die mit einem Licht in der Hand den Gang her- unter kam, und die Gitterthür aufschloß. -- Was hast du da für ein schönes Kind? fragte sie sie hastig. Die Kammerfrau sah sie an, oh- ne zu antworten. O seht doch das Engelskind! rief die Marquise wieder, that einige Schritte vorwärts, und beugte sich freundlich, wie zu einem Kinde herab. Entsetzen und Erstaunen bemeisterte sich der Anwesenden, denn sie sahen kein Kind. Die Marquise ging mit offnen Armen noch einige Schritte, als wollte sie et- was umfassen, wankte, und sank mit einem lauten Schrey nieder.
Sie ward zu Bette gebracht. Als sie wie- der zu sich selbst kam, frogte sie, ängstlich die Antwort erwartend, ob denn die andern nicht das Kind am Fuße des Bettes stehen sähen? Da man nun an der Stelle, die sie bezeichnete nicht das geringste wahrnahm, und sie am Ach- selzucken und am bedauernden Zureden der an- dern merkte, daß man sie für krank hielt, und als ob ihr nicht geglaubt würde, daß sie wirk- lich das sähe, was sie zu sehen vorgab, be-
die mit einem Licht in der Hand den Gang her- unter kam, und die Gitterthuͤr aufſchloß. — Was haſt du da fuͤr ein ſchoͤnes Kind? fragte ſie ſie haſtig. Die Kammerfrau ſah ſie an, oh- ne zu antworten. O ſeht doch das Engelskind! rief die Marquiſe wieder, that einige Schritte vorwaͤrts, und beugte ſich freundlich, wie zu einem Kinde herab. Entſetzen und Erſtaunen bemeiſterte ſich der Anweſenden, denn ſie ſahen kein Kind. Die Marquiſe ging mit offnen Armen noch einige Schritte, als wollte ſie et- was umfaſſen, wankte, und ſank mit einem lauten Schrey nieder.
Sie ward zu Bette gebracht. Als ſie wie- der zu ſich ſelbſt kam, frogte ſie, aͤngſtlich die Antwort erwartend, ob denn die andern nicht das Kind am Fuße des Bettes ſtehen ſaͤhen? Da man nun an der Stelle, die ſie bezeichnete nicht das geringſte wahrnahm, und ſie am Ach- ſelzucken und am bedauernden Zureden der an- dern merkte, daß man ſie fuͤr krank hielt, und als ob ihr nicht geglaubt wuͤrde, daß ſie wirk- lich das ſaͤhe, was ſie zu ſehen vorgab, be-
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die mit einem Licht in der Hand den Gang her-
unter kam, und die Gitterthuͤr aufſchloß. —
Was haſt du da fuͤr ein ſchoͤnes Kind? fragte
ſie ſie haſtig. Die Kammerfrau ſah ſie an, oh-
ne zu antworten. O ſeht doch das Engelskind!
rief die Marquiſe wieder, that einige Schritte
vorwaͤrts, und beugte ſich freundlich, wie zu
einem Kinde herab. Entſetzen und Erſtaunen
bemeiſterte ſich der Anweſenden, denn ſie ſahen
kein Kind. Die Marquiſe ging mit offnen
Armen noch einige Schritte, als wollte ſie et-
was umfaſſen, wankte, und ſank mit einem
lauten Schrey nieder.
Sie ward zu Bette gebracht. Als ſie wie-
der zu ſich ſelbſt kam, frogte ſie, aͤngſtlich die
Antwort erwartend, ob denn die andern nicht
das Kind am Fuße des Bettes ſtehen ſaͤhen?
Da man nun an der Stelle, die ſie bezeichnete
nicht das geringſte wahrnahm, und ſie am Ach-
ſelzucken und am bedauernden Zureden der an-
dern merkte, daß man ſie fuͤr krank hielt, und
als ob ihr nicht geglaubt wuͤrde, daß ſie wirk-
lich das ſaͤhe, was ſie zu ſehen vorgab, be-
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Schlegel, Dorothea von: Florentin. Hrsg. v. Friedrich Schlegel. Lübeck u. a., 1801, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/veitschlegel_florentin_1801/250>, abgerufen am 24.11.2024.
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