Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

tirt von allen Seiten. Dann erfuhr ich, daß sie plötzlich rei-
sen, anstatt August auszubleiben, wie mich Ernestine vertrö-
stete. Gestern kamen sie Abschied nehmen, weil sie Dienstag
reisen. -- Nun ist's aus. Sage, erkläre dies Anna'n. Alles,
Umstände, Kränklichkeit, standen zwischen uns: ich kann nicht
mehr alles bezwingen, Rose! Ich bezwang mein Leben durch,
zu viel: ohne Resultate, als daß ich mich zwang. -- Auch
Mad. A. gefiel mir sehr wohl. Recht gut aussehend, schön
angezogen; redselig, freundlich, unbefangen, nachsichtig, voller
Empfindung -- ohne alle Affektation -- für Vaterland, alte
Stätten, Freunde, Verwandte, empfänglich, vernünftig. Man
möchte sagen: sehr zum Vortheil ausgebildet.

Diesen Sommer bin ich sehr besetzt. Den ganzen Juni
war Varnhagens Schwester, Frau Doktorin Assing aus Ham-
burg hier mit zwei allerliebsten Kindern- von eilf und zwölf
Jahren. Eine liebe, gute, tief gebildete Frau und Mutter.
Ich hatte sie nie gesehen; und dann ganz vertraut den Tag
durchbringen, strengte mich an. Sie hatte, voller Einsicht,
keine Prätension: aber ich hatte sie. Mittwoch nehme ich
die drei Kinder meiner Nichte zu mir, da die Eltern auf zwei
Monat verreisen; und ich die älteste verabgöttre; und alle
drei niemanden vertrauen würde. Also kann ich vor Oktober
nichts, als die Pflege der Kinder und keine Sorte Reise un-
ternehmen. Mein Körper bedürfte eine außerhäusliche Reise,
wo ich ein unbesorgender Fremder wäre; ohne alle Rücksicht
für jede andre Gesundheit, und jedes andre Wohl, als mei-
nes. Das Gegentheil minirt. Doch: jeder stirbt an seinem
Karakter. Sag' ich immer. Ich freue mich die Kinder zu

tirt von allen Seiten. Dann erfuhr ich, daß ſie plötzlich rei-
ſen, anſtatt Auguſt auszubleiben, wie mich Erneſtine vertrö-
ſtete. Geſtern kamen ſie Abſchied nehmen, weil ſie Dienstag
reiſen. — Nun iſt’s aus. Sage, erkläre dies Anna’n. Alles,
Umſtände, Kränklichkeit, ſtanden zwiſchen uns: ich kann nicht
mehr alles bezwingen, Roſe! Ich bezwang mein Leben durch,
zu viel: ohne Reſultate, als daß ich mich zwang. — Auch
Mad. A. gefiel mir ſehr wohl. Recht gut ausſehend, ſchön
angezogen; redſelig, freundlich, unbefangen, nachſichtig, voller
Empfindung — ohne alle Affektation — für Vaterland, alte
Stätten, Freunde, Verwandte, empfänglich, vernünftig. Man
möchte ſagen: ſehr zum Vortheil ausgebildet.

Dieſen Sommer bin ich ſehr beſetzt. Den ganzen Juni
war Varnhagens Schweſter, Frau Doktorin Aſſing aus Ham-
burg hier mit zwei allerliebſten Kindern- von eilf und zwölf
Jahren. Eine liebe, gute, tief gebildete Frau und Mutter.
Ich hatte ſie nie geſehen; und dann ganz vertraut den Tag
durchbringen, ſtrengte mich an. Sie hatte, voller Einſicht,
keine Prätenſion: aber ich hatte ſie. Mittwoch nehme ich
die drei Kinder meiner Nichte zu mir, da die Eltern auf zwei
Monat verreiſen; und ich die älteſte verabgöttre; und alle
drei niemanden vertrauen würde. Alſo kann ich vor Oktober
nichts, als die Pflege der Kinder und keine Sorte Reiſe un-
ternehmen. Mein Körper bedürfte eine außerhäusliche Reiſe,
wo ich ein unbeſorgender Fremder wäre; ohne alle Rückſicht
für jede andre Geſundheit, und jedes andre Wohl, als mei-
nes. Das Gegentheil minirt. Doch: jeder ſtirbt an ſeinem
Karakter. Sag’ ich immer. Ich freue mich die Kinder zu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0450" n="442"/>
tirt von allen Seiten. Dann erfuhr ich, daß &#x017F;ie plötzlich rei-<lb/>
&#x017F;en, an&#x017F;tatt Augu&#x017F;t auszubleiben, wie mich Erne&#x017F;tine vertrö-<lb/>
&#x017F;tete. Ge&#x017F;tern kamen &#x017F;ie Ab&#x017F;chied nehmen, weil &#x017F;ie Dienstag<lb/>
rei&#x017F;en. &#x2014; Nun i&#x017F;t&#x2019;s aus. Sage, erkläre dies Anna&#x2019;n. Alles,<lb/>
Um&#x017F;tände, Kränklichkeit, &#x017F;tanden zwi&#x017F;chen uns: ich <hi rendition="#g">kann</hi> nicht<lb/>
mehr alles bezwingen, Ro&#x017F;e! Ich bezwang mein Leben durch,<lb/>
zu viel: ohne Re&#x017F;ultate, als daß ich <hi rendition="#g">mich</hi> zwang. &#x2014; Auch<lb/>
Mad. A. gefiel mir &#x017F;ehr wohl. Recht gut aus&#x017F;ehend, &#x017F;chön<lb/>
angezogen; red&#x017F;elig, freundlich, unbefangen, nach&#x017F;ichtig, voller<lb/>
Empfindung &#x2014; ohne alle Affektation &#x2014; für Vaterland, alte<lb/>
Stätten, Freunde, Verwandte, empfänglich, vernünftig. Man<lb/>
möchte &#x017F;agen: <hi rendition="#g">&#x017F;ehr</hi> zum Vortheil ausgebildet.</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;en Sommer bin ich &#x017F;ehr be&#x017F;etzt. Den ganzen Juni<lb/>
war Varnhagens Schwe&#x017F;ter, Frau Doktorin A&#x017F;&#x017F;ing aus Ham-<lb/>
burg hier mit zwei allerlieb&#x017F;ten Kindern- von eilf und zwölf<lb/>
Jahren. Eine liebe, gute, tief gebildete Frau und Mutter.<lb/>
Ich hatte &#x017F;ie nie ge&#x017F;ehen; und dann ganz vertraut den Tag<lb/>
durchbringen, &#x017F;trengte mich an. Sie hatte, <hi rendition="#g">voller</hi> Ein&#x017F;icht,<lb/><hi rendition="#g">keine</hi> Präten&#x017F;ion: aber <hi rendition="#g">ich</hi> hatte &#x017F;ie. Mittwoch nehme ich<lb/>
die drei Kinder meiner Nichte zu mir, da die Eltern auf zwei<lb/>
Monat verrei&#x017F;en; und ich die älte&#x017F;te verabgöttre; und alle<lb/>
drei niemanden vertrauen würde. Al&#x017F;o kann ich vor Oktober<lb/>
nichts, als die Pflege der Kinder und keine Sorte Rei&#x017F;e un-<lb/>
ternehmen. Mein Körper bedürfte eine außerhäusliche Rei&#x017F;e,<lb/>
wo ich ein unbe&#x017F;orgender Fremder wäre; ohne alle Rück&#x017F;icht<lb/>
für jede andre Ge&#x017F;undheit, und jedes andre Wohl, als mei-<lb/>
nes. Das Gegentheil minirt. Doch: jeder &#x017F;tirbt an &#x017F;einem<lb/><hi rendition="#g">Karakter</hi>. Sag&#x2019; ich immer. Ich freue mich die Kinder zu<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[442/0450] tirt von allen Seiten. Dann erfuhr ich, daß ſie plötzlich rei- ſen, anſtatt Auguſt auszubleiben, wie mich Erneſtine vertrö- ſtete. Geſtern kamen ſie Abſchied nehmen, weil ſie Dienstag reiſen. — Nun iſt’s aus. Sage, erkläre dies Anna’n. Alles, Umſtände, Kränklichkeit, ſtanden zwiſchen uns: ich kann nicht mehr alles bezwingen, Roſe! Ich bezwang mein Leben durch, zu viel: ohne Reſultate, als daß ich mich zwang. — Auch Mad. A. gefiel mir ſehr wohl. Recht gut ausſehend, ſchön angezogen; redſelig, freundlich, unbefangen, nachſichtig, voller Empfindung — ohne alle Affektation — für Vaterland, alte Stätten, Freunde, Verwandte, empfänglich, vernünftig. Man möchte ſagen: ſehr zum Vortheil ausgebildet. Dieſen Sommer bin ich ſehr beſetzt. Den ganzen Juni war Varnhagens Schweſter, Frau Doktorin Aſſing aus Ham- burg hier mit zwei allerliebſten Kindern- von eilf und zwölf Jahren. Eine liebe, gute, tief gebildete Frau und Mutter. Ich hatte ſie nie geſehen; und dann ganz vertraut den Tag durchbringen, ſtrengte mich an. Sie hatte, voller Einſicht, keine Prätenſion: aber ich hatte ſie. Mittwoch nehme ich die drei Kinder meiner Nichte zu mir, da die Eltern auf zwei Monat verreiſen; und ich die älteſte verabgöttre; und alle drei niemanden vertrauen würde. Alſo kann ich vor Oktober nichts, als die Pflege der Kinder und keine Sorte Reiſe un- ternehmen. Mein Körper bedürfte eine außerhäusliche Reiſe, wo ich ein unbeſorgender Fremder wäre; ohne alle Rückſicht für jede andre Geſundheit, und jedes andre Wohl, als mei- nes. Das Gegentheil minirt. Doch: jeder ſtirbt an ſeinem Karakter. Sag’ ich immer. Ich freue mich die Kinder zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/450
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/450>, abgerufen am 27.11.2024.