Wie falsch, wie schief sagen wir alles, was wir aus- drücken wollen; nichts kann auch verstanden werden, wenn es der Andre nicht vorher weiß. So können Sie nicht wissen, daß ich meinen verschwundenen Freund nur dann, nur deß- halb liebte, wenn er recht etwas Kindisches sagte, oder that. Da liebt' ich ihn; deßhalb wiederholte ich es, daß er sagte: er sei so glücklich in Prag der Erste zu sein, daß alle oberste Behörden, große Damen, und Herren zu ihm schicken müßten! etc. mit entzücktem Lächlen, und in die Augen Sehn! So klug, dies zu verschweigen, ist jedes erzogene, verlogne Vieh: aber wer hat die hingebungsvolle Seele, das liebe Kinderherz, es zu sagen? Seine Perfidien -- er übte sie reichlich, gegen mich -- sind anders, als der Andern ihre: er gleitete wie in einem Glücksschlitten fliegend auf einer Bahn, auf der er allein war; und niemand darf sich ihm vergleichen; auf die- sem Wege dann, sah er, nicht mehr wie auf der Erde, weder rechts, noch links: hatte er Schmerz, litt er Widerspruch, dann war er nicht mehr auf dieser Bahn; und dann verlangte er Hülfe und Trost; die er nie gab. Keiner aber darf dies wa- gen, und doch liebenswürdig, und liebenswerth sein. Unge- straft ließ ich's so lange er lebte, nicht hingehn. Nun aber, beim Facit, bleibt mir nur reine, lebendige Liebe. Dies sei sein Epitaph! Er reizte mich immer zur Liebe: er war immer zu dem aufgelegt, was er als wahr fassen konnte. Er ergriff das Unwahre mit Wahrheitsleidenschaft. Viele Menschen muß man Stück vor Stück loben: und sie gehn nicht in unser Herz mit Liebe ein; andre, wenige, kann man viel tadlen,
III. 37
Wie falſch, wie ſchief ſagen wir alles, was wir aus- drücken wollen; nichts kann auch verſtanden werden, wenn es der Andre nicht vorher weiß. So können Sie nicht wiſſen, daß ich meinen verſchwundenen Freund nur dann, nur deß- halb liebte, wenn er recht etwas Kindiſches ſagte, oder that. Da liebt’ ich ihn; deßhalb wiederholte ich es, daß er ſagte: er ſei ſo glücklich in Prag der Erſte zu ſein, daß alle oberſte Behörden, große Damen, und Herren zu ihm ſchicken müßten! etc. mit entzücktem Lächlen, und in die Augen Sehn! So klug, dies zu verſchweigen, iſt jedes erzogene, verlogne Vieh: aber wer hat die hingebungsvolle Seele, das liebe Kinderherz, es zu ſagen? Seine Perfidien — er übte ſie reichlich, gegen mich — ſind anders, als der Andern ihre: er gleitete wie in einem Glücksſchlitten fliegend auf einer Bahn, auf der er allein war; und niemand darf ſich ihm vergleichen; auf die- ſem Wege dann, ſah er, nicht mehr wie auf der Erde, weder rechts, noch links: hatte er Schmerz, litt er Widerſpruch, dann war er nicht mehr auf dieſer Bahn; und dann verlangte er Hülfe und Troſt; die er nie gab. Keiner aber darf dies wa- gen, und doch liebenswürdig, und liebenswerth ſein. Unge- ſtraft ließ ich’s ſo lange er lebte, nicht hingehn. Nun aber, beim Facit, bleibt mir nur reine, lebendige Liebe. Dies ſei ſein Epitaph! Er reizte mich immer zur Liebe: er war immer zu dem aufgelegt, was er als wahr faſſen konnte. Er ergriff das Unwahre mit Wahrheitsleidenſchaft. Viele Menſchen muß man Stück vor Stück loben: und ſie gehn nicht in unſer Herz mit Liebe ein; andre, wenige, kann man viel tadlen,
III. 37
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Wie falſch, wie ſchief ſagen wir alles, was wir aus-
drücken wollen; nichts kann auch verſtanden werden, wenn es
der Andre nicht vorher weiß. So können Sie nicht wiſſen,
daß ich meinen verſchwundenen Freund nur dann, nur deß-
halb liebte, wenn er recht etwas Kindiſches ſagte, oder that.
Da liebt’ ich ihn; deßhalb wiederholte ich es, daß er ſagte:
er ſei ſo glücklich in Prag der Erſte zu ſein, daß alle oberſte
Behörden, große Damen, und Herren zu ihm ſchicken müßten!
etc. mit entzücktem Lächlen, und in die Augen Sehn! So
klug, dies zu verſchweigen, iſt jedes erzogene, verlogne Vieh:
aber wer hat die hingebungsvolle Seele, das liebe Kinderherz, es
zu ſagen? Seine Perfidien — er übte ſie reichlich, gegen
mich — ſind anders, als der Andern ihre: er gleitete wie in
einem Glücksſchlitten fliegend auf einer Bahn, auf der er
allein war; und niemand darf ſich ihm vergleichen; auf die-
ſem Wege dann, ſah er, nicht mehr wie auf der Erde, weder
rechts, noch links: hatte er Schmerz, litt er Widerſpruch, dann
war er nicht mehr auf dieſer Bahn; und dann verlangte er
Hülfe und Troſt; die er nie gab. Keiner aber darf dies wa-
gen, und doch liebenswürdig, und liebenswerth ſein. Unge-
ſtraft ließ ich’s ſo lange er lebte, nicht hingehn. Nun aber,
beim Facit, bleibt mir nur reine, lebendige Liebe. Dies ſei
ſein Epitaph! Er reizte mich immer zur Liebe: er war immer
zu dem aufgelegt, was er als wahr faſſen konnte. Er ergriff
das Unwahre mit Wahrheitsleidenſchaft. Viele Menſchen muß
man Stück vor Stück loben: und ſie gehn nicht in unſer
Herz mit Liebe ein; andre, wenige, kann man viel tadlen,
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 577. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/585>, abgerufen am 24.11.2024.
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