"das Kunstgeheimniß des Meisters besteht darin, daß er den Stoff durch die Form vertilgt" (Ueber die ästh. Erz. d. Menschen Br. 22).
2. Häufig genug ist nun aber dieser Begriff so mißverstanden worden, als sey der Inhalt gleichgültig, wenn nur die Form schön sey. Schon Baumgarten zieht aus der Unterscheidung des Inhalts und der Form den falschen Satz: possunt turpia pulcre cogitari, ut talia, et pulcriora turpiter (Aesth. §. 18), und er hat viele Nachfolger gefunden bis auf einen Menzel herab, der Göthe als Meister schöner Form bei unsittlichem Gehalt verläumdet. Die Quelle solcher Schiefheiten ist vor Allem in einer Verwirrung der Begriffe zu suchen. Stoff kann dreierlei bedeuten: erstens die Idee, die ein schönes Ganze durchdringt. Diese nennen wir, um der Verwirrung vorzubeugen, nicht Stoff, sondern Inhalt. Dieser Inhalt nun ist so wenig gleichgültig, daß, wie schon §. 19, 2 gesagt ist, von zwei Kunstwerken, welche in der Form gleich vollendet sind, entschieden dasjenige höher steht, dessen Inhalt eine höhere Stufe in dem Leben der absoluten Idee einnimmt. Die Idee soll ganz in Form übergehen und aufgehen, aber eben sie ist es, welche übergeht und aufgeht, und ihr Rang bleibt ja natürlich nach wie vor derselbe. Wo sie nicht in reine Form aufzugehen vermochte, da ist ein wahrhaft Schönes gar nicht ent- standen, da ist von ihr so wenig als von der Form zu reden, und das Werk ist daher nichts neben einem wahrhaft schönen, das übrigens eine vergleichungsweise noch so arme Idee zum Inhalte haben mag. Ist aber die Uebertragung in die reine Form darum mißlungen, weil die Idee schon an sich nicht wahre Idee, sondern abstracter Begriff ist (§. 16), so ist dies ein anderer Fall, der nicht hieher gehört; man kann dann nicht sagen, die Idee wäre gut, aber die Form sey schlecht, die Idee selbst ist vielmehr ganz zu verwerfen, weil sie in Wahrheit keine ist. Unter den ästhetisch darstellbaren Ideen dagegen ist es ja immer die höhere, welche an sich schon und abgesehen von der Läuterung zur reinen Form ihr Individuum auch höher organisirt; eine Menschengestalt ist höher, als eine Thiergestalt u. s. w. Wird nun die Gestalt zur reinen Form, so ist doch gewiß die an sich höhere unter Voraussetzung gleichen Gelingens dieser Reinigung auch die ästhetisch höhere. Diese Frage hat aber noch zwei besondere Beziehungen: eine sittliche und eine geschichtliche. Hierüber kann vorläufig so viel gesagt werden: ein unsittlicher Inhalt ist ebensowenig wahrer Inhalt, als ein abstracter Begriff. Zwar baut sich dieser gar keine individuelle Form, jener dagegen kann sich eine Form bilden, aber eine solche, die sich von selbst aufhebt, wovon sogleich mehr.
„das Kunſtgeheimniß des Meiſters beſteht darin, daß er den Stoff durch die Form vertilgt“ (Ueber die äſth. Erz. d. Menſchen Br. 22).
2. Häufig genug iſt nun aber dieſer Begriff ſo mißverſtanden worden, als ſey der Inhalt gleichgültig, wenn nur die Form ſchön ſey. Schon Baumgarten zieht aus der Unterſcheidung des Inhalts und der Form den falſchen Satz: possunt turpia pulcre cogitari, ut talia, et pulcriora turpiter (Aesth. §. 18), und er hat viele Nachfolger gefunden bis auf einen Menzel herab, der Göthe als Meiſter ſchöner Form bei unſittlichem Gehalt verläumdet. Die Quelle ſolcher Schiefheiten iſt vor Allem in einer Verwirrung der Begriffe zu ſuchen. Stoff kann dreierlei bedeuten: erſtens die Idee, die ein ſchönes Ganze durchdringt. Dieſe nennen wir, um der Verwirrung vorzubeugen, nicht Stoff, ſondern Inhalt. Dieſer Inhalt nun iſt ſo wenig gleichgültig, daß, wie ſchon §. 19, 2 geſagt iſt, von zwei Kunſtwerken, welche in der Form gleich vollendet ſind, entſchieden dasjenige höher ſteht, deſſen Inhalt eine höhere Stufe in dem Leben der abſoluten Idee einnimmt. Die Idee ſoll ganz in Form übergehen und aufgehen, aber eben ſie iſt es, welche übergeht und aufgeht, und ihr Rang bleibt ja natürlich nach wie vor derſelbe. Wo ſie nicht in reine Form aufzugehen vermochte, da iſt ein wahrhaft Schönes gar nicht ent- ſtanden, da iſt von ihr ſo wenig als von der Form zu reden, und das Werk iſt daher nichts neben einem wahrhaft ſchönen, das übrigens eine vergleichungsweiſe noch ſo arme Idee zum Inhalte haben mag. Iſt aber die Uebertragung in die reine Form darum mißlungen, weil die Idee ſchon an ſich nicht wahre Idee, ſondern abſtracter Begriff iſt (§. 16), ſo iſt dies ein anderer Fall, der nicht hieher gehört; man kann dann nicht ſagen, die Idee wäre gut, aber die Form ſey ſchlecht, die Idee ſelbſt iſt vielmehr ganz zu verwerfen, weil ſie in Wahrheit keine iſt. Unter den äſthetiſch darſtellbaren Ideen dagegen iſt es ja immer die höhere, welche an ſich ſchon und abgeſehen von der Läuterung zur reinen Form ihr Individuum auch höher organiſirt; eine Menſchengeſtalt iſt höher, als eine Thiergeſtalt u. ſ. w. Wird nun die Geſtalt zur reinen Form, ſo iſt doch gewiß die an ſich höhere unter Vorausſetzung gleichen Gelingens dieſer Reinigung auch die äſthetiſch höhere. Dieſe Frage hat aber noch zwei beſondere Beziehungen: eine ſittliche und eine geſchichtliche. Hierüber kann vorläufig ſo viel geſagt werden: ein unſittlicher Inhalt iſt ebenſowenig wahrer Inhalt, als ein abſtracter Begriff. Zwar baut ſich dieſer gar keine individuelle Form, jener dagegen kann ſich eine Form bilden, aber eine ſolche, die ſich von ſelbſt aufhebt, wovon ſogleich mehr.
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„das Kunſtgeheimniß des Meiſters beſteht darin, daß er den Stoff
durch die Form vertilgt“ (Ueber die äſth. Erz. d. Menſchen Br. 22).
2. Häufig genug iſt nun aber dieſer Begriff ſo mißverſtanden worden,
als ſey der Inhalt gleichgültig, wenn nur die Form ſchön ſey. Schon
Baumgarten zieht aus der Unterſcheidung des Inhalts und der Form den
falſchen Satz: possunt turpia pulcre cogitari, ut talia, et pulcriora
turpiter (Aesth. §. 18), und er hat viele Nachfolger gefunden bis auf
einen Menzel herab, der Göthe als Meiſter ſchöner Form bei unſittlichem
Gehalt verläumdet. Die Quelle ſolcher Schiefheiten iſt vor Allem in einer
Verwirrung der Begriffe zu ſuchen. Stoff kann dreierlei bedeuten: erſtens
die Idee, die ein ſchönes Ganze durchdringt. Dieſe nennen wir, um der
Verwirrung vorzubeugen, nicht Stoff, ſondern Inhalt. Dieſer Inhalt
nun iſt ſo wenig gleichgültig, daß, wie ſchon §. 19, 2 geſagt iſt, von
zwei Kunſtwerken, welche in der Form gleich vollendet ſind, entſchieden
dasjenige höher ſteht, deſſen Inhalt eine höhere Stufe in dem Leben der
abſoluten Idee einnimmt. Die Idee ſoll ganz in Form übergehen und
aufgehen, aber eben ſie iſt es, welche übergeht und aufgeht, und ihr
Rang bleibt ja natürlich nach wie vor derſelbe. Wo ſie nicht in reine
Form aufzugehen vermochte, da iſt ein wahrhaft Schönes gar nicht ent-
ſtanden, da iſt von ihr ſo wenig als von der Form zu reden, und das
Werk iſt daher nichts neben einem wahrhaft ſchönen, das übrigens eine
vergleichungsweiſe noch ſo arme Idee zum Inhalte haben mag. Iſt aber
die Uebertragung in die reine Form darum mißlungen, weil die Idee
ſchon an ſich nicht wahre Idee, ſondern abſtracter Begriff iſt (§. 16),
ſo iſt dies ein anderer Fall, der nicht hieher gehört; man kann dann
nicht ſagen, die Idee wäre gut, aber die Form ſey ſchlecht, die Idee
ſelbſt iſt vielmehr ganz zu verwerfen, weil ſie in Wahrheit keine iſt.
Unter den äſthetiſch darſtellbaren Ideen dagegen iſt es ja immer die
höhere, welche an ſich ſchon und abgeſehen von der Läuterung zur reinen
Form ihr Individuum auch höher organiſirt; eine Menſchengeſtalt iſt
höher, als eine Thiergeſtalt u. ſ. w. Wird nun die Geſtalt zur reinen
Form, ſo iſt doch gewiß die an ſich höhere unter Vorausſetzung gleichen
Gelingens dieſer Reinigung auch die äſthetiſch höhere. Dieſe Frage hat
aber noch zwei beſondere Beziehungen: eine ſittliche und eine geſchichtliche.
Hierüber kann vorläufig ſo viel geſagt werden: ein unſittlicher Inhalt iſt
ebenſowenig wahrer Inhalt, als ein abſtracter Begriff. Zwar baut ſich
dieſer gar keine individuelle Form, jener dagegen kann ſich eine Form
bilden, aber eine ſolche, die ſich von ſelbſt aufhebt, wovon ſogleich mehr.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 1. Reutlingen u. a., 1846, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik01_1846/164>, abgerufen am 23.11.2024.
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