objectiv ausgesprochen ist. In §. 55 Anm. 2 ist noch eine weitere Be- deutung des Begriffes Stoff als die zweite aufgeführt worden: was man gewöhnlich Süjet nennt. Von dieser Bedeutung ist im jetzigen Zusammen- hang nicht besonders zu handeln; denn wer sich für den Stoff in diesem Sinne einseitig interessirt, wer also z. B. nur fragt: ist der Inhalt dieses Trauerspiels Geschichte oder nicht, bei dem liegt im Hintergrunde immer entweder ein sinnliches oder ein moralisches Interesse, so daß dies mit den unterschiedenen zwei Formen stoffartigen Interesses zusammenfällt. Um nun aber diese Ausschließung des sittlichen Interesses nicht mißzu- verstehen, erwäge man, daß eine sittliche Wirkung, je weniger sie ge- sucht wird, um so sicherer zurückbleibt. Im Grunde des Gemüths tönt, nachdem die Stimmung, worin Stoff und Form in Eins klang, vorüber ist, der Gehalt nach. Schillers Tell z. B. wurde so zu einer Quelle der Begeisterung für die deutsche Jugend in den Befreiungskrie- gen. Solche -- vom ästhetischen Standpunkt -- stoffartige Wirkungen sind gewiß nicht zu verachten; so hat Homer und haben die Tragiker im Volke der Griechen Unendliches gewirkt; Göthe stellt überall in seinen Urtheilen diese Wirkung sehr hoch, so wie er aber vom reinen ästhetischen Gesichtspunkte spricht, so redet er anders. Doch nicht blos durch Nachwirken eines spezifisch sittlichen Gehalts wird das Schöne eine sittliche Gewalt; auch alle diejenigen Stufen der Idee, deren Ge- halt nicht eigentlich als ethisch zu bezeichnen ist (vgl. §. 22), bereiten jeder sittlichen Erhebung den Boden und zwar aus dem Grunde, den wir mit Schillers Worten aufgeführt §. 75 Anm. 2, und dieser Grund fällt mit dem objectiven in §. 22 zusammen, denn wie von jeder Existenz eine Linie zu den höchsten, den sittlichen Sphären des Daseyns führt, so führt jede Lösung des Zwiespalts im menschlichen Wesen zu der Ent- wicklung seiner bedeutendsten sittlichen Kräfte.
2. Das Zweckmäßige kann ein Mittel zum Angenehmen seyn oder ein Mittel zum Guten; in seiner wahren Bedeutung ist es beides, denn auch das Angenehme hat seine richtige Stelle im Begriffe des höchsten Guts. Die objectiven Hauptbedingungen, unter welchen das Zweckmäßige im Guten zulässig ist, sind §. 23 ausgesprochen. Die eine bestand darin, daß das Persönliche, ganz in das Zweckmäßige vertieft, wie eine zweite Naturnothwendigkeit behandelt wird; so kann z. B. der Ackerbau poe- tisch dargestellt werden. Die andere lag in der innigen Verbindung mit den absoluten Zwecken. So ist ein Dampfschiff verglichen mit einem Segelschiff, ein Dampfwagen verglichen mit einem von Pferden gezogenen
objectiv ausgeſprochen iſt. In §. 55 Anm. 2 iſt noch eine weitere Be- deutung des Begriffes Stoff als die zweite aufgeführt worden: was man gewöhnlich Süjet nennt. Von dieſer Bedeutung iſt im jetzigen Zuſammen- hang nicht beſonders zu handeln; denn wer ſich für den Stoff in dieſem Sinne einſeitig intereſſirt, wer alſo z. B. nur fragt: iſt der Inhalt dieſes Trauerſpiels Geſchichte oder nicht, bei dem liegt im Hintergrunde immer entweder ein ſinnliches oder ein moraliſches Intereſſe, ſo daß dies mit den unterſchiedenen zwei Formen ſtoffartigen Intereſſes zuſammenfällt. Um nun aber dieſe Ausſchließung des ſittlichen Intereſſes nicht mißzu- verſtehen, erwäge man, daß eine ſittliche Wirkung, je weniger ſie ge- ſucht wird, um ſo ſicherer zurückbleibt. Im Grunde des Gemüths tönt, nachdem die Stimmung, worin Stoff und Form in Eins klang, vorüber iſt, der Gehalt nach. Schillers Tell z. B. wurde ſo zu einer Quelle der Begeiſterung für die deutſche Jugend in den Befreiungskrie- gen. Solche — vom äſthetiſchen Standpunkt — ſtoffartige Wirkungen ſind gewiß nicht zu verachten; ſo hat Homer und haben die Tragiker im Volke der Griechen Unendliches gewirkt; Göthe ſtellt überall in ſeinen Urtheilen dieſe Wirkung ſehr hoch, ſo wie er aber vom reinen äſthetiſchen Geſichtspunkte ſpricht, ſo redet er anders. Doch nicht blos durch Nachwirken eines ſpezifiſch ſittlichen Gehalts wird das Schöne eine ſittliche Gewalt; auch alle diejenigen Stufen der Idee, deren Ge- halt nicht eigentlich als ethiſch zu bezeichnen iſt (vgl. §. 22), bereiten jeder ſittlichen Erhebung den Boden und zwar aus dem Grunde, den wir mit Schillers Worten aufgeführt §. 75 Anm. 2, und dieſer Grund fällt mit dem objectiven in §. 22 zuſammen, denn wie von jeder Exiſtenz eine Linie zu den höchſten, den ſittlichen Sphären des Daſeyns führt, ſo führt jede Löſung des Zwieſpalts im menſchlichen Weſen zu der Ent- wicklung ſeiner bedeutendſten ſittlichen Kräfte.
2. Das Zweckmäßige kann ein Mittel zum Angenehmen ſeyn oder ein Mittel zum Guten; in ſeiner wahren Bedeutung iſt es beides, denn auch das Angenehme hat ſeine richtige Stelle im Begriffe des höchſten Guts. Die objectiven Hauptbedingungen, unter welchen das Zweckmäßige im Guten zuläſſig iſt, ſind §. 23 ausgeſprochen. Die eine beſtand darin, daß das Perſönliche, ganz in das Zweckmäßige vertieft, wie eine zweite Naturnothwendigkeit behandelt wird; ſo kann z. B. der Ackerbau poe- tiſch dargeſtellt werden. Die andere lag in der innigen Verbindung mit den abſoluten Zwecken. So iſt ein Dampfſchiff verglichen mit einem Segelſchiff, ein Dampfwagen verglichen mit einem von Pferden gezogenen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0212"n="198"/>
objectiv ausgeſprochen iſt. In §. 55 Anm. <hirendition="#sub">2</hi> iſt noch eine weitere Be-<lb/>
deutung des Begriffes Stoff als die zweite aufgeführt worden: was man<lb/>
gewöhnlich Süjet nennt. Von dieſer Bedeutung iſt im jetzigen Zuſammen-<lb/>
hang nicht beſonders zu handeln; denn wer ſich für den Stoff in <hirendition="#g">dieſem</hi><lb/>
Sinne <hirendition="#g">einſeitig</hi> intereſſirt, wer alſo z. B. nur fragt: iſt der Inhalt<lb/>
dieſes Trauerſpiels Geſchichte oder nicht, bei dem liegt im Hintergrunde<lb/>
immer entweder ein ſinnliches oder ein moraliſches Intereſſe, ſo daß dies<lb/>
mit den unterſchiedenen zwei Formen ſtoffartigen Intereſſes zuſammenfällt.<lb/>
Um nun aber dieſe Ausſchließung des ſittlichen Intereſſes nicht mißzu-<lb/>
verſtehen, erwäge man, daß eine ſittliche Wirkung, je weniger ſie ge-<lb/>ſucht wird, um ſo ſicherer zurückbleibt. Im Grunde des Gemüths tönt,<lb/>
nachdem die Stimmung, worin Stoff und Form in Eins klang, vorüber<lb/>
iſt, der Gehalt nach. <hirendition="#g">Schillers</hi> Tell z. B. wurde ſo zu einer<lb/>
Quelle der Begeiſterung für die deutſche Jugend in den Befreiungskrie-<lb/>
gen. Solche — vom äſthetiſchen Standpunkt —ſtoffartige Wirkungen<lb/>ſind gewiß nicht zu verachten; ſo hat <hirendition="#g">Homer</hi> und haben die Tragiker<lb/>
im Volke der Griechen Unendliches gewirkt; <hirendition="#g">Göthe</hi>ſtellt überall in<lb/>ſeinen Urtheilen dieſe Wirkung ſehr hoch, ſo wie er aber vom reinen<lb/>
äſthetiſchen Geſichtspunkte ſpricht, ſo redet er anders. Doch nicht blos<lb/>
durch Nachwirken eines ſpezifiſch ſittlichen Gehalts wird das Schöne<lb/>
eine ſittliche Gewalt; auch alle diejenigen Stufen der Idee, deren Ge-<lb/>
halt nicht eigentlich als ethiſch zu bezeichnen iſt (vgl. §. 22), bereiten jeder<lb/>ſittlichen Erhebung den Boden und zwar aus dem Grunde, den wir mit<lb/><hirendition="#g">Schillers</hi> Worten aufgeführt §. 75 Anm. <hirendition="#sub">2</hi>, und dieſer Grund fällt<lb/>
mit dem objectiven in §. 22 zuſammen, denn wie von jeder Exiſtenz<lb/>
eine Linie zu den höchſten, den ſittlichen Sphären des Daſeyns führt, ſo<lb/>
führt jede Löſung des Zwieſpalts im menſchlichen Weſen zu der Ent-<lb/>
wicklung ſeiner bedeutendſten ſittlichen Kräfte.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">2. Das Zweckmäßige kann ein Mittel zum Angenehmen ſeyn oder<lb/>
ein Mittel zum Guten; in ſeiner wahren Bedeutung iſt es beides, denn<lb/>
auch das Angenehme hat ſeine richtige Stelle im Begriffe des höchſten<lb/>
Guts. Die objectiven Hauptbedingungen, unter welchen das Zweckmäßige<lb/>
im Guten zuläſſig iſt, ſind §. 23 ausgeſprochen. Die eine beſtand darin,<lb/>
daß das Perſönliche, ganz in das Zweckmäßige vertieft, wie eine zweite<lb/>
Naturnothwendigkeit behandelt wird; ſo kann z. B. der Ackerbau poe-<lb/>
tiſch dargeſtellt werden. Die andere lag in der innigen Verbindung<lb/>
mit den abſoluten Zwecken. So iſt ein Dampfſchiff verglichen mit einem<lb/>
Segelſchiff, ein Dampfwagen verglichen mit einem von Pferden gezogenen<lb/></hi></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[198/0212]
objectiv ausgeſprochen iſt. In §. 55 Anm. 2 iſt noch eine weitere Be-
deutung des Begriffes Stoff als die zweite aufgeführt worden: was man
gewöhnlich Süjet nennt. Von dieſer Bedeutung iſt im jetzigen Zuſammen-
hang nicht beſonders zu handeln; denn wer ſich für den Stoff in dieſem
Sinne einſeitig intereſſirt, wer alſo z. B. nur fragt: iſt der Inhalt
dieſes Trauerſpiels Geſchichte oder nicht, bei dem liegt im Hintergrunde
immer entweder ein ſinnliches oder ein moraliſches Intereſſe, ſo daß dies
mit den unterſchiedenen zwei Formen ſtoffartigen Intereſſes zuſammenfällt.
Um nun aber dieſe Ausſchließung des ſittlichen Intereſſes nicht mißzu-
verſtehen, erwäge man, daß eine ſittliche Wirkung, je weniger ſie ge-
ſucht wird, um ſo ſicherer zurückbleibt. Im Grunde des Gemüths tönt,
nachdem die Stimmung, worin Stoff und Form in Eins klang, vorüber
iſt, der Gehalt nach. Schillers Tell z. B. wurde ſo zu einer
Quelle der Begeiſterung für die deutſche Jugend in den Befreiungskrie-
gen. Solche — vom äſthetiſchen Standpunkt — ſtoffartige Wirkungen
ſind gewiß nicht zu verachten; ſo hat Homer und haben die Tragiker
im Volke der Griechen Unendliches gewirkt; Göthe ſtellt überall in
ſeinen Urtheilen dieſe Wirkung ſehr hoch, ſo wie er aber vom reinen
äſthetiſchen Geſichtspunkte ſpricht, ſo redet er anders. Doch nicht blos
durch Nachwirken eines ſpezifiſch ſittlichen Gehalts wird das Schöne
eine ſittliche Gewalt; auch alle diejenigen Stufen der Idee, deren Ge-
halt nicht eigentlich als ethiſch zu bezeichnen iſt (vgl. §. 22), bereiten jeder
ſittlichen Erhebung den Boden und zwar aus dem Grunde, den wir mit
Schillers Worten aufgeführt §. 75 Anm. 2, und dieſer Grund fällt
mit dem objectiven in §. 22 zuſammen, denn wie von jeder Exiſtenz
eine Linie zu den höchſten, den ſittlichen Sphären des Daſeyns führt, ſo
führt jede Löſung des Zwieſpalts im menſchlichen Weſen zu der Ent-
wicklung ſeiner bedeutendſten ſittlichen Kräfte.
2. Das Zweckmäßige kann ein Mittel zum Angenehmen ſeyn oder
ein Mittel zum Guten; in ſeiner wahren Bedeutung iſt es beides, denn
auch das Angenehme hat ſeine richtige Stelle im Begriffe des höchſten
Guts. Die objectiven Hauptbedingungen, unter welchen das Zweckmäßige
im Guten zuläſſig iſt, ſind §. 23 ausgeſprochen. Die eine beſtand darin,
daß das Perſönliche, ganz in das Zweckmäßige vertieft, wie eine zweite
Naturnothwendigkeit behandelt wird; ſo kann z. B. der Ackerbau poe-
tiſch dargeſtellt werden. Die andere lag in der innigen Verbindung
mit den abſoluten Zwecken. So iſt ein Dampfſchiff verglichen mit einem
Segelſchiff, ein Dampfwagen verglichen mit einem von Pferden gezogenen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/212>, abgerufen am 12.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.