist das Erhabene.
Die scharfsinnige Analyse des Erhabenen, welche Kant gegeben hat, mußte ungenügend bleiben, weil er die Idee nicht als objective Wahrheit, sondern nur als subjective Macht und auch so nur in ab- stractem und punktuellem Sinne erkannte. Daher wirft er sich ebenda, wo der Grund darzustellen war, in welchen das Endliche verschwindet, auf die subjective Seite herüber und nennt die Unendlichkeit des subjectiven Geistes als dasjenige, welchem die Bewunderung eigentlich gelte, welches aber durch eine Subreption der Natur-Erscheinung untergeschoben werde.
A. Das Erhabene.
§. 84.
Im Erhabenen erſcheint alſo das Bild durch das Ueberwachſen der Idee als dasjenige, was nicht die Idee iſt, oder das Erhabene iſt diejenige Form des Schönen, wo das ideelle Moment in negativem Verhältniß zum ſinnlichen ſteht. Wenn nun die Idee über die Grenze ihres Bildes übergreift, ſo ſcheint ſie ebendadurch in ihre reine Allgemeinheit zurückzukehren und zwar nicht nur in ihre Allgemeinheit als beſtimmte Idee, ſondern in die Allgemeinheit der abſoluten Idee, ſo daß das Leben nicht nur des Individuums dieſer Gattung, ſondern aller Individuen aller Gattungen als nichtig verſchwindet. Allein die Idee iſt nur in ihren Individuen und durch das Schöne wird ſie weſentlich in Einem Individuum als vollendet zur Erſcheinung gebracht. Daher iſt im Er- habenen das Eine Individuum zugleich als weſentliche Erſcheinung der Idee und zugleich als verſchwindend gegen ihre Allgemeinheit geſetzt: dies iſt ein Wider- ſpruch und dieſer Widerſpruch iſt das Erhabene.
Die ſcharfſinnige Analyſe des Erhabenen, welche Kant gegeben hat, mußte ungenügend bleiben, weil er die Idee nicht als objective Wahrheit, ſondern nur als ſubjective Macht und auch ſo nur in ab- ſtractem und punktuellem Sinne erkannte. Daher wirft er ſich ebenda, wo der Grund darzuſtellen war, in welchen das Endliche verſchwindet, auf die ſubjective Seite herüber und nennt die Unendlichkeit des ſubjectiven Geiſtes als dasjenige, welchem die Bewunderung eigentlich gelte, welches aber durch eine Subreption der Natur-Erſcheinung untergeſchoben werde.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0235"n="[221]"/><divn="3"><head><hirendition="#b"><hirendition="#aq">A.</hi><lb/><hirendition="#g">Das Erhabene</hi>.</hi></head><lb/><divn="4"><head>§. 84.</head><lb/><p><hirendition="#fr">Im Erhabenen erſcheint alſo das Bild durch das Ueberwachſen der Idee<lb/>
als dasjenige, was nicht die Idee iſt, oder das Erhabene iſt diejenige Form<lb/>
des Schönen, wo das ideelle Moment in negativem Verhältniß zum ſinnlichen<lb/>ſteht. Wenn nun die Idee über die Grenze ihres Bildes übergreift, ſo ſcheint<lb/>ſie ebendadurch in ihre reine Allgemeinheit zurückzukehren und zwar nicht nur<lb/>
in ihre Allgemeinheit als beſtimmte Idee, ſondern in die Allgemeinheit der<lb/>
abſoluten Idee, ſo daß das Leben nicht nur des Individuums dieſer Gattung,<lb/>ſondern aller Individuen aller Gattungen als nichtig verſchwindet. Allein die<lb/>
Idee iſt nur in ihren Individuen und durch das Schöne wird ſie weſentlich in<lb/>
Einem Individuum als vollendet zur Erſcheinung gebracht. Daher iſt im Er-<lb/>
habenen das Eine Individuum zugleich als weſentliche Erſcheinung der Idee und<lb/>
zugleich als verſchwindend gegen ihre Allgemeinheit geſetzt: dies iſt ein Wider-<lb/>ſpruch und dieſer Widerſpruch iſt das Erhabene.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">Die ſcharfſinnige Analyſe des Erhabenen, welche <hirendition="#g">Kant</hi> gegeben<lb/>
hat, mußte ungenügend bleiben, weil er die Idee nicht als objective<lb/>
Wahrheit, ſondern nur als ſubjective Macht und auch ſo nur in ab-<lb/>ſtractem und punktuellem Sinne erkannte. Daher wirft er ſich ebenda,<lb/>
wo der Grund darzuſtellen war, in welchen das Endliche verſchwindet,<lb/>
auf die ſubjective Seite herüber und nennt die Unendlichkeit des ſubjectiven<lb/>
Geiſtes als dasjenige, welchem die Bewunderung eigentlich gelte, welches<lb/>
aber durch eine Subreption der Natur-Erſcheinung untergeſchoben werde.<lb/></hi></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[[221]/0235]
A.
Das Erhabene.
§. 84.
Im Erhabenen erſcheint alſo das Bild durch das Ueberwachſen der Idee
als dasjenige, was nicht die Idee iſt, oder das Erhabene iſt diejenige Form
des Schönen, wo das ideelle Moment in negativem Verhältniß zum ſinnlichen
ſteht. Wenn nun die Idee über die Grenze ihres Bildes übergreift, ſo ſcheint
ſie ebendadurch in ihre reine Allgemeinheit zurückzukehren und zwar nicht nur
in ihre Allgemeinheit als beſtimmte Idee, ſondern in die Allgemeinheit der
abſoluten Idee, ſo daß das Leben nicht nur des Individuums dieſer Gattung,
ſondern aller Individuen aller Gattungen als nichtig verſchwindet. Allein die
Idee iſt nur in ihren Individuen und durch das Schöne wird ſie weſentlich in
Einem Individuum als vollendet zur Erſcheinung gebracht. Daher iſt im Er-
habenen das Eine Individuum zugleich als weſentliche Erſcheinung der Idee und
zugleich als verſchwindend gegen ihre Allgemeinheit geſetzt: dies iſt ein Wider-
ſpruch und dieſer Widerſpruch iſt das Erhabene.
Die ſcharfſinnige Analyſe des Erhabenen, welche Kant gegeben
hat, mußte ungenügend bleiben, weil er die Idee nicht als objective
Wahrheit, ſondern nur als ſubjective Macht und auch ſo nur in ab-
ſtractem und punktuellem Sinne erkannte. Daher wirft er ſich ebenda,
wo der Grund darzuſtellen war, in welchen das Endliche verſchwindet,
auf die ſubjective Seite herüber und nennt die Unendlichkeit des ſubjectiven
Geiſtes als dasjenige, welchem die Bewunderung eigentlich gelte, welches
aber durch eine Subreption der Natur-Erſcheinung untergeſchoben werde.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. [221]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/235>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.