des einen als des andern entzogen. Dem Stofftriebe wie dem Formtriebe ist es mit ihren Forderungen ernst, weil der eine sich, beim Erkennen, auf die Wirklichkeit, der andere auf die Nothwendigkeit der Dinge bezieht; weil, beim Handeln, der erste auf Erhaltung des Lebens, der zweite auf Bewahrung der Würde, beide also auf Wahr- heit und Vollkommenheit gerichtet sind. Aber das Leben wird gleich- gültiger, so wie die Würde sich einmischt, und die Pflicht nöthigt nicht mehr, sobald die Neigung zieht: ebenso nimmt das Gemüth die Wirk- lichkeit der Dinge, die materielle Wahrheit, freier und ruhiger auf, so- bald solche der formalen Wahrheit, dem Gesetz der Nothwendigkeit, be- gegnet, und fühlt sich durch Abstraction nicht mehr angespannt, sobald die unmittelbare Anschauung sie begleiten kann" u. s. w. -- Das Schöne ist eine wesentliche Erweiterung des Menschen. "Mit dem Ange- nehmen, mit dem Guten ist es dem Menschen nur ernst; aber mit der Schönheit spielt er." Man dürfe sich nicht an die gewöhnlichen Spiele erinnern, durch das Ideal der Schönheit sey auch ein Ideal des Spiel- triebs gegeben. "Die Vernunft thut den Ausspruch: der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen und er soll nur mit der Schönheit spielen. Denn der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." Schiller stellt die reine Mitte der ästhetischen Stimmung in der genannten Ab- handlung in mannigfaltigen beredten Wendungen, bald Kantische, bald Fichte'sche Terminologie aufnehmend, aber auch mit selbständigen tiefen Bestimmungen dar; so gelangt er (Br. 21) zu dem Resultate, daß im ästhetischen Zustande der Mensch gleich Null sey, weil jede besondere Determination fehle, aber (Br. 22) ebensosehr, wenn man auf die Summe der Kräfte achte, die hier mit Auslöschung ihres Gegensatzes gemeinschaftlich thätig seyen, höchste Realität: die unendliche Möglichkeit, Anlage, die Integrität der Menschheit ist uns zurückgegeben und daher die Schönheit unsere zweite Schöpferin.
Die weiteren höchst fruchtbaren Bestimmungen Kants s. a. a. O., außer der Einl., §. 2--6. Bedürfniß setzt auch das sittliche Interesse voraus, obwohl sein Gegenstand absolut ist; das Subject trägt das Sitten- gesetz, ohne ihm empirisch zu entsprechen, in sich und sucht daher im Gegenstande nicht die Form, sondern einen Gehalt, an dem es sich erhebe.
3. Kant nennt nur das sinnliche Interesse ein pathologisch (durch Anreize, stimulos) bedingtes. Mit Recht aber haben schon Schiller und Göthe in ihrem bekannten Sprachgebrauche jedes, auch das mora-
des einen als des andern entzogen. Dem Stofftriebe wie dem Formtriebe iſt es mit ihren Forderungen ernſt, weil der eine ſich, beim Erkennen, auf die Wirklichkeit, der andere auf die Nothwendigkeit der Dinge bezieht; weil, beim Handeln, der erſte auf Erhaltung des Lebens, der zweite auf Bewahrung der Würde, beide alſo auf Wahr- heit und Vollkommenheit gerichtet ſind. Aber das Leben wird gleich- gültiger, ſo wie die Würde ſich einmiſcht, und die Pflicht nöthigt nicht mehr, ſobald die Neigung zieht: ebenſo nimmt das Gemüth die Wirk- lichkeit der Dinge, die materielle Wahrheit, freier und ruhiger auf, ſo- bald ſolche der formalen Wahrheit, dem Geſetz der Nothwendigkeit, be- gegnet, und fühlt ſich durch Abſtraction nicht mehr angeſpannt, ſobald die unmittelbare Anſchauung ſie begleiten kann“ u. ſ. w. — Das Schöne iſt eine weſentliche Erweiterung des Menſchen. „Mit dem Ange- nehmen, mit dem Guten iſt es dem Menſchen nur ernſt; aber mit der Schönheit ſpielt er.“ Man dürfe ſich nicht an die gewöhnlichen Spiele erinnern, durch das Ideal der Schönheit ſey auch ein Ideal des Spiel- triebs gegeben. „Die Vernunft thut den Ausſpruch: der Menſch ſoll mit der Schönheit nur ſpielen und er ſoll nur mit der Schönheit ſpielen. Denn der Menſch ſpielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Menſch iſt und er iſt nur da ganz Menſch, wo er ſpielt.“ Schiller ſtellt die reine Mitte der äſthetiſchen Stimmung in der genannten Ab- handlung in mannigfaltigen beredten Wendungen, bald Kantiſche, bald Fichte’ſche Terminologie aufnehmend, aber auch mit ſelbſtändigen tiefen Beſtimmungen dar; ſo gelangt er (Br. 21) zu dem Reſultate, daß im äſthetiſchen Zuſtande der Menſch gleich Null ſey, weil jede beſondere Determination fehle, aber (Br. 22) ebenſoſehr, wenn man auf die Summe der Kräfte achte, die hier mit Auslöſchung ihres Gegenſatzes gemeinſchaftlich thätig ſeyen, höchſte Realität: die unendliche Möglichkeit, Anlage, die Integrität der Menſchheit iſt uns zurückgegeben und daher die Schönheit unſere zweite Schöpferin.
Die weiteren höchſt fruchtbaren Beſtimmungen Kants ſ. a. a. O., außer der Einl., §. 2—6. Bedürfniß ſetzt auch das ſittliche Intereſſe voraus, obwohl ſein Gegenſtand abſolut iſt; das Subject trägt das Sitten- geſetz, ohne ihm empiriſch zu entſprechen, in ſich und ſucht daher im Gegenſtande nicht die Form, ſondern einen Gehalt, an dem es ſich erhebe.
3. Kant nennt nur das ſinnliche Intereſſe ein pathologiſch (durch Anreize, stimulos) bedingtes. Mit Recht aber haben ſchon Schiller und Göthe in ihrem bekannten Sprachgebrauche jedes, auch das mora-
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Formtriebe iſt es mit ihren Forderungen ernſt, weil der eine ſich,
beim Erkennen, auf die Wirklichkeit, der andere auf die Nothwendigkeit
der Dinge bezieht; weil, beim Handeln, der erſte auf Erhaltung des
Lebens, der zweite auf Bewahrung der Würde, beide alſo auf Wahr-
heit und Vollkommenheit gerichtet ſind. Aber das Leben wird gleich-
gültiger, ſo wie die Würde ſich einmiſcht, und die Pflicht nöthigt nicht
mehr, ſobald die Neigung zieht: ebenſo nimmt das Gemüth die Wirk-
lichkeit der Dinge, die materielle Wahrheit, freier und ruhiger auf, ſo-
bald ſolche der formalen Wahrheit, dem Geſetz der Nothwendigkeit, be-
gegnet, und fühlt ſich durch Abſtraction nicht mehr angeſpannt, ſobald
die unmittelbare Anſchauung ſie begleiten kann“ u. ſ. w. — Das Schöne
iſt eine weſentliche Erweiterung des Menſchen. „Mit dem Ange-
nehmen, mit dem Guten iſt es dem Menſchen nur ernſt; aber mit der
Schönheit ſpielt er.“ Man dürfe ſich nicht an die gewöhnlichen Spiele
erinnern, durch das Ideal der Schönheit ſey auch ein Ideal des Spiel-
triebs gegeben. „Die Vernunft thut den Ausſpruch: der Menſch ſoll
mit der Schönheit nur ſpielen und er ſoll nur mit der Schönheit ſpielen.
Denn der Menſch ſpielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Menſch
iſt und er iſt nur da ganz Menſch, wo er ſpielt.“ Schiller
ſtellt die reine Mitte der äſthetiſchen Stimmung in der genannten Ab-
handlung in mannigfaltigen beredten Wendungen, bald Kantiſche, bald
Fichte’ſche Terminologie aufnehmend, aber auch mit ſelbſtändigen tiefen
Beſtimmungen dar; ſo gelangt er (Br. 21) zu dem Reſultate, daß im
äſthetiſchen Zuſtande der Menſch gleich Null ſey, weil jede beſondere
Determination fehle, aber (Br. 22) ebenſoſehr, wenn man auf die
Summe der Kräfte achte, die hier mit Auslöſchung ihres Gegenſatzes
gemeinſchaftlich thätig ſeyen, höchſte Realität: die unendliche Möglichkeit,
Anlage, die Integrität der Menſchheit iſt uns zurückgegeben und daher
die Schönheit unſere zweite Schöpferin.
Die weiteren höchſt fruchtbaren Beſtimmungen Kants ſ. a. a. O.,
außer der Einl., §. 2—6. Bedürfniß ſetzt auch das ſittliche Intereſſe
voraus, obwohl ſein Gegenſtand abſolut iſt; das Subject trägt das Sitten-
geſetz, ohne ihm empiriſch zu entſprechen, in ſich und ſucht daher im
Gegenſtande nicht die Form, ſondern einen Gehalt, an dem es ſich erhebe.
3. Kant nennt nur das ſinnliche Intereſſe ein pathologiſch (durch
Anreize, stimulos) bedingtes. Mit Recht aber haben ſchon Schiller
und Göthe in ihrem bekannten Sprachgebrauche jedes, auch das mora-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/208>, abgerufen am 04.12.2024.
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