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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846.

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alle Bedingungen der Existenz erhaben gesetzt wird, ist ein Widerspruch,
den die Religion nicht bemerkt, wie dies ebenfalls oben gezeigt ist.

§. 78.

1

Vom Schönen ist aber auch das Interesse der Wahrheit ausgeschlossen,
mag es nun darauf gerichtet seyn, den Gegenstand als empirisch vorhandenen
d. h. als Stoff abgesehen von der reinen ästhetischen Form, oder mit und in
dieser zu begreifen, denn im ersten Falle wird der Schein durch Zurückgehen
hinter die Gesammtwirkung der Oberfläche schlechtweg aufgehoben (§. 54), im
zweiten zwar in seinem Grunde und seiner Berechtigung begriffen, aber dadurch
2als Schein ebenfalls aufgelöst. Das Subject gewinnt durch die Vollendung
dieser Auflösung zwar ein reines Wissen, welches höher ist, als die schöne
Täuschung (§. 69), aber wo das Schöne als solches seine Stelle hat und daher
der Schein waltet, da wird diese, wenn das Denken als Weg zum Wissen sich
einmischt, zur Unzeit als Mangel, das Wissen als Bedürfniß gefühlt und so
entsteht Interesse, welches in diesem Zusammenhang fremdartig, einseitig und
als niedrigeres Verhalten zu bezeichnen ist.

1. Das Interesse der Wahrheit, d. h. des Denkens, das durch Voll-
endung seines Durchdringens zum Wissen wird, kann ein doppeltes seyn.
Entweder es nimmt den Gegenstand abgesehen von der reinen ästhetischen
Form vor sich, wie z. B. der Physiolog und Zoolog einen organischen Körper;
oder mit und in dieser Form, wie der wissenschaftliche Aesthetiker den-
selben Körper, sofern derselbe durch den ästhetischen Act als reine Form
hingestellt ist. Jenes Verfahren legt den Körper auseinander und zer-
stört die Gesammtwirkung der Oberfläche; nun bleibt zwar die Wissen-
schaft bei der Zerlegung nicht stehen, sondern begreift ebenso auch die
allgemeine Wechselwirkung der zuerst getrennten Theile, aber in dieser
Reconstruction bleibt das Bewußtseyn der Theile immer gegenwärtig.
Der Physiolog als solcher vergißt, wenn er auch den Körper als leben-
diges Ganzes anschaut, nie, daß hier Venen, dort Arterien durch die
Haut schimmern, hier dieser, dort jener Muskel liegt, daß dieser Theil
auf der Oberfläche so und so erhöht ist, weil im Innern dies oder
jenes Organ seinen Raum braucht u. s. w. Daher bleibt diese Be-
trachtung, obwohl sie in ihrer Weise auch die Form begreift, gegenüber

alle Bedingungen der Exiſtenz erhaben geſetzt wird, iſt ein Widerſpruch,
den die Religion nicht bemerkt, wie dies ebenfalls oben gezeigt iſt.

§. 78.

1

Vom Schönen iſt aber auch das Intereſſe der Wahrheit ausgeſchloſſen,
mag es nun darauf gerichtet ſeyn, den Gegenſtand als empiriſch vorhandenen
d. h. als Stoff abgeſehen von der reinen äſthetiſchen Form, oder mit und in
dieſer zu begreifen, denn im erſten Falle wird der Schein durch Zurückgehen
hinter die Geſammtwirkung der Oberfläche ſchlechtweg aufgehoben (§. 54), im
zweiten zwar in ſeinem Grunde und ſeiner Berechtigung begriffen, aber dadurch
2als Schein ebenfalls aufgelöst. Das Subject gewinnt durch die Vollendung
dieſer Auflöſung zwar ein reines Wiſſen, welches höher iſt, als die ſchöne
Täuſchung (§. 69), aber wo das Schöne als ſolches ſeine Stelle hat und daher
der Schein waltet, da wird dieſe, wenn das Denken als Weg zum Wiſſen ſich
einmiſcht, zur Unzeit als Mangel, das Wiſſen als Bedürfniß gefühlt und ſo
entſteht Intereſſe, welches in dieſem Zuſammenhang fremdartig, einſeitig und
als niedrigeres Verhalten zu bezeichnen iſt.

1. Das Intereſſe der Wahrheit, d. h. des Denkens, das durch Voll-
endung ſeines Durchdringens zum Wiſſen wird, kann ein doppeltes ſeyn.
Entweder es nimmt den Gegenſtand abgeſehen von der reinen äſthetiſchen
Form vor ſich, wie z. B. der Phyſiolog und Zoolog einen organiſchen Körper;
oder mit und in dieſer Form, wie der wiſſenſchaftliche Aeſthetiker den-
ſelben Körper, ſofern derſelbe durch den äſthetiſchen Act als reine Form
hingeſtellt iſt. Jenes Verfahren legt den Körper auseinander und zer-
ſtört die Geſammtwirkung der Oberfläche; nun bleibt zwar die Wiſſen-
ſchaft bei der Zerlegung nicht ſtehen, ſondern begreift ebenſo auch die
allgemeine Wechſelwirkung der zuerſt getrennten Theile, aber in dieſer
Reconſtruction bleibt das Bewußtſeyn der Theile immer gegenwärtig.
Der Phyſiolog als ſolcher vergißt, wenn er auch den Körper als leben-
diges Ganzes anſchaut, nie, daß hier Venen, dort Arterien durch die
Haut ſchimmern, hier dieſer, dort jener Muskel liegt, daß dieſer Theil
auf der Oberfläche ſo und ſo erhöht iſt, weil im Innern dies oder
jenes Organ ſeinen Raum braucht u. ſ. w. Daher bleibt dieſe Be-
trachtung, obwohl ſie in ihrer Weiſe auch die Form begreift, gegenüber

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[200/0214] alle Bedingungen der Exiſtenz erhaben geſetzt wird, iſt ein Widerſpruch, den die Religion nicht bemerkt, wie dies ebenfalls oben gezeigt iſt. §. 78. Vom Schönen iſt aber auch das Intereſſe der Wahrheit ausgeſchloſſen, mag es nun darauf gerichtet ſeyn, den Gegenſtand als empiriſch vorhandenen d. h. als Stoff abgeſehen von der reinen äſthetiſchen Form, oder mit und in dieſer zu begreifen, denn im erſten Falle wird der Schein durch Zurückgehen hinter die Geſammtwirkung der Oberfläche ſchlechtweg aufgehoben (§. 54), im zweiten zwar in ſeinem Grunde und ſeiner Berechtigung begriffen, aber dadurch als Schein ebenfalls aufgelöst. Das Subject gewinnt durch die Vollendung dieſer Auflöſung zwar ein reines Wiſſen, welches höher iſt, als die ſchöne Täuſchung (§. 69), aber wo das Schöne als ſolches ſeine Stelle hat und daher der Schein waltet, da wird dieſe, wenn das Denken als Weg zum Wiſſen ſich einmiſcht, zur Unzeit als Mangel, das Wiſſen als Bedürfniß gefühlt und ſo entſteht Intereſſe, welches in dieſem Zuſammenhang fremdartig, einſeitig und als niedrigeres Verhalten zu bezeichnen iſt. 1. Das Intereſſe der Wahrheit, d. h. des Denkens, das durch Voll- endung ſeines Durchdringens zum Wiſſen wird, kann ein doppeltes ſeyn. Entweder es nimmt den Gegenſtand abgeſehen von der reinen äſthetiſchen Form vor ſich, wie z. B. der Phyſiolog und Zoolog einen organiſchen Körper; oder mit und in dieſer Form, wie der wiſſenſchaftliche Aeſthetiker den- ſelben Körper, ſofern derſelbe durch den äſthetiſchen Act als reine Form hingeſtellt iſt. Jenes Verfahren legt den Körper auseinander und zer- ſtört die Geſammtwirkung der Oberfläche; nun bleibt zwar die Wiſſen- ſchaft bei der Zerlegung nicht ſtehen, ſondern begreift ebenſo auch die allgemeine Wechſelwirkung der zuerſt getrennten Theile, aber in dieſer Reconſtruction bleibt das Bewußtſeyn der Theile immer gegenwärtig. Der Phyſiolog als ſolcher vergißt, wenn er auch den Körper als leben- diges Ganzes anſchaut, nie, daß hier Venen, dort Arterien durch die Haut ſchimmern, hier dieſer, dort jener Muskel liegt, daß dieſer Theil auf der Oberfläche ſo und ſo erhöht iſt, weil im Innern dies oder jenes Organ ſeinen Raum braucht u. ſ. w. Daher bleibt dieſe Be- trachtung, obwohl ſie in ihrer Weiſe auch die Form begreift, gegenüber

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/214>, abgerufen am 21.11.2024.