Wahrheit beweisen, d. h. die Anerkennung derselben von Allen erzwin- gen kann, und so ist der volle Widerspruch vorhanden, denn es ist eben- so wahr, daß das Schöne ohne Begriffe und vor allem Begriffe gefällt, als daß es mit dieser Allgemeinheit und Nothwendigkeit auftritt. Die- sem Widerspruch entgeht man freilich, wenn man die zweite dieser Thesen läugnet und den sprichwörtlichen Satz: jeder hat seinen Geschmack, oder: de gustibus non est disputandum als ein Grundgesetz des Schönen aufstellt. Kant hat aber richtig nachgewiesen, daß diese völlige Frei- lassung der Willkür nur auf das Angenehme angewandt werden kann. Er hätte diesen Punkt noch schärfer und gründlicher beleuchten können, wenn seine Darstellung nicht an zweierlei Mängeln litte: daß er näm- lich blos das Angenehme als diese Sphäre der Willkür bestimmt und daß er den Namen Geschmack (in der Weise seiner Bildungs-Epoche) sowohl für das Schöne als für das Angenehme gebraucht, so daß er nur durch einen Zusatz beides unterscheiden kann: Geschmack am Ange- nehmen und Geschmack am Schönen, oder Sinnengeschmack und Reflexions- geschmack (§. 8). Allein es ist etymologisch ganz begründet, daß die jetzige Wissenschaft dem Geschmack, der von einem stoffartigen Sinne den Namen hat, nur die untergeordnete Sphäre der anhängenden Schönheit anweist und, wenn die subjektive Aufnahme des Schönen einen besondern Namen führen soll, den Ausdruck Schönheitssinn gebraucht. Es ist aber nicht nur das Angenehme, in der Bedeutung des blos sinnlich Wohlgefälligen, was unter den Gesichtspunkt des Geschmacks fällt, oder vielmehr die Bemerkung §. 76, 1 ist hier wieder aufzufassen und dahin zu ergänzen, daß dem Angenehmen eigentlich immer irgend eine geistigere Beziehung beigemischt ist; angenehm kann nun alle anhängende Schönheit heißen, weil das Schöne, das einem Andern nur beigemischt ist, in die Mischung nicht rein aufgeht, sondern als mehr oder minder blos sinnlicher Ring daneben fällt; auf das Angenehme als ein so Gemischtes geht der Ge- schmack und so ist es denn die ganze Sphäre der anhängenden Schön- heit, mag sie nun an das Zweckmäßige (dem Bedürfniß Dienende) als Ueberfluß angehängt seyn (§. 23, 3) oder an den sittlichen Selbstzweck (das Gute §. 59, 3), von was es sich hier handelt. Geschmackssachen sind Hausgeräthe, Zurichtung einer Tafel und dergl., Geschmackssachen sind aber auch gesellige Formen, in welchen ein sittlicher Kern ist, jedoch so, daß er durch den Unterschied der Zeiten und Völker conventionell wird und daher die Zuthaten seiner Erscheinung wechselt, wodurch er den Veränderungen der Mode unterliegt. Hier ist insbesondere die Kleidung
Wahrheit beweiſen, d. h. die Anerkennung derſelben von Allen erzwin- gen kann, und ſo iſt der volle Widerſpruch vorhanden, denn es iſt eben- ſo wahr, daß das Schöne ohne Begriffe und vor allem Begriffe gefällt, als daß es mit dieſer Allgemeinheit und Nothwendigkeit auftritt. Die- ſem Widerſpruch entgeht man freilich, wenn man die zweite dieſer Theſen läugnet und den ſprichwörtlichen Satz: jeder hat ſeinen Geſchmack, oder: de gustibus non est disputandum als ein Grundgeſetz des Schönen aufſtellt. Kant hat aber richtig nachgewieſen, daß dieſe völlige Frei- laſſung der Willkür nur auf das Angenehme angewandt werden kann. Er hätte dieſen Punkt noch ſchärfer und gründlicher beleuchten können, wenn ſeine Darſtellung nicht an zweierlei Mängeln litte: daß er näm- lich blos das Angenehme als dieſe Sphäre der Willkür beſtimmt und daß er den Namen Geſchmack (in der Weiſe ſeiner Bildungs-Epoche) ſowohl für das Schöne als für das Angenehme gebraucht, ſo daß er nur durch einen Zuſatz beides unterſcheiden kann: Geſchmack am Ange- nehmen und Geſchmack am Schönen, oder Sinnengeſchmack und Reflexions- geſchmack (§. 8). Allein es iſt etymologiſch ganz begründet, daß die jetzige Wiſſenſchaft dem Geſchmack, der von einem ſtoffartigen Sinne den Namen hat, nur die untergeordnete Sphäre der anhängenden Schönheit anweist und, wenn die ſubjektive Aufnahme des Schönen einen beſondern Namen führen ſoll, den Ausdruck Schönheitsſinn gebraucht. Es iſt aber nicht nur das Angenehme, in der Bedeutung des blos ſinnlich Wohlgefälligen, was unter den Geſichtspunkt des Geſchmacks fällt, oder vielmehr die Bemerkung §. 76, 1 iſt hier wieder aufzufaſſen und dahin zu ergänzen, daß dem Angenehmen eigentlich immer irgend eine geiſtigere Beziehung beigemiſcht iſt; angenehm kann nun alle anhängende Schönheit heißen, weil das Schöne, das einem Andern nur beigemiſcht iſt, in die Miſchung nicht rein aufgeht, ſondern als mehr oder minder blos ſinnlicher Ring daneben fällt; auf das Angenehme als ein ſo Gemiſchtes geht der Ge- ſchmack und ſo iſt es denn die ganze Sphäre der anhängenden Schön- heit, mag ſie nun an das Zweckmäßige (dem Bedürfniß Dienende) als Ueberfluß angehängt ſeyn (§. 23, 3) oder an den ſittlichen Selbſtzweck (das Gute §. 59, 3), von was es ſich hier handelt. Geſchmacksſachen ſind Hausgeräthe, Zurichtung einer Tafel und dergl., Geſchmacksſachen ſind aber auch geſellige Formen, in welchen ein ſittlicher Kern iſt, jedoch ſo, daß er durch den Unterſchied der Zeiten und Völker conventionell wird und daher die Zuthaten ſeiner Erſcheinung wechſelt, wodurch er den Veränderungen der Mode unterliegt. Hier iſt insbeſondere die Kleidung
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Wahrheit beweiſen, d. h. die Anerkennung derſelben von Allen erzwin-
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ſo wahr, daß das Schöne ohne Begriffe und vor allem Begriffe gefällt,
als daß es mit dieſer Allgemeinheit und Nothwendigkeit auftritt. Die-
ſem Widerſpruch entgeht man freilich, wenn man die zweite dieſer
Theſen läugnet und den ſprichwörtlichen Satz: jeder hat ſeinen Geſchmack,
oder: de gustibus non est disputandum als ein Grundgeſetz des Schönen
aufſtellt. Kant hat aber richtig nachgewieſen, daß dieſe völlige Frei-
laſſung der Willkür nur auf das Angenehme angewandt werden kann.
Er hätte dieſen Punkt noch ſchärfer und gründlicher beleuchten können,
wenn ſeine Darſtellung nicht an zweierlei Mängeln litte: daß er näm-
lich blos das Angenehme als dieſe Sphäre der Willkür beſtimmt und
daß er den Namen Geſchmack (in der Weiſe ſeiner Bildungs-Epoche)
ſowohl für das Schöne als für das Angenehme gebraucht, ſo daß er
nur durch einen Zuſatz beides unterſcheiden kann: Geſchmack am Ange-
nehmen und Geſchmack am Schönen, oder Sinnengeſchmack und Reflexions-
geſchmack (§. 8). Allein es iſt etymologiſch ganz begründet, daß die
jetzige Wiſſenſchaft dem Geſchmack, der von einem ſtoffartigen Sinne den
Namen hat, nur die untergeordnete Sphäre der anhängenden Schönheit
anweist und, wenn die ſubjektive Aufnahme des Schönen einen beſondern
Namen führen ſoll, den Ausdruck Schönheitsſinn gebraucht. Es iſt aber nicht
nur das Angenehme, in der Bedeutung des blos ſinnlich Wohlgefälligen,
was unter den Geſichtspunkt des Geſchmacks fällt, oder vielmehr die
Bemerkung §. 76, 1 iſt hier wieder aufzufaſſen und dahin zu ergänzen,
daß dem Angenehmen eigentlich immer irgend eine geiſtigere Beziehung
beigemiſcht iſt; angenehm kann nun alle anhängende Schönheit heißen,
weil das Schöne, das einem Andern nur beigemiſcht iſt, in die Miſchung
nicht rein aufgeht, ſondern als mehr oder minder blos ſinnlicher Ring
daneben fällt; auf das Angenehme als ein ſo Gemiſchtes geht der Ge-
ſchmack und ſo iſt es denn die ganze Sphäre der anhängenden Schön-
heit, mag ſie nun an das Zweckmäßige (dem Bedürfniß Dienende) als
Ueberfluß angehängt ſeyn (§. 23, 3) oder an den ſittlichen Selbſtzweck
(das Gute §. 59, 3), von was es ſich hier handelt. Geſchmacksſachen
ſind Hausgeräthe, Zurichtung einer Tafel und dergl., Geſchmacksſachen
ſind aber auch geſellige Formen, in welchen ein ſittlicher Kern iſt, jedoch
ſo, daß er durch den Unterſchied der Zeiten und Völker conventionell
wird und daher die Zuthaten ſeiner Erſcheinung wechſelt, wodurch er den
Veränderungen der Mode unterliegt. Hier iſt insbeſondere die Kleidung
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/217>, abgerufen am 12.12.2024.
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