zehnten Jahrhundert einen richtigeren Instinct. Die ganze Unmöglichkeit aber, daß Kunst und Religion nicht ganz auseinander fallen, tritt in dem Momente ein, wo dieses seine Consequenzen gezogen und den Schein als Schein erkannt hat, denn nunmehr geht die Religion selbst in die freie, denkende Bildung auf. Ob diese eine neue Religionsform ohne die ver- wechselnde Vorstellung aus sich erzeugen, ob es einen Cultus ohne diese Verwechslung geben könne, ist eine Frage, welche die Zukunft zu lösen hat. Mit der Religion im ursprünglichen Sinne aber, d. h. mit jener verwechselnden Vorstellung, hat die Kunst nunmehr entschieden gebrochen.
§. 68.
Was nun das Wahre betrifft, so ergänzt sich, nachdem das Schöne als die reine Form oder die vollkommene Mitte begriffen ist, worin der Gegensatz des Allgemeinen mit der in ihm gegebenen Regel und des Einzelnen als eines sinnlich und zufällig bestimmten erlischt, auch die Bestimmung des Verhältnisses zwischen ihm und dem Schönen. Der in §. 28 aufgestellte Satz ist nun, wenn der Begriff der Wahrheit zunächst wieder im weiteren Sinne gefaßt wird, zu beschränken, wenn aber im engeren Sinne, umzukehren. Die Beschränkung heißt: was wahr ist, ist darum noch nicht schön. Die Umkehrung lautet: das Wahre ist nicht mehr schön, also ist nichts Wahres schön.
Wahrheit im weiteren Sinne heißt ein Gehalt, der, wenn er in's Denken erhoben seyn wird, sich vor demselben als wirklich und vernünftig rechtfertigen wird, der aber noch nicht in jenes erhoben ist. Ein solcher Gehalt ist alles Lebenskräftige und Tüchtige. Derselbe ist aber darum noch nicht schön, denn er muß erst in die reine Form aufgehen. Wahrheit im engeren Sinne heißt begriffener, wirklich in's Denken erhobener und durch dasselbe gerechtfertigter Gehalt. Das Denken nun als solches hebt eben den Schein unmittelbaren Zusammenfallens der Idee mit einem Ein- zelnen, wodurch beide einander völlig decken, auf; also ist die Schönheit nicht mehr, sie ist aufgelöst, und nichts in diesem Sinne Wahres kann schön heißen. Man spricht von schönen Gedanken, soll aber dieser Aus- druck berechtigt seyn, so kann er nicht methodische Gedanken bezeichnen, sondern Blitze des Geistes, die sich in Ahnung und Phantasie einhüllen, also noch mit sinnlicher Hülle verwachsen sind. Wahrheit im ersten Sinn wird mit Wahrheit im zweiten Sinn verwechselt, wenn man meint,
zehnten Jahrhundert einen richtigeren Inſtinct. Die ganze Unmöglichkeit aber, daß Kunſt und Religion nicht ganz auseinander fallen, tritt in dem Momente ein, wo dieſes ſeine Conſequenzen gezogen und den Schein als Schein erkannt hat, denn nunmehr geht die Religion ſelbſt in die freie, denkende Bildung auf. Ob dieſe eine neue Religionsform ohne die ver- wechſelnde Vorſtellung aus ſich erzeugen, ob es einen Cultus ohne dieſe Verwechslung geben könne, iſt eine Frage, welche die Zukunft zu löſen hat. Mit der Religion im urſprünglichen Sinne aber, d. h. mit jener verwechſelnden Vorſtellung, hat die Kunſt nunmehr entſchieden gebrochen.
§. 68.
Was nun das Wahre betrifft, ſo ergänzt ſich, nachdem das Schöne als die reine Form oder die vollkommene Mitte begriffen iſt, worin der Gegenſatz des Allgemeinen mit der in ihm gegebenen Regel und des Einzelnen als eines ſinnlich und zufällig beſtimmten erliſcht, auch die Beſtimmung des Verhältniſſes zwiſchen ihm und dem Schönen. Der in §. 28 aufgeſtellte Satz iſt nun, wenn der Begriff der Wahrheit zunächſt wieder im weiteren Sinne gefaßt wird, zu beſchränken, wenn aber im engeren Sinne, umzukehren. Die Beſchränkung heißt: was wahr iſt, iſt darum noch nicht ſchön. Die Umkehrung lautet: das Wahre iſt nicht mehr ſchön, alſo iſt nichts Wahres ſchön.
Wahrheit im weiteren Sinne heißt ein Gehalt, der, wenn er in’s Denken erhoben ſeyn wird, ſich vor demſelben als wirklich und vernünftig rechtfertigen wird, der aber noch nicht in jenes erhoben iſt. Ein ſolcher Gehalt iſt alles Lebenskräftige und Tüchtige. Derſelbe iſt aber darum noch nicht ſchön, denn er muß erſt in die reine Form aufgehen. Wahrheit im engeren Sinne heißt begriffener, wirklich in’s Denken erhobener und durch dasſelbe gerechtfertigter Gehalt. Das Denken nun als ſolches hebt eben den Schein unmittelbaren Zuſammenfallens der Idee mit einem Ein- zelnen, wodurch beide einander völlig decken, auf; alſo iſt die Schönheit nicht mehr, ſie iſt aufgelöst, und nichts in dieſem Sinne Wahres kann ſchön heißen. Man ſpricht von ſchönen Gedanken, ſoll aber dieſer Aus- druck berechtigt ſeyn, ſo kann er nicht methodiſche Gedanken bezeichnen, ſondern Blitze des Geiſtes, die ſich in Ahnung und Phantaſie einhüllen, alſo noch mit ſinnlicher Hülle verwachſen ſind. Wahrheit im erſten Sinn wird mit Wahrheit im zweiten Sinn verwechſelt, wenn man meint,
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zehnten Jahrhundert einen richtigeren Inſtinct. Die ganze Unmöglichkeit
aber, daß Kunſt und Religion nicht ganz auseinander fallen, tritt in dem
Momente ein, wo dieſes ſeine Conſequenzen gezogen und den Schein als
Schein erkannt hat, denn nunmehr geht die Religion ſelbſt in die freie,
denkende Bildung auf. Ob dieſe eine neue Religionsform ohne die ver-
wechſelnde Vorſtellung aus ſich erzeugen, ob es einen Cultus ohne
dieſe Verwechslung geben könne, iſt eine Frage, welche die Zukunft zu
löſen hat. Mit der Religion im urſprünglichen Sinne aber, d. h. mit jener
verwechſelnden Vorſtellung, hat die Kunſt nunmehr entſchieden gebrochen.
§. 68.
Was nun das Wahre betrifft, ſo ergänzt ſich, nachdem das Schöne als
die reine Form oder die vollkommene Mitte begriffen iſt, worin der Gegenſatz
des Allgemeinen mit der in ihm gegebenen Regel und des Einzelnen als eines
ſinnlich und zufällig beſtimmten erliſcht, auch die Beſtimmung des Verhältniſſes
zwiſchen ihm und dem Schönen. Der in §. 28 aufgeſtellte Satz iſt nun, wenn
der Begriff der Wahrheit zunächſt wieder im weiteren Sinne gefaßt wird, zu
beſchränken, wenn aber im engeren Sinne, umzukehren. Die Beſchränkung
heißt: was wahr iſt, iſt darum noch nicht ſchön. Die Umkehrung lautet: das
Wahre iſt nicht mehr ſchön, alſo iſt nichts Wahres ſchön.
Wahrheit im weiteren Sinne heißt ein Gehalt, der, wenn er in’s
Denken erhoben ſeyn wird, ſich vor demſelben als wirklich und vernünftig
rechtfertigen wird, der aber noch nicht in jenes erhoben iſt. Ein ſolcher
Gehalt iſt alles Lebenskräftige und Tüchtige. Derſelbe iſt aber darum
noch nicht ſchön, denn er muß erſt in die reine Form aufgehen. Wahrheit
im engeren Sinne heißt begriffener, wirklich in’s Denken erhobener und
durch dasſelbe gerechtfertigter Gehalt. Das Denken nun als ſolches hebt
eben den Schein unmittelbaren Zuſammenfallens der Idee mit einem Ein-
zelnen, wodurch beide einander völlig decken, auf; alſo iſt die Schönheit
nicht mehr, ſie iſt aufgelöst, und nichts in dieſem Sinne Wahres kann
ſchön heißen. Man ſpricht von ſchönen Gedanken, ſoll aber dieſer Aus-
druck berechtigt ſeyn, ſo kann er nicht methodiſche Gedanken bezeichnen,
ſondern Blitze des Geiſtes, die ſich in Ahnung und Phantaſie einhüllen,
alſo noch mit ſinnlicher Hülle verwachſen ſind. Wahrheit im erſten Sinn
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/186>, abgerufen am 27.11.2024.
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