Vertreten aller übrigen Individuen einer Gattung durch Ein vollkommenes oder mehrere; allein jenes Vertreten in der durch Religion bestimmten Schönheit ist ein anderes, als das in der reinen. In der mythischen Kunst der Griechen ist zwar die Sinnlichkeit eine Bejahung, aber die unendliche Eigenheit der Individualität nicht; die Menschengestalt ist um den Preis ungetrübter Einheit der sittlichen Bedeutung mit der ganzen Fülle der schönen Sinnlichkeit zur Darstellung zugelassen, allein dabei hat der geschichtliche, wirkliche Mensch das blose Zusehen, weil die Grenze der individuellen Abweichung von der Linie der Gattungsregel so eng gezogen ist, daß er als profanes Wesen, wenn nicht erst mythische Vor- stellung, Sage u. s. w. ihn verklärt haben, sich von jenem Himmel durch die tiefste Kluft getrennt sieht. Im Christenthum dagegen hat auch die wirk- liche Gestalt in der willkürlicher abweichenden Eigenheit ihrer Individualität Geltung; allein, wie schon gesagt, die Bedingung des Eintritts in den vor- nehmen Kreis der höchsten Gestalten ist nun der Ausdruck unendlicher Ascese, und da sich zu diesem nur wenige erheben und auch diese nur mit Hilfe der verklärenden Sage, so sind auch hier alle Uebrigen in den profanen Vorhof verstoßen. Die Religion ist eine Vorausnahme (§. 53), wie das Schöne, aber eine durchaus unvollständige.
§. 63.
In dem Grade aber, in welchem die Religion sich zur Religion des Geistes erhebt, im Grunde jedoch schon auf dem Standpunkte der Naturreligion, wird selbst in der Gestalt, welche die religiöse Vorstellung sich bildet, die Sinnlichkeit negativ gesetzt und ihre Verklärung daher vielmehr eine Verzehrung. Das anbetende Subject stellt sich eine düstere und abweisende Gestalt gegen- über, denn ihr Anblick soll ihm die Forderung der Entsagung vergegenwärtigen, aber durch den Widerspruch, der in jenem Hinüberzeichnen liegt (§. 61), ist es vielmehr die ganze Härte des Eigenwillens im zeichnenden Subjecte selbst, die aus ihren unerbittlichen Zügen spricht. Jene bejahende Verklärung (§. 62) ist also vielmehr bereits ein Werk der Schönheit, welche als eine fremde, das ganze Verhältniß verändernde Macht in die Religion eingedrungen ist, und diese hat in jener, indem sie unendlich durch sie gefördert scheint, ja den Unterschied ihres Standpunkts von dem ihm beigemischten Aesthetischen gar nicht bemerkt, vielmehr ihren Feind in sich aufgenommen. Je inniger sie sich verbinden, desto mehr trennen sie sich, der Moment ihrer höchsten Vereinigung ist der Moment ihres völligen Bruchs.
Vertreten aller übrigen Individuen einer Gattung durch Ein vollkommenes oder mehrere; allein jenes Vertreten in der durch Religion beſtimmten Schönheit iſt ein anderes, als das in der reinen. In der mythiſchen Kunſt der Griechen iſt zwar die Sinnlichkeit eine Bejahung, aber die unendliche Eigenheit der Individualität nicht; die Menſchengeſtalt iſt um den Preis ungetrübter Einheit der ſittlichen Bedeutung mit der ganzen Fülle der ſchönen Sinnlichkeit zur Darſtellung zugelaſſen, allein dabei hat der geſchichtliche, wirkliche Menſch das bloſe Zuſehen, weil die Grenze der individuellen Abweichung von der Linie der Gattungsregel ſo eng gezogen iſt, daß er als profanes Weſen, wenn nicht erſt mythiſche Vor- ſtellung, Sage u. ſ. w. ihn verklärt haben, ſich von jenem Himmel durch die tiefſte Kluft getrennt ſieht. Im Chriſtenthum dagegen hat auch die wirk- liche Geſtalt in der willkürlicher abweichenden Eigenheit ihrer Individualität Geltung; allein, wie ſchon geſagt, die Bedingung des Eintritts in den vor- nehmen Kreis der höchſten Geſtalten iſt nun der Ausdruck unendlicher Aſceſe, und da ſich zu dieſem nur wenige erheben und auch dieſe nur mit Hilfe der verklärenden Sage, ſo ſind auch hier alle Uebrigen in den profanen Vorhof verſtoßen. Die Religion iſt eine Vorausnahme (§. 53), wie das Schöne, aber eine durchaus unvollſtändige.
§. 63.
In dem Grade aber, in welchem die Religion ſich zur Religion des Geiſtes erhebt, im Grunde jedoch ſchon auf dem Standpunkte der Naturreligion, wird ſelbſt in der Geſtalt, welche die religiöſe Vorſtellung ſich bildet, die Sinnlichkeit negativ geſetzt und ihre Verklärung daher vielmehr eine Verzehrung. Das anbetende Subject ſtellt ſich eine düſtere und abweiſende Geſtalt gegen- über, denn ihr Anblick ſoll ihm die Forderung der Entſagung vergegenwärtigen, aber durch den Widerſpruch, der in jenem Hinüberzeichnen liegt (§. 61), iſt es vielmehr die ganze Härte des Eigenwillens im zeichnenden Subjecte ſelbſt, die aus ihren unerbittlichen Zügen ſpricht. Jene bejahende Verklärung (§. 62) iſt alſo vielmehr bereits ein Werk der Schönheit, welche als eine fremde, das ganze Verhältniß verändernde Macht in die Religion eingedrungen iſt, und dieſe hat in jener, indem ſie unendlich durch ſie gefördert ſcheint, ja den Unterſchied ihres Standpunkts von dem ihm beigemiſchten Aeſthetiſchen gar nicht bemerkt, vielmehr ihren Feind in ſich aufgenommen. Je inniger ſie ſich verbinden, deſto mehr trennen ſie ſich, der Moment ihrer höchſten Vereinigung iſt der Moment ihres völligen Bruchs.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><hirendition="#et"><pbfacs="#f0180"n="166"/>
Vertreten aller übrigen Individuen einer Gattung durch Ein vollkommenes<lb/>
oder mehrere; allein jenes Vertreten in der durch Religion beſtimmten<lb/>
Schönheit iſt ein anderes, als das in der reinen. In der mythiſchen<lb/>
Kunſt der Griechen iſt zwar die Sinnlichkeit eine Bejahung, aber die<lb/>
unendliche Eigenheit der Individualität nicht; die Menſchengeſtalt iſt um<lb/>
den Preis ungetrübter Einheit der ſittlichen Bedeutung mit der ganzen<lb/>
Fülle der ſchönen Sinnlichkeit zur Darſtellung zugelaſſen, allein dabei hat<lb/>
der geſchichtliche, wirkliche Menſch das bloſe Zuſehen, weil die Grenze<lb/>
der individuellen Abweichung von der Linie der Gattungsregel ſo eng<lb/>
gezogen iſt, daß er als profanes Weſen, wenn nicht erſt mythiſche Vor-<lb/>ſtellung, Sage u. ſ. w. ihn verklärt haben, ſich von jenem Himmel durch<lb/>
die tiefſte Kluft getrennt ſieht. Im Chriſtenthum dagegen hat auch die wirk-<lb/>
liche Geſtalt in der willkürlicher abweichenden Eigenheit ihrer Individualität<lb/>
Geltung; allein, wie ſchon geſagt, die Bedingung des Eintritts in den vor-<lb/>
nehmen Kreis der höchſten Geſtalten iſt nun der Ausdruck unendlicher Aſceſe,<lb/>
und da ſich zu dieſem nur wenige erheben und auch dieſe nur mit Hilfe der<lb/>
verklärenden Sage, ſo ſind auch hier alle Uebrigen in den profanen Vorhof<lb/>
verſtoßen. Die Religion iſt eine Vorausnahme (§. 53), wie das Schöne,<lb/>
aber eine durchaus unvollſtändige.</hi></p></div><lb/><divn="4"><head>§. 63.</head><lb/><p><hirendition="#fr">In dem Grade aber, in welchem die Religion ſich zur Religion des<lb/>
Geiſtes erhebt, im Grunde jedoch ſchon auf dem Standpunkte der Naturreligion,<lb/>
wird ſelbſt in der Geſtalt, welche die religiöſe Vorſtellung ſich bildet, die<lb/>
Sinnlichkeit negativ geſetzt und ihre Verklärung daher vielmehr eine Verzehrung.<lb/>
Das anbetende Subject ſtellt ſich eine düſtere und abweiſende Geſtalt gegen-<lb/>
über, denn ihr Anblick ſoll ihm die Forderung der Entſagung vergegenwärtigen,<lb/>
aber durch den Widerſpruch, der in jenem Hinüberzeichnen liegt (§. 61), iſt es<lb/>
vielmehr die ganze Härte des Eigenwillens im zeichnenden Subjecte ſelbſt, die<lb/>
aus ihren unerbittlichen Zügen ſpricht. Jene bejahende Verklärung (§. 62)<lb/>
iſt alſo vielmehr bereits ein Werk der Schönheit, welche als eine fremde, das<lb/>
ganze Verhältniß verändernde Macht in die Religion eingedrungen iſt, und dieſe<lb/>
hat in jener, indem ſie unendlich durch ſie gefördert ſcheint, ja den Unterſchied<lb/>
ihres Standpunkts von dem ihm beigemiſchten Aeſthetiſchen gar nicht bemerkt,<lb/>
vielmehr ihren Feind in ſich aufgenommen. Je inniger ſie ſich verbinden,<lb/>
deſto mehr trennen ſie ſich, der Moment ihrer höchſten Vereinigung iſt der<lb/>
Moment ihres völligen Bruchs.</hi></p><lb/></div></div></div></div></body></text></TEI>
[166/0180]
Vertreten aller übrigen Individuen einer Gattung durch Ein vollkommenes
oder mehrere; allein jenes Vertreten in der durch Religion beſtimmten
Schönheit iſt ein anderes, als das in der reinen. In der mythiſchen
Kunſt der Griechen iſt zwar die Sinnlichkeit eine Bejahung, aber die
unendliche Eigenheit der Individualität nicht; die Menſchengeſtalt iſt um
den Preis ungetrübter Einheit der ſittlichen Bedeutung mit der ganzen
Fülle der ſchönen Sinnlichkeit zur Darſtellung zugelaſſen, allein dabei hat
der geſchichtliche, wirkliche Menſch das bloſe Zuſehen, weil die Grenze
der individuellen Abweichung von der Linie der Gattungsregel ſo eng
gezogen iſt, daß er als profanes Weſen, wenn nicht erſt mythiſche Vor-
ſtellung, Sage u. ſ. w. ihn verklärt haben, ſich von jenem Himmel durch
die tiefſte Kluft getrennt ſieht. Im Chriſtenthum dagegen hat auch die wirk-
liche Geſtalt in der willkürlicher abweichenden Eigenheit ihrer Individualität
Geltung; allein, wie ſchon geſagt, die Bedingung des Eintritts in den vor-
nehmen Kreis der höchſten Geſtalten iſt nun der Ausdruck unendlicher Aſceſe,
und da ſich zu dieſem nur wenige erheben und auch dieſe nur mit Hilfe der
verklärenden Sage, ſo ſind auch hier alle Uebrigen in den profanen Vorhof
verſtoßen. Die Religion iſt eine Vorausnahme (§. 53), wie das Schöne,
aber eine durchaus unvollſtändige.
§. 63.
In dem Grade aber, in welchem die Religion ſich zur Religion des
Geiſtes erhebt, im Grunde jedoch ſchon auf dem Standpunkte der Naturreligion,
wird ſelbſt in der Geſtalt, welche die religiöſe Vorſtellung ſich bildet, die
Sinnlichkeit negativ geſetzt und ihre Verklärung daher vielmehr eine Verzehrung.
Das anbetende Subject ſtellt ſich eine düſtere und abweiſende Geſtalt gegen-
über, denn ihr Anblick ſoll ihm die Forderung der Entſagung vergegenwärtigen,
aber durch den Widerſpruch, der in jenem Hinüberzeichnen liegt (§. 61), iſt es
vielmehr die ganze Härte des Eigenwillens im zeichnenden Subjecte ſelbſt, die
aus ihren unerbittlichen Zügen ſpricht. Jene bejahende Verklärung (§. 62)
iſt alſo vielmehr bereits ein Werk der Schönheit, welche als eine fremde, das
ganze Verhältniß verändernde Macht in die Religion eingedrungen iſt, und dieſe
hat in jener, indem ſie unendlich durch ſie gefördert ſcheint, ja den Unterſchied
ihres Standpunkts von dem ihm beigemiſchten Aeſthetiſchen gar nicht bemerkt,
vielmehr ihren Feind in ſich aufgenommen. Je inniger ſie ſich verbinden,
deſto mehr trennen ſie ſich, der Moment ihrer höchſten Vereinigung iſt der
Moment ihres völligen Bruchs.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/180>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.