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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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interessant. Es verbindet sich in ihr das sinnliche Bedürfniß, den Kör-
per zu schützen, mit der sittlichen Absicht, ihn zu verhüllen. Beide
Zwecke aber vereinigen sich, indem sie mit einem Ueberschusse befriedigt
werden, mit der Schönheit. Nach Kant könnte diese Verbindung an-
genehm heißen nur darum, weil die wärmere, schmiegsamere Kleidung
dem Körper wohler thut; allein in dem Angenehmen ist auch die Be-
friedigung der geistigeren Lust, zu gefallen, die Persönlichkeit in ein
vortheilhaftes Licht zu setzen, miteingeschlossen. Diese so gemischte Schön-
heit und die geltende Ansicht darüber wechselt nun aber so, daß uns
bekanntlich die letzte Mode, die wir so eben noch für schön hielten, beim
Eintritt der neuen bald als unschön, ja lächerlich erscheint. Dieß ist
eines der Beispiele, worauf sich diejenigen, welche dem Schönen die
Allgemeinheit und Nothwendigkeit absprechen, vorzüglich berufen. Allein
diese erwägen nicht, daß es sich hier um blos anhängende Schönheit
handelt. Die Schönheit der Grundformen des menschlichen Körpers
bleibt immer dieselbe, aber in die Art, sie durch Kleidung zu schmücken,
mischt sich außer dem Bedürfniß des Schutzes und der Verhüllung die
Individualität mit ihren Launen, ihren Vorstellungen vom Angenehmen
und Gefälligen und ein Instinct der Zeit, in den Formen einen symbo-
lischen Ausdruck ihrer Gesittungsweise niederzulegen; dadurch wird als
durch ein außerästhetisches Moment die ästhetische Zuthat bestimmt. In
diesen Rücksichten bewußtlos befangen folgen wir der Mode. Liegt aber
eine Mode so weit hinter uns, daß uns über diese bewußtlos mitspie-
lenden Bestimmungsgründe der Blick frei wird, so vergleichen wir auch
vorurtheilslos dieselbe mit andern Moden und können nun allerdings
über ihre Schönheit ein ganz objectives Urtheil abgeben.

Diese gemischten Nebenzweige des Schönen und der ästhetischen
Stimmung hat Kant allerdings auch berührt, aber in anderem Zusam-
menhang und Sinn, so nämlich, daß er nicht von einem Zusatze von
Schönheit zu etwas nicht Schönem, sondern von etwas Schönem, das
in zweiter Linie einen nicht ästhetischen Zusatz annimmt, spricht: §. 41
"vom empirischen Interesse am Schönen," §. 42 "vom intellectuellen
Interesse am Schönen."

§. 80.

Der Widerspruch löst sich aber dadurch, daß etwas sehr wohl als wirkliche
Macht unmittelbar und ohne Begriff mit dem Anspruche der Allgemeinheit und

intereſſant. Es verbindet ſich in ihr das ſinnliche Bedürfniß, den Kör-
per zu ſchützen, mit der ſittlichen Abſicht, ihn zu verhüllen. Beide
Zwecke aber vereinigen ſich, indem ſie mit einem Ueberſchuſſe befriedigt
werden, mit der Schönheit. Nach Kant könnte dieſe Verbindung an-
genehm heißen nur darum, weil die wärmere, ſchmiegſamere Kleidung
dem Körper wohler thut; allein in dem Angenehmen iſt auch die Be-
friedigung der geiſtigeren Luſt, zu gefallen, die Perſönlichkeit in ein
vortheilhaftes Licht zu ſetzen, miteingeſchloſſen. Dieſe ſo gemiſchte Schön-
heit und die geltende Anſicht darüber wechſelt nun aber ſo, daß uns
bekanntlich die letzte Mode, die wir ſo eben noch für ſchön hielten, beim
Eintritt der neuen bald als unſchön, ja lächerlich erſcheint. Dieß iſt
eines der Beiſpiele, worauf ſich diejenigen, welche dem Schönen die
Allgemeinheit und Nothwendigkeit abſprechen, vorzüglich berufen. Allein
dieſe erwägen nicht, daß es ſich hier um blos anhängende Schönheit
handelt. Die Schönheit der Grundformen des menſchlichen Körpers
bleibt immer dieſelbe, aber in die Art, ſie durch Kleidung zu ſchmücken,
miſcht ſich außer dem Bedürfniß des Schutzes und der Verhüllung die
Individualität mit ihren Launen, ihren Vorſtellungen vom Angenehmen
und Gefälligen und ein Inſtinct der Zeit, in den Formen einen ſymbo-
liſchen Ausdruck ihrer Geſittungsweiſe niederzulegen; dadurch wird als
durch ein außeräſthetiſches Moment die äſthetiſche Zuthat beſtimmt. In
dieſen Rückſichten bewußtlos befangen folgen wir der Mode. Liegt aber
eine Mode ſo weit hinter uns, daß uns über dieſe bewußtlos mitſpie-
lenden Beſtimmungsgründe der Blick frei wird, ſo vergleichen wir auch
vorurtheilslos dieſelbe mit andern Moden und können nun allerdings
über ihre Schönheit ein ganz objectives Urtheil abgeben.

Dieſe gemiſchten Nebenzweige des Schönen und der äſthetiſchen
Stimmung hat Kant allerdings auch berührt, aber in anderem Zuſam-
menhang und Sinn, ſo nämlich, daß er nicht von einem Zuſatze von
Schönheit zu etwas nicht Schönem, ſondern von etwas Schönem, das
in zweiter Linie einen nicht äſthetiſchen Zuſatz annimmt, ſpricht: §. 41
„vom empiriſchen Intereſſe am Schönen,“ §. 42 „vom intellectuellen
Intereſſe am Schönen.“

§. 80.

Der Widerſpruch löst ſich aber dadurch, daß etwas ſehr wohl als wirkliche
Macht unmittelbar und ohne Begriff mit dem Anſpruche der Allgemeinheit und

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[204/0218] intereſſant. Es verbindet ſich in ihr das ſinnliche Bedürfniß, den Kör- per zu ſchützen, mit der ſittlichen Abſicht, ihn zu verhüllen. Beide Zwecke aber vereinigen ſich, indem ſie mit einem Ueberſchuſſe befriedigt werden, mit der Schönheit. Nach Kant könnte dieſe Verbindung an- genehm heißen nur darum, weil die wärmere, ſchmiegſamere Kleidung dem Körper wohler thut; allein in dem Angenehmen iſt auch die Be- friedigung der geiſtigeren Luſt, zu gefallen, die Perſönlichkeit in ein vortheilhaftes Licht zu ſetzen, miteingeſchloſſen. Dieſe ſo gemiſchte Schön- heit und die geltende Anſicht darüber wechſelt nun aber ſo, daß uns bekanntlich die letzte Mode, die wir ſo eben noch für ſchön hielten, beim Eintritt der neuen bald als unſchön, ja lächerlich erſcheint. Dieß iſt eines der Beiſpiele, worauf ſich diejenigen, welche dem Schönen die Allgemeinheit und Nothwendigkeit abſprechen, vorzüglich berufen. Allein dieſe erwägen nicht, daß es ſich hier um blos anhängende Schönheit handelt. Die Schönheit der Grundformen des menſchlichen Körpers bleibt immer dieſelbe, aber in die Art, ſie durch Kleidung zu ſchmücken, miſcht ſich außer dem Bedürfniß des Schutzes und der Verhüllung die Individualität mit ihren Launen, ihren Vorſtellungen vom Angenehmen und Gefälligen und ein Inſtinct der Zeit, in den Formen einen ſymbo- liſchen Ausdruck ihrer Geſittungsweiſe niederzulegen; dadurch wird als durch ein außeräſthetiſches Moment die äſthetiſche Zuthat beſtimmt. In dieſen Rückſichten bewußtlos befangen folgen wir der Mode. Liegt aber eine Mode ſo weit hinter uns, daß uns über dieſe bewußtlos mitſpie- lenden Beſtimmungsgründe der Blick frei wird, ſo vergleichen wir auch vorurtheilslos dieſelbe mit andern Moden und können nun allerdings über ihre Schönheit ein ganz objectives Urtheil abgeben. Dieſe gemiſchten Nebenzweige des Schönen und der äſthetiſchen Stimmung hat Kant allerdings auch berührt, aber in anderem Zuſam- menhang und Sinn, ſo nämlich, daß er nicht von einem Zuſatze von Schönheit zu etwas nicht Schönem, ſondern von etwas Schönem, das in zweiter Linie einen nicht äſthetiſchen Zuſatz annimmt, ſpricht: §. 41 „vom empiriſchen Intereſſe am Schönen,“ §. 42 „vom intellectuellen Intereſſe am Schönen.“ §. 80. Der Widerſpruch löst ſich aber dadurch, daß etwas ſehr wohl als wirkliche Macht unmittelbar und ohne Begriff mit dem Anſpruche der Allgemeinheit und

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/218>, abgerufen am 21.11.2024.