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Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858.

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Siebente Vorlesung.
z. B. diluirte Säuren, die gewöhnlichen Pflanzensäuren oder
auch schwache Mineralsäuren einwirken lassen, so quellen sie
auf, und unter den Augen verschwinden die Fasern, so dass
wir nicht mehr sagen können, wo sie bleiben. Die Masse
schwillt auf, es verschwindet jeder Zwischenraum, und es sieht
aus, als ob die ganze Masse aus einer vollkommen homoge-
nen Substanz bestände. Waschen wir dieselbe langsam aus,
entfernen wir die Säure wieder, so lässt sich, wenn die Ein-
wirkung keine zu concentrirte war, wieder ein faseriges Ge-
bilde erlangen; es lässt sich der frühere Zustand von Neuem
erzeugen, und je nach Belieben wieder verändern. Es ist dies
Verhalten bis jetzt noch unerklärt geblieben, und gerade des-
halb hat die Ansicht Reichert's, welche ich früher erwähnte,
etwas Bestechendes, dass die Substanz des Bindegewebes
eigentlich homogen und die Fasern nur eine künstliche Bil-
dung oder eine optische Täuschung seien. Indessen kann
man beim Faserstoff viel deutlicher als beim Bindegewebe die
einzelnen Fibrillen so vollständig isoliren, dass ich nicht um-
hin kann, zu sagen, dass ich die Trennung in einzelne Fibern
für wirklich bestehend und nicht bloss für künstlich und eben
so wenig für eine Täuschung des Beobachters halte.

Aber es ist sehr interessant, zu sehen, dass jedesmal vor
diesem Stadium des Fibrillären ein Stadium des Homogenen
liegt, eben so wie die Bindesubstanz ursprünglich als homo-
gene Intercellularsubstanz (Schleim) erscheint, aus der sich
erst nach und nach Fibrillen, wenn ich mich so ausdrücken
darf, ausscheiden, oder wie man gewöhnlich sagt, differenziren.
Auch der erst gelatinöse Faserstoff differenzirt sich zu einer
fibrillären Masse. Freilich gibt es auch unter den anorgani-
schen Stoffen gewisse Analogien. Aus Niederschlägen von
Kalksalzen oder Kieselsäure, welche ursprünglich vollkommen
gelatinös und amorph sind, scheiden sich nach und nach so-
lide Körner und Krystalle aus.

Man kann also immerhin den Namen der Fibrillen für
die gewöhnliche Erscheinungsform des Faserstoffs beibehalten,
aber man muss sich dabei erinnern, dass diese Substanz ur-
sprünglich in einem homogenen, amorphen, gallertartigen Zu-
stande existirte, und wieder in denselben übergeführt werden

Siebente Vorlesung.
z. B. diluirte Säuren, die gewöhnlichen Pflanzensäuren oder
auch schwache Mineralsäuren einwirken lassen, so quellen sie
auf, und unter den Augen verschwinden die Fasern, so dass
wir nicht mehr sagen können, wo sie bleiben. Die Masse
schwillt auf, es verschwindet jeder Zwischenraum, und es sieht
aus, als ob die ganze Masse aus einer vollkommen homoge-
nen Substanz bestände. Waschen wir dieselbe langsam aus,
entfernen wir die Säure wieder, so lässt sich, wenn die Ein-
wirkung keine zu concentrirte war, wieder ein faseriges Ge-
bilde erlangen; es lässt sich der frühere Zustand von Neuem
erzeugen, und je nach Belieben wieder verändern. Es ist dies
Verhalten bis jetzt noch unerklärt geblieben, und gerade des-
halb hat die Ansicht Reichert’s, welche ich früher erwähnte,
etwas Bestechendes, dass die Substanz des Bindegewebes
eigentlich homogen und die Fasern nur eine künstliche Bil-
dung oder eine optische Täuschung seien. Indessen kann
man beim Faserstoff viel deutlicher als beim Bindegewebe die
einzelnen Fibrillen so vollständig isoliren, dass ich nicht um-
hin kann, zu sagen, dass ich die Trennung in einzelne Fibern
für wirklich bestehend und nicht bloss für künstlich und eben
so wenig für eine Täuschung des Beobachters halte.

Aber es ist sehr interessant, zu sehen, dass jedesmal vor
diesem Stadium des Fibrillären ein Stadium des Homogenen
liegt, eben so wie die Bindesubstanz ursprünglich als homo-
gene Intercellularsubstanz (Schleim) erscheint, aus der sich
erst nach und nach Fibrillen, wenn ich mich so ausdrücken
darf, ausscheiden, oder wie man gewöhnlich sagt, differenziren.
Auch der erst gelatinöse Faserstoff differenzirt sich zu einer
fibrillären Masse. Freilich gibt es auch unter den anorgani-
schen Stoffen gewisse Analogien. Aus Niederschlägen von
Kalksalzen oder Kieselsäure, welche ursprünglich vollkommen
gelatinös und amorph sind, scheiden sich nach und nach so-
lide Körner und Krystalle aus.

Man kann also immerhin den Namen der Fibrillen für
die gewöhnliche Erscheinungsform des Faserstoffs beibehalten,
aber man muss sich dabei erinnern, dass diese Substanz ur-
sprünglich in einem homogenen, amorphen, gallertartigen Zu-
stande existirte, und wieder in denselben übergeführt werden

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[124/0146] Siebente Vorlesung. z. B. diluirte Säuren, die gewöhnlichen Pflanzensäuren oder auch schwache Mineralsäuren einwirken lassen, so quellen sie auf, und unter den Augen verschwinden die Fasern, so dass wir nicht mehr sagen können, wo sie bleiben. Die Masse schwillt auf, es verschwindet jeder Zwischenraum, und es sieht aus, als ob die ganze Masse aus einer vollkommen homoge- nen Substanz bestände. Waschen wir dieselbe langsam aus, entfernen wir die Säure wieder, so lässt sich, wenn die Ein- wirkung keine zu concentrirte war, wieder ein faseriges Ge- bilde erlangen; es lässt sich der frühere Zustand von Neuem erzeugen, und je nach Belieben wieder verändern. Es ist dies Verhalten bis jetzt noch unerklärt geblieben, und gerade des- halb hat die Ansicht Reichert’s, welche ich früher erwähnte, etwas Bestechendes, dass die Substanz des Bindegewebes eigentlich homogen und die Fasern nur eine künstliche Bil- dung oder eine optische Täuschung seien. Indessen kann man beim Faserstoff viel deutlicher als beim Bindegewebe die einzelnen Fibrillen so vollständig isoliren, dass ich nicht um- hin kann, zu sagen, dass ich die Trennung in einzelne Fibern für wirklich bestehend und nicht bloss für künstlich und eben so wenig für eine Täuschung des Beobachters halte. Aber es ist sehr interessant, zu sehen, dass jedesmal vor diesem Stadium des Fibrillären ein Stadium des Homogenen liegt, eben so wie die Bindesubstanz ursprünglich als homo- gene Intercellularsubstanz (Schleim) erscheint, aus der sich erst nach und nach Fibrillen, wenn ich mich so ausdrücken darf, ausscheiden, oder wie man gewöhnlich sagt, differenziren. Auch der erst gelatinöse Faserstoff differenzirt sich zu einer fibrillären Masse. Freilich gibt es auch unter den anorgani- schen Stoffen gewisse Analogien. Aus Niederschlägen von Kalksalzen oder Kieselsäure, welche ursprünglich vollkommen gelatinös und amorph sind, scheiden sich nach und nach so- lide Körner und Krystalle aus. Man kann also immerhin den Namen der Fibrillen für die gewöhnliche Erscheinungsform des Faserstoffs beibehalten, aber man muss sich dabei erinnern, dass diese Substanz ur- sprünglich in einem homogenen, amorphen, gallertartigen Zu- stande existirte, und wieder in denselben übergeführt werden

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Zitationshilfe: Virchow, Rudolf: Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre. Berlin, 1858, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/virchow_cellularpathologie_1858/146>, abgerufen am 23.11.2024.