sich vieles angelernt haben, ohne das zu ahnden, was nicht angelernt werden kann, getadelt; grad'zu. Dies ist eben der Zustand, in dem sich unser Publikum mit seinen Autoren be- findet. Bei weitem vorzuziehen einer nur in einer Zeit, und auch da nur von den Verständnißreichen, wahr gewesenen, jetzt zu einem Patentbeifall gewordenen, unverdauten Aner- kennung; die eine gänzlich äußere wird; aber auch Ansehen, Einkünfte und Orden giebt: bei uns ist alles dies im Werden und Wachsen; ganz lebendig mit allem andern Aufstreben und Gedeihen; in einer Art von Kriegszustand unter einander, der dem Selbst- und Doppelgespräch des Gewissens zu vergleichen ist; welches uns reinigt, fördert, immer beruhigen will, und eigentlich allein nur belebt. Welchem einzelnen Menschen wäre es wohl erlaubt, sich solche Komplimente zu schneiden, wie es jede Nation gegen sich selbst gelassen und blind aus- führen darf; und wovon wir unfassionirten Deutschen bis vor einiger Zeit frei waren. Wir können ja eine ganz andere Nation werden; wenn wir nur wahr bleiben; und das Gute nehmen, wo es nur zu finden sein mag; andre nicht mit Na- tionalhaß verunglimpfen, und uns nicht aus Nationalliebe verhätschlen. --
Wir hatten noch keinen Nationalkönig, dem wir Siege zuschoben, die seine Diener erfochten; mit dem wir galant waren, und dann mit ihm und allen lebenden Sünden in Reue verfielen, dessen Verschwendung wir wie uns von Gott verliehene Gaben anstaunten, zu erhaschen suchten, und raub- ten, wie es kam; dessen Pedanterei und Hoffährtigkeit und Selbstverehrung uns nach langem Bürgerkrieg zu erretten
ſich vieles angelernt haben, ohne das zu ahnden, was nicht angelernt werden kann, getadelt; grad’zu. Dies iſt eben der Zuſtand, in dem ſich unſer Publikum mit ſeinen Autoren be- findet. Bei weitem vorzuziehen einer nur in einer Zeit, und auch da nur von den Verſtändnißreichen, wahr geweſenen, jetzt zu einem Patentbeifall gewordenen, unverdauten Aner- kennung; die eine gänzlich äußere wird; aber auch Anſehen, Einkünfte und Orden giebt: bei uns iſt alles dies im Werden und Wachſen; ganz lebendig mit allem andern Aufſtreben und Gedeihen; in einer Art von Kriegszuſtand unter einander, der dem Selbſt- und Doppelgeſpräch des Gewiſſens zu vergleichen iſt; welches uns reinigt, fördert, immer beruhigen will, und eigentlich allein nur belebt. Welchem einzelnen Menſchen wäre es wohl erlaubt, ſich ſolche Komplimente zu ſchneiden, wie es jede Nation gegen ſich ſelbſt gelaſſen und blind aus- führen darf; und wovon wir unfaſſionirten Deutſchen bis vor einiger Zeit frei waren. Wir können ja eine ganz andere Nation werden; wenn wir nur wahr bleiben; und das Gute nehmen, wo es nur zu finden ſein mag; andre nicht mit Na- tionalhaß verunglimpfen, und uns nicht aus Nationalliebe verhätſchlen. —
Wir hatten noch keinen Nationalkönig, dem wir Siege zuſchoben, die ſeine Diener erfochten; mit dem wir galant waren, und dann mit ihm und allen lebenden Sünden in Reue verfielen, deſſen Verſchwendung wir wie uns von Gott verliehene Gaben anſtaunten, zu erhaſchen ſuchten, und raub- ten, wie es kam; deſſen Pedanterei und Hoffährtigkeit und Selbſtverehrung uns nach langem Bürgerkrieg zu erretten
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ſich vieles angelernt haben, ohne das zu ahnden, was nicht
angelernt werden kann, getadelt; grad’zu. Dies iſt eben der
Zuſtand, in dem ſich unſer Publikum mit ſeinen Autoren be-
findet. Bei weitem vorzuziehen einer nur in einer Zeit, und
auch da nur von den Verſtändnißreichen, wahr geweſenen,
jetzt zu einem Patentbeifall gewordenen, unverdauten Aner-
kennung; die eine gänzlich äußere wird; aber auch Anſehen,
Einkünfte und Orden giebt: bei uns iſt alles dies im Werden
und Wachſen; ganz lebendig mit allem andern Aufſtreben und
Gedeihen; in einer Art von Kriegszuſtand unter einander, der
dem Selbſt- und Doppelgeſpräch des Gewiſſens zu vergleichen
iſt; welches uns reinigt, fördert, immer beruhigen will, und
eigentlich allein nur belebt. Welchem einzelnen Menſchen
wäre es wohl erlaubt, ſich ſolche Komplimente zu ſchneiden,
wie es jede Nation gegen ſich ſelbſt gelaſſen und blind aus-
führen darf; und wovon wir unfaſſionirten Deutſchen bis vor
einiger Zeit frei waren. Wir können ja eine ganz andere
Nation werden; wenn wir nur wahr bleiben; und das Gute
nehmen, wo es nur zu finden ſein mag; andre nicht mit Na-
tionalhaß verunglimpfen, und uns nicht aus Nationalliebe
verhätſchlen. —
Wir hatten noch keinen Nationalkönig, dem wir Siege
zuſchoben, die ſeine Diener erfochten; mit dem wir galant
waren, und dann mit ihm und allen lebenden Sünden in
Reue verfielen, deſſen Verſchwendung wir wie uns von Gott
verliehene Gaben anſtaunten, zu erhaſchen ſuchten, und raub-
ten, wie es kam; deſſen Pedanterei und Hoffährtigkeit und
Selbſtverehrung uns nach langem Bürgerkrieg zu erretten
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/82>, abgerufen am 25.11.2024.
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